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RBOG 2011 Nr. 25

Teilnahmerecht des Beschuldigten und Grundsatz der getrennten Einvernahme


Art. 108 StPO, Art. 146 f StPO


1. Im Zusammenhang mit einer Zeugeneinvernahme teilte die Staatsanwaltschaft dem amtlichen Verteidiger des Beschwerdeführers mit, dass gestützt auf Art. 108 StPO die Teilnahme an der Einvernahme zwar der Verteidigung, nicht aber dem Beschuldigten gestattet werde. Gleichwohl beantragte der amtliche Verteidiger, der Beschwerdeführer sei zur Einvernahme zuzulassen. Die Staatsanwaltschaft wies den Antrag ab, weil das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers durch die Teilnahme des Verteidigers (eingeschränkt) gewährt werde.

2. a) Nach Art. 146 Abs. 1 StPO werden die einzuvernehmenden Personen getrennt befragt. Gemäss Art. 147 Abs. 1 StPO haben die Parteien das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen. Diese beiden Bestimmungen stehen in einem Widerspruch zueinander.

b) Art. 146 Abs. 1 StPO statuiert zunächst einmal für sämtliche Verfahrensabschnitte den Grundsatz der getrennten Einvernahme mehrerer Personen. Ausgangspunkt dieser Bestimmung ist das Bedürfnis, die zu einem bestimmten Sachverhalt zu befragenden Personen im Interesse der Wahrheitsfindung getrennt einzuvernehmen. Dadurch soll gemäss übereinstimmender Auffassung sämtlicher Kommentatoren die Unbefangenheit der einzuvernehmenden Person gewährleistet und ein kollusives Aussageverhalten erschwert werden[1].

Unterschiedliche Auffassungen finden sich hingegen zum einen zur Frage, wie der Grundsatz der getrennten Einvernahme gemäss Art. 146 Abs. 1 StPO aufzufassen sei, und zum andern, inwiefern die in Art. 147 StPO statuierten Teilnahmerechte bei Beweiserhebungen auf diese Beurteilung einwirken würden. Soweit ersichtlich stellt sich lediglich Godenzi auf den Standpunkt, der Regelungsgehalt des Art. 146 Abs. 1 StPO beschränke sich auf die Vorgabe, Personen, die im selben Verfahren einvernommen werden sollen, seien - im Sinn einer Einzeleinvernahme - nacheinander zu befragen. Dies heisse aber nicht, dass keine weitere anwesenheitsberechtigte Person im Einvernahmezimmer zugegen sein dürfe. Die Teilnahmerechte der Parteien nach Art. 147 Abs. 1 StPO seien ebenso zu respektieren wie die Anwesenheitsrechte gesetzlicher Vertreter. Alle anderen sich zu dieser Frage äussernden Kommentatoren halten indessen fest, dass die grundsätzlich getrennten Einvernahmen insbesondere auch bedeuten würden, dass in Abwesenheit beziehungsweise unter Ausschluss der anderen zu befragenden Personen einvernommen werde. Zur Begründung dieser mit dem unumstrittenen Interesse der Ermittlung der materiellen Wahrheit als Verfahrensziel in Einklang stehenden Betrachtungsweise wird dargelegt, auf diese Weise werde es den Strafbehörden ermöglicht, sich ohne zusätzliche Einwirkung durch die Anwesenheit weiterer Verfahrensbeteiligter ein Bild über die einzuvernehmende Person und deren Wissen zu machen. Daneben werde eine möglichst unverfälschte beziehungsweise unbeeinflusste Äusserung der einvernommenen Person sichergestellt; es werde vermieden, dass diese ihre Aussagen denen der anderen Personen anpasse oder die Aussage durch die Anwesenheit anderer Personen sonst wie beeinträchtigt oder verfälscht werde. Oder anders ausgedrückt: Die getrennte Einvernahme diene der Wahrheitsfindung, weil der später Einvernommene nicht, jedenfalls nicht als Folge seiner Anwesenheit, wisse, was die zuvor Einvernommenen ausgesagt hätten. Diese Auffassung, wonach der Grundsatz der getrennten Einvernahme mehrerer Personen insbesondere bedeute, dass die einzuvernehmenden Personen einzeln und eben auch unter Ausschluss der anderen zu befragen sind, kann sich auch auf die Gesetzesmaterialien stützen. Aufgrund dieser Sichtweise gelangt die Mehrheit der Kommentatoren zur Feststellung, dass aufgrund des in Art. 146 Abs. 1 StPO statuierten Grundsatzes der getrennten Einvernahme somit kein Anspruch von beschuldigten Personen, Zeugen oder Auskunftspersonen bestehe, bei der Einvernahme von Mitbeschuldigten, anderen Zeugen oder Auskunftspersonen anwesend zu sein. Zwar wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die (im so verstandenen Sinn) getrennte Einvernahme selbstverständlich unter dem Vorbehalt der Teilnahmerechte der Parteien nach Art. 147 StPO stehe. Die Möglichkeit der Strafbehörde, sich ohne die Einwirkung durch die Anwesenheit weiterer verfahrensbeteiligter Personen ein Bild über die Person und deren Wissen zu machen, sage aber noch nichts über die Verwertbarkeit einer solchen Einvernahme aus, die ohne Gewährung der Teilnahmerechte durchgeführt worden sei. Die Tatsache, dass die beschuldigte Person gemäss Art. 147 StPO ein Recht auf Konfrontation mit ihren Mitbeschuldigten habe, deren Aussagen sie belasten würden, bedeute nicht a priori ein Anwesenheitsrecht bei entsprechenden Einvernahmen, da das Konfrontationsrecht nachträglich eingeräumt werden könne[2].

c) Demnach durfte die Staatsanwaltschaft den Zeugen jedenfalls ein erstes Mal in Abwesenheit des Beschwerdeführers einvernehmen, zumal dessen Verteidiger die Teilnahme nicht verwehrt wurde.


[1] ZR 110, 2011, Nr. 39 mit Hinweis auf Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2009, Art. 146 N 1, Häring, Basler Kommentar, Art. 146 StPO N 1, und Godenzi, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), Zürich 2010, Art. 146 N 1

[2] ZR 110, 2011, Nr. 39; Godenzi, Art. 146 StPO N 2; Häring, Art. 146 StPO N 1 f.; Goldschmid/Maurer/Sollberger, Kommentierte Textausgabe zur schweizerischen Strafprozessordnung, Bern 2008, S. 133; Riklin, Schweizerische Strafprozessordnung, Kommentar, Zürich 2010, Art. 146 N 1; Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich/St. Gallen 2009, N 818, und Praxiskommentar, Art. 146 StPO N 1, 3 und Art. 148 StPO N 5; Begleitbericht zum Vorentwurf StPO, Bern 2001, S. 112

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