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RBOG 1994 Nr. 35

Bedeutung der persönlichen Einvernahme des Angeklagten


§ 74 Abs. 1 StPO, § 85 StPO, § 87 StPO


1. Am 9. März 1988, ca. 09.00 Uhr, geriet X mit ihrem Personenwagen in eine Polizeikontrolle. Während der Befragung schlief sie am Steuer ein und war in der Folge nicht mehr ansprechbar, weshalb sie ins Kantonsspital eingewiesen wurde. Die Abklärungen ergaben, dass sie im massgebenden Zeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 5,65 Gewichtspromille gehabt hatte.

2. Die zu beurteilende Streitsache ist zum einen in persönlicher, zum andern in zeitlicher Hinsicht ungewöhnlich: Allein schon eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 5,65 Gewichtspromille sprengt jegliches Vorstellungsvermögen. X war denn offensichtlich auch den ganzen Tag nicht vernehmungsfähig. Polizeilich befragt werden konnte sie erst am 27. April 1988. Wie lange sie sich zuvor im Kantonsspital aufgehalten hatte, ist unbekannt. Nach ihrer Entlassung war sie vom 16. März bis 13. Mai 1988 in der Psychiatrischen Klinik hospitalisiert. Ob sie sich dazu freiwillig entschlossen hatte oder zwangsweise eingeliefert worden war, ist nicht bekannt. Erstellt ist demgegenüber, dass sie bereits am 30. Mai 1988 von der Polizei festgenommen wurde und erneut in die Psychiatrische Klinik verbracht werden musste. Am 12. August 1988 kehrte sie von einem bewilligten Urlaub nicht mehr zurück. Am 31. August 1988 wurde sie von der Kantonspolizei Tessin in Lugano angehalten. Vom 5. bis 12. September 1988 befand sie sich erneut in der Psychiatrischen Klinik.

Nach diesem Zeitpunkt lässt sich aufgrund der Akten nicht mehr im einzelnen rekonstruieren, wo sich X jeweils aufhielt. Tatsache ist jedenfalls, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau die Strafuntersuchung gegen X wegen Führens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand mit Verfügung vom 12. November 1992 zufolge unbekannten Aufenthalts vorläufig einstellte. Ausdrücklich wurde indessen festgehalten, die Ausschreibung zur Aufenthaltsnachforschung sei aufrecht zu erhalten. Am 14. Mai 1993 kam denn auch der Bericht, X wohne nunmehr in A. Das Bezirksamt A lud sie gestützt auf das Rechtshilfegesuch des Bezirksamts B auf den 8. Juni 1993 zur Einvernahme vor. Auf ihr Ersuchen wurde sie bereits am 28. Mai 1993 befragt. Ihr Zustand muss desolat gewesen sein. Sie sei deutlich alkoholisiert und zeitlich nicht orientiert gewesen. Eine schriftliche Einvernahme habe nicht durchgeführt werden können.

Weil aus jenem Bericht des Bezirksamts A hervorging, dass X verbeiständet war, ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau die Amtsvormundschaft A um Auskunft über den heutigen Zustand resp. die Befindlichkeit von X sowie um Angaben darüber, was sie in den letzten Jahren "so alles getan resp. erlitten hat". Im verlangten Bericht wird die Lebensgeschichte von X relativ drastisch geschildert.

3. Mit diesem Wissensstand fällte die Bezirksgerichtliche Kommission ihr Urteil. Die Vorladung zum Verhandlungstermin hatte X erhalten. Erst am Verhandlungstermin teilte sie indessen per Telegramm mit, es sei ihr nicht möglich, vor Gericht zu erscheinen. Einerseits befinde sie sich zwecks Behandlung ihrer Trunksucht freiwillig in einer Therapie, andererseits sei es ihr aber auch aus finanziellen Gründen nicht möglich, zu kommen. Sie bitte daher darum, das Verfahren zu verschieben, oder wenn das nicht möglich sei, es in ihrer Abwesenheit durchzuführen. Die Vorinstanz erachtete die Anwesenheit von X an der Verhandlung offenbar als nicht notwendig. Eine Verhandlung kann jedoch nur dann in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, wenn ihm das persönliche Erscheinen erlassen wurde oder seine Abwesenheit sonst entschuldbar ist (§ 168 StPO). Unter den hier vorliegenden, besonderen Umständen fehlte es an beiden dieser Voraussetzungen (vgl. auch § 147 Abs. 1 StPO). X ist seit 1974 Alkoholikerin. Zwischen 1986 und 1988 musste sie neunmal in verschiedenen psychiatrischen Kliniken interniert werden. Einerseits behauptet sie nun heute, seit einem Jahr nichts mehr zu trinken; andererseits weist sie selbst darauf hin, sie befinde sich zur Zeit wegen ihrer Trunksucht in einer Therapie. Wie es in Tat und Wahrheit um ihren Gesundheitszustand steht, ist völlig unbekannt. Das Gutachten der Psychiatrischen Klinik datiert vom 9. September 1988. Polizeilich zur Sache befragt wurde X am 27. April 1988. Die rogatorische Einvernahme vom 28. Mai 1993 fand unter äusserst schwierigen Bedingungen statt: X war deutlich alkoholisiert und verwirrt. Ihr Befinden erlaubte es nicht, eine "gewöhnliche" Einvernahme mit schriftlichem, von ihr unterzeichnetem Protokoll durchzuführen. Ein solches existiert überhaupt nirgends in den Akten. Ueber die tatsächlichen Verhältnisse, die Geschehnisse am 9. März 1988 sowie in den letzten rund fünf Jahren und die nunmehrigen Lebensbedingungen von X herrscht völlige Unklarheit. Die Untersuchung hat jedoch alle sachlichen und persönlichen Umstände abzuklären, welche für die Anklageerhebung oder die Einstellung des Verfahrens und für die gerichtliche Beurteilung von Bedeutung sein können (§ 74 Abs. 1 StPO). Grundsätzlich ist der Angeschuldigte vom Untersuchungsrichter ferner wenigstens einmal persönlich einzuvernehmen und über seine Personalien, den Lebenslauf, seine persönlichen und familiären Verhältnisse sowie über allfällige Vorstrafen zu befragen (§ 85 Abs. 1 und § 87 Abs. 1 StPO). Zu sämtlichen diesen Punkten nahm X nie selbst Stellung. Es wäre deshalb unabdingbar gewesen, dass sie wenigstens vor Gericht erschienen und durch die Bezirksgerichtliche Kommission angehört worden wäre (§ 150 Abs. 1 StPO). Gerade aufgrund des Umstands, dass seit der fraglichen Deliktsbegehung bald rund fünf Jahre vergingen, sind weitere Abklärungen, insbesondere aber auch eine persönliche Befragung, nötig. Erforderlich ist ferner, dass die Akten bezüglich der Verurteilung durch das Bezirksamt A vom 24. März 1988 beigezogen werden. Ausserdem scheint die Einholung objektiver Stellungnahmen zur Frage des momentanen Alkoholkonsums von X sowie ihrer Wohn- und Lebenssituation notwendig zu sein. Da die absolute Strafverfolgungsverjährung noch nicht eintrat, ist es vielmehr unumgänglich, die Strafsache zur Beweisergänzung und nachherigem neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Rekurskommission, 7. Februar 1994, SB 94 1


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