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RBOG 1998 Nr. 36

Notwendigkeit der frühzeitigen Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens bei Kindern


§ 89 Abs. 3 StPO, § 95 StPO, §§ 99 ff. StPO


1. Die Vorinstanz verurteilte den Berufungskläger wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und stützte ihren Entscheid vorab auf die Aussagen des siebenjährigen Opfers.

2. a) Bei der Würdigung von Aussagen hat der Richter sämtlichen Umständen, die objektiv für die Wahrheitsfindung von Bedeutung sein können, Rechnung zu tragen. In Lehre und Rechtsprechung ist unbestritten, dass sich die Glaubhaftigkeit einer Aussage im wesentlichen nach ihrem Inhalt bestimmt, ausgehend von der grundlegenden Annahme, dass sich Aussagen über selbst erlebte Ereignisse in ihrer Qualität von jenen Aussagen unterscheiden, die nicht auf selbst erlebten Vorgängen beruhen ("Undeutsch-Hypothese"). Die Lehre hat vielfältige Realitätskriterien systematisiert, wenn auch in unterschiedlicher Weise (vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 2.A., München 1996, N 1426 ff.; Köhnken, Glaubwürdigkeit: Untersuchungen zu einem psychologischen Konstrukt, München 1990, S. 87 ff.; Hauser, Der Zeugenbeweis im Strafprozess mit Berücksichtigung des Zivilprozesses, Zürich 1974, S. 316; ZBJV 132, 1996, S. 119 ff.; RBOG 1996 Nr. 39 S. 197). Die Würdigung von Aussagen und damit letztlich auch die Anwendung dieser Kriterien bleibt grundsätzlich Sache des Richters (Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozess, Lübeck 1992, S. 315 mit Hinweisen); er kann seinen Entscheid nicht einfach an Sachverständige delegieren, um so weniger, als der Richter seine Überzeugung bei der Würdigung von Aussagen jedenfalls bei erwachsenen Zeugen in aller Regel ohne grössere Probleme zu gewinnen vermag. Der Beizug eines Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage rechtfertigt sich nur dort, wo infolge der besonderen Umstände des konkreten Falls Zweifel bezüglich der Beobachtungs- und Aussagetüchtigkeit des Zeugen bestehen, wie beispielsweise bei psychisch auffälligen Personen, oder wo Aussagen von Kindern alleiniges oder wesentliches Beweismittel bilden (Arntzen, Vernehmungspsychologie, 2.A., S. 83 f.; Arntzen, Psychologie der Zeugenaussagen, 3.A., S. 127 ff.). Der Grund, weshalb zur Prüfung der Glaubhaftigkeit von Kinderaussagen öfters Sachverständige hinzugezogen werden müssen, liegt vorab darin, dass die Frage, ob ein Kind glaubhaft aussagt, sich wesentlich schwerer beurteilen lässt als beim erwachsenen Zeugen; liegt indessen eine solche aussagepsychologische Begutachtung der Aussage eines Kindes vor, ist der Richter in Verbindung mit andern Beweismitteln in aller Regel in der Lage, sich seine Ueberzeugung über die Richtigkeit des Inhalts dieser Aussage zu bilden (RBOG 1996 Nr. 39). Es entspricht der Erfahrung, dass für die Vernehmung eines siebenjährigen Kindes dem Sachverständigen andere oder bessere Erkenntnismittel zur Verfügung stehen als dem erkennenden Gericht, wobei die Auswahl des Sachverständigen aus dem Kreis anerkannter Psychiater oder Psychologen (nicht blosser Pädagogen) im Einzelfall besonderer Sorgfalt bedarf (BGHSt 7,82 und 23,8). Bei entwicklungsmässig unauffälligen Kindern und Jugendlichen wird ein Sachverständiger am ehesten dann heranzuziehen sein, wenn wegen des Zeitablaufs seit dem mutmasslichen Tatgeschehen die Erinnerungsfähigkeit zweifelhaft ist oder ein kindlicher Zeuge noch besonders jung ist, so dass zum Beispiel die sprachliche Kommunikation Missverständnisse begünstigt, denn mehr noch als bei Erwachsenen kann auch bei Kindern und Jugendlichen die Gefahr der gegebenenfalls unbewussten Beeinflussung eine Begutachtung durch einen Sachverständigen erforderlich machen, zumal Kinder und Jugendliche existentiell machtloser sind als Erwachsene und gegebenenfalls eher bestrebt sein werden, sich nach den Wünschen einer erwachsenen Autoritätsperson zu verhalten; ein Sachverständiger soll ferner dann beauftragt werden, wenn Kinder Persönlichkeitszüge oder Verhaltensweisen zeigen, die sich vom Erscheinungsbild Gleichaltriger abheben (Eisenberg, N 1861). Generell ist zu beachten, dass die Fehlerquellen bei kindlichen und jugendlichen Zeugen oft nur durch die besonderen Erkenntnismittel des Sachverständigen aufgedeckt werden können (Wegener, Einführung in die forensische Psychologie, 2.A., S. 51 f.). Nach den Erfahrungen des Obergerichts wird die Beweisführung durch die Staatsanwaltschaft und die Beweiswürdigung durch den Richter regelmässig wesentlich vereinfacht, wenn in Fällen von Sexualdelikten gegenüber Kindern aussagepsychologische Gutachten vorliegen; dabei liegt auf der Hand, dass solche Gutachten möglichst frühzeitig, d.h. während der Strafuntersuchung, eingeholt werden sollen.

