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RBOG 2011 Nr. 28

Im Einspracheverfahren genügen bei umstrittenem Sachverhalt nur polizeiliche Einvernahmen nicht


Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO, Art. 355 Abs. 1 StPO


1. a) Das Bezirksamt sprach X der mehrfachen sexuellen Belästigung schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 1'000.00. X erhob Einsprache. Die Bezirksgerichtliche Kommission wies sie ab und bestätigte die Strafverfügung des Bezirksamts. X führte fristgerecht Berufung.

b) In diesem Verfahren wurden nur polizeiliche Befragungen durchgeführt; weitere Beweismassnahmen wurden nicht getroffen.

2. a) Da im Ermittlungsverfahren, vor Erlass der Strafverfügung und im Abklärungsverfahren über die geltend gemachten Einsprachegründe nur ein beschränkter Gehörsanspruch gewahrt ist, muss dem Betroffenen im Einspracheverfahren ein uneingeschränktes Äusserungs- und Beweisantragsrecht vor einer gerichtlichen Instanz zukommen, welche die Sach- und Rechtslage frei überprüft[1]. Der bei entsprechenden Bagatelldelikten eher rudimentären Sachverhaltsabklärung vor Erlass der Strafverfügung steht die Möglichkeit gegenüber, durch Einsprache auf einfache Weise eine Neubeurteilung beziehungsweise neue Abklärung der Sache herbeizuführen. Dabei gelten im Einspracheverfahren die üblichen Grundsätze zum Anspruch auf ein faires Verfahren[2]. In der Regel hat das Bezirksamt aufgrund der Einsprache weitere Abklärungen zu treffen, wobei grundsätzlich eine Einvernahme des Einsprechers durchzuführen ist. Zwar kann es je nach den Umständen des konkreten Falls und nach der Begründung der Einsprache bei den bereits getroffenen Ermittlungen oder Beweisaufnahmen bleiben; so kann etwa auf die Einvernahme des Einsprechers verzichtet werden, wo eine solche weder geeignet noch notwendig ist, um den Sachverhalt weiter abzuklären[3]. Im Regelfall werden nach einer Einsprache aber Beweismassnahmen notwendig sein[4]. Bestehen widersprüchliche Aussagen, sind jedenfalls untersuchungsrichterliche Einvernahmen durchzuführen[5]. Welche Beweismassnahmen notwendig sind, ist in jedem Einzelfall zu entscheiden[6]. An diesen Grundsätzen hat sich nichts geändert, und daran ist auch im Licht von Art. 355 Abs. 1 StPO festzuhalten[7].

b) Zwar geht es bei Art. 198 StGB um eine blosse Übertretung, doch handelt es sich bei der sexuellen Belästigung um einen insofern erheblichen Vorwurf, als dieses Delikt im Gegensatz zu anderen Übertretungstatbeständen ein sozial stark verpöntes Verhalten betrifft; im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass eine Busse ausgesprochen wurde, welche jedenfalls keinen Bagatellcharakter mehr aufweist. Nachdem der Sachverhalt nach wie vor umstritten ist, lässt sich der Beweis mit blossen polizeilichen Befragungen nicht führen, genauso wenig wie auf eine Einvernahme des Einsprechers durch den Untersuchungsrichter beziehungsweise die Staatsanwaltschaft verzichtet werden kann.


[1] RBOG 1993 Nr. 27 S. 135

[2] RBOG 1996 Nr. 42 S. 206

[3] RBOG 1988 Nr. 46 S. 146

[4] RBOG 1993 Nr. 30 S. 142; vgl. EGVSZ 1971 S. 4 f.

[5] RBOG 1999 Nr. 31 S. 203, 1994 Nr. 34 S. 171, 1993 Nr. 30 S. 142

[6] RBOG 1999 Nr. 31 S. 203, 1994 Nr. 34 S. 171, 1993 Nr. 30 S. 143

[7] Vgl. Riklin, Basler Kommentar, Art. 355 StPO N 1; Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2009, Art. 355 N 1; Schwarzenegger, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung (Hrsg.: Donatsch/Hansjakob/Lieber), Zürich 2010, Art. 355 N 1

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