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RBOG 1998 Nr. 38

Das Verschlechterungsverbot im Rechtsmittelverfahren bezieht sich nicht nur auf die ausgefällte Strafe oder Massnahme, sondern auch auf den Schuldpunkt


§ 209 StPO


1. Der Berufungskläger wurde wegen Vereitelung einer Blutprobe verurteilt; hiegegen erhob er Berufung. Die Staatsanwaltschaft erklärte gegen den angefochtenen Entscheid weder Berufung noch Anschlussberufung; zu prüfen ist dagegen, ob ihr an der Berufungsverhandlung neu gestelltes Begehren (Verurteilung des Berufungsklägers wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand und versuchter Vereitelung einer Blutprobe statt Vereitelung einer Blutprobe) gegen das Verschlechterungsverbot verstösst.

2. a) Hat der Angeklagte allein oder hat die Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten die Berufung erklärt, so darf das Urteil nicht zu Ungunsten des Angeklagten abgeändert werden, es sei denn, dass das Berufungsverfahren wesentliche neue Tatsachen zu seinen Lasten ergeben hat (§ 209 Abs. 1 StPO). Das Verbot der Schlechterstellung wird nach der herrschenden Lehre und nach der Rechtsprechung in den meisten Kantonen - mit Unterschieden in den Einzelheiten - dahingehend verstanden, dass nur die strengere Bestrafung untersagt ist (Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3.A., S. 405; Birchmeier, Aargauische Strafprozessordnung, 2.A., § 210 N 4 ff.; Bründler, Die Appellation im Rechtsmittelsystem des Luzerner Strafverfahrens, Diss. Zürich 1990, S. 88 f.; Bänziger/Stolz/Kobler, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Appenzell A.Rh., 2.A., Art. 199 N 1 f.; Staub, Kommentar zum Strafverfahren des Kantons Bern, Bern 1992, Art. 319 N 4 ff.; Padrutt, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Graubünden, 2.A., Art. 146 N 3; Kolly, Zum Verschlechterungsverbot im schweizerischen Strafprozess, in: ZStR 113, 1995, S. 309 ff.; BJM 1995 S. 223 f.; RBUR 1986/87 S. 97; ZWR 1992 S. 286). Das gilt insbesondere auch für die Kantone Zürich (ZR 48, 1949, Nr. 200, 57, 1958, Nr. 18 und Nr. 139 S. 317, 59, 1960, Nr. 59; Schmid, Strafprozessrecht, 3.A., N 984 ff.) und St. Gallen (SGGVP 1958 Nr. 52; Kühnis, Das Rechtsmittel der Berufung in der st. gallischen Strafrechtspflege, Diss. Freiburg 1975, S. 89 ff.).

b) Die publizierte thurgauische Rechtsprechung befasst sich mit der Frage der Tragweite des Schlechterstellungsverbots nur insofern, als eine zweitinstanzliche Erhöhung des für den Staat einzuziehenden Betrags prozessual nicht möglich ist (RBOG 1979 Nr. 28). Nach den Materialien soll das Schlechterstellungsverbot nur den Straf- oder Massnahmenentscheid betreffen, nicht auch den Schuldspruch bzw. die rechtliche Qualifikation (Protokoll der 23. Sitzung der Expertenkommission vom 2. November 1959, S. 4). Litschgi (Die Rechtsmittel im thurgauischen Strafprozess, Diss. Zürich 1975, S. 72 f.) weist darauf hin, die StPO selbst sage nichts darüber aus, ob das Verschlechterungsverbot jede Verschärfung des Entscheids erfasse, oder ob sich das Verbot nur auf die eigentliche Strafe beziehe; warum die sich aus den Materialien ergebende klare Aussage, es gehe nur um den Straf- und Massnahmenentscheid, zur Verdeutlichung nicht ins Gesetz aufgenommen worden sei, bleibe unerklärlich. Hauser/Schweri (S. 405) schliessen offenbar aus dem blossen Wortlaut von § 209 Abs. 1 StPO, das Verbot besage nach thurgauischem Recht auch, dass die Tat nicht schwerer qualifiziert werden dürfe, zum Beispiel als Vollendung statt als Versuch.