b) Obwohl die Untersuchung im vorliegenden Fall sehr breit angelegt wurde, erfolgte keine aussagepsychologische Begutachtung der Kindesaussagen; aus welchem Grund dieses Erkenntnismittel unberücksichtigt blieb, ist nicht erfindlich. Gerade die Indizien über die Auffälligkeiten im Verhalten des Opfers, wie sie sich aus den Feststellungen von Personen aus seinem Umfeld ergeben, drängen eine aussagepsychologische Begutachtung auf; dies gilt umso mehr, als die vorliegenden Aussagen des Opfers zum einen relativ unergiebig sind - diesbezüglich dürften gerade die Angaben in der ersten Befragung kaum verwertbar sein, antwortete doch das Opfer stets nur bruchstückhaft oder in knappen Sätzen, oftmals gar nur mit einem Wort oder entsprechender Gestik - und zum andern, wie von der Verteidigung zu Recht gerügt wird, im wesentlichen auf Suggestivfragen beruhen. Die Vorinstanz wies ihrerseits auf zahlreiche unglaubwürdige Einzelheiten in den Aussagen des Opfers hin, wertete seine Aussagen gleichwohl aber als in eindeutiger Weise den Berufungskläger belastend, was sie im Zusammenhang mit den Beobachtungen über das nicht altersentsprechende und auffällige Sozialverhalten des Opfers zum Schuldspruch führte. Gerade diese Umstände müssen aber bei einem Kind zwangsläufig zum Beizug eines Sachverständigen führen, weil sich ansonsten die Beweisführung im Rahmen eines reinen Wahrscheinlichkeitsbeweises bewegt (vgl. Wegener, S. 51); insofern ist es bezeichnend, dass die Vorinstanz Zeichnungen des Opfers erwähnt, die sich gar nicht bei den Akten befinden.

c) Damit ist die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens im vorliegenden Fall zwingend. Daran ändert nichts, dass seitens der Vertreterin des Opfers geltend gemacht wird, es habe durch den Missbrauch tiefe seelische Verletzungen erlitten, wolle jetzt unbedingt in Ruhe gelassen werden und weigere sich spontan und deutlich, nochmals auszusagen: Zum einen finden aussagepsychologische Untersuchungen regelmässig in einer besonderen Situation bzw. Atmosphäre, in der Regel bei der kindlichen Auskunftsperson zu Hause und in Abwesenheit anderer Personen, statt, und der Sachverständige wird - bei richtiger Auswahl - aufgrund seiner Erfahrung ohne weiteres eine zusätzliche Traumatisierung des Opfers durch die neuerliche Befragung, wenn auch wohl nicht zu verhindern, so doch deutlich zu minimieren in der Lage sein (RBOG 1996 Nr. 39 S. 195). Zum andern mag es sicher unbefriedigend sein, dass das Opfer während des Strafverfahrens bereits zweimal untersuchungsrichterlich einvernommen wurde, doch kann es darauf nicht ankommen, denn solche Mängel im Vorgehen des Untersuchungsrichters dürfen weder die Beweisführung behindern noch einfach zulasten des angeblichen Täters gehen; dessen Verteidigungsrechte müssen auch in der Strafuntersuchung über strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität von Kindern gewahrt bleiben (vgl. ZR 96, 1997, Nr. 31). Sollte sich das Opfer indessen tatsächlich weigern, nochmals auszusagen, wird dies im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung mitberücksichtigt werden müssen.

d) Damit ist die Strafsache gestützt auf § 210 Abs. 3 StPO zur Ergänzung der Untersuchung bzw. zur Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Bei der Auswahl des Sachverständigen wird sie darauf achten müssen, dass nach der Rechtsprechung des Obergerichts kinder- und jugendpsychiatrische Begutachtungen als solche nicht genügen, sondern nur die Expertisierung aufgrund der wissenschaftlich anerkannten und üblichen aussagepsychologischen Kriterien hinreichend ist. Bezüglich des Zeugnisverweigerungsrechts des Opfers gilt RBOG 1992 Nr. 45 S. 151.

Obergericht, 11. November 1997, SB 97 47


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