c) Der Wortlaut von § 209 Abs. 1 StPO spricht dafür, dass das Verschlechterungsverbot nach thurgauischem Recht nicht nur für den Straf- und Massnahmenpunkt, sondern auch für den Schuldspruch gelten soll: Die Bestimmung schliesst jede Änderung des Urteilsdispositivs zulasten des verurteilten Rechtsmittelklägers aus. Die Materialien sind entgegen der Auffassung von Litschgi keineswegs sonderlich klar: Zwar ist zutreffend, dass in der Expertenkommission festgehalten wurde, das Reformationsverbot betreffe nicht auch den Schuldspruch respektive die rechtliche Qualifikation, sondern nur den Straf- oder Massnahmenentscheid; gleichzeitig wird an jener Protokollstelle indessen darauf hingewiesen, dass der Kanton Aargau diesbezüglich weiter gehe: Hier fehlt es an einer Begründung, warum gerade in diesem Punkt, obwohl man sich im übrigen sehr weitgehend an das aargauische Vorbild hielt, anders vorgegangen werden wollte. Schliesslich ist nicht zu verkennen, dass in den Protokollen des Grossen Rates bzw. der grossrätlichen Kommission auf dieses einschränkende Verständnis des Schlechterstellungsverbots nie hingewiesen wurde, so dass sich mithin die Frage stellt, inwieweit diesbezüglich tatsächlich von einem Willen des Gesetzgebers ausgegangen werden kann.

d) Ganz offensichtlich ist das Argument nicht zutreffend, dass eine Verschlechterung des Schuldspruchs zulasten des Angeklagten für diesen keine weitergehende Wirkung zeige: Gerade im Zusammenhang mit dem Delikt des Fahrens in angetrunkenem Zustand kann eine zusätzliche zweitinstanzliche Verurteilung Folgen im strassenverkehrsrechtlichen Administrativverfahren haben, beispielsweise mit Bezug auf die Dauer des Führerausweisentzugs; ebenso können zweitinstanzliche Änderungen im Schuldspruch in späteren Verfahren, insbesondere mit Bezug auf den Widerruf des bedingten Strafvollzugs, von Bedeutung sein. Gründe, aus welchen mit Bezug auf die Auslegung von § 209 Abs. 1 StPO eine strenge Praxis - eingeschränkte Geltung des Schlechterstellungsverbots nur für Strafe und Massnahme - am Platz wäre, sind letztlich nicht ersichtlich. Dies gilt umso mehr, als auch die st. gallische Praxis mittlerweilen klargestellt hat, dass das Verbot der reformatio in peius sich zwar weiterhin nur auf das Strafmass und die Strafart, nicht aber auf den Schuldspruch beziehe. Doch sei hievon die Frage zu unterscheiden, ob die Berufungsinstanz auf einen seitens der Staatsanwaltschaft unangefochten gebliebenen Freispruch zurückkommen könne. Dies sei nur möglich, wenn der gleiche Lebensvorgang bzw. Sachverhalt rechtlich beurteilt werde, und wenn dies zu verneinen sei, müsse es beim erstinstanzlichen Freispruch sein Bewenden haben (SGGVP 1989 Nr. 64). Die herrschende Lehre ist denn auch inkonsequent, wenn der Berufungsinstanz einerseits gestattet wird, die Tat schwerer zu qualifizieren, ihr andererseits aber verwehrt wird, die Sanktion an das anders bewertete Delikt anzupassen (Hasenböhler, Zur Appellation im basellandschaftlichen Strafverfahren, in: BJM 1971 S. 73); dies kann in Einzelfällen entweder zu unsinnigen oder zu völlig stossenden Ergebnissen führen.

e) Schliesslich ist mit Bezug auf den vorliegenden Fall auch die Frage der Praktikabilität zu beachten: Es ist kein vernünftiger Grund zu erkennen, warum es der Staatsanwaltschaft, wenn sie sowohl nach Eingang des erstinstanzlichen Urteils auf eine Berufung als auch später nach Kenntnisnahme von der Berufungserklärung des Angeklagten auf eine Anschlussberufung verzichtet hat, in der Berufungsverhandlung noch möglich sein sollte, einen vom Schuldspruch der Vorinstanz abweichenden Antrag zu stellen. Dies gilt umso mehr, als solche Anträge regelmässig nicht nur die Berufungsinstanz, sondern insbesondere auch die Verteidigung überraschen werden, so dass letztlich auch der Grundsatz der Fairness des Strafverfahrens tangiert wird.

f) Damit bezieht sich das Verschlechterungsverbot nach § 209 Abs. 1 StPO nicht nur auf den Straf- und Massnahmenentscheid, sondern auch auf den Schuldpunkt; jede Verschlechterung des Urteilsdispositivs ist unzulässig. Nur diese Auslegung entspricht auch der bisherigen Praxis des Obergerichts und der Rekurskommission des Obergerichts (nicht publizierte Obergerichtsentscheide vom 11. Dezember 1990, vom 19. Juni 1973, vom 15. März 1973 und vom 18. Januar 1973 sowie nicht publiziertes Urteil der Rekurskommission vom 16. März 1992).

3. Auf den neu an der Berufungsverhandlung gestellten Antrag der Staatsanwaltschaft, der Berufungskläger sei des Fahrens in angetrunkenem Zustand und der versuchten Vereitelung einer Blutprobe schuldig zu sprechen, ist daher nicht einzugehen.

Obergericht, 22. Mai 1997, SB 97 13


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