TVR 2001 Nr. 37
Leistungseinstellung nach Prämienrückstand
Wird über einen Versicherten der Konkurs eröffnet, so darf die Krankenkasse ihre Leistungspflicht auch dann nicht einstellen, wenn die Voraussetzungen nach Art. 9 Abs. 2 KVV gegeben sind. Diese Verordnungsbestimmung verstösst gegen übergeordnetes Recht.
Mit Verfügung vom 16. Februar 2001 stellte die Krankenkasse M ihre Leistungen für Heilbehandlungen zugunsten von T und seiner Familie bis zur vollständigen Bezahlung sämtlicher ausstehender Prämien und Kostenbeteiligungen ein. Gleichzeitig informierte sie die zuständige Sozialhilfebehörde. Die M stützt ihren Entscheid auf Art. 9 Abs. 2 KVV. Danach kann der Versicherer die Übernahme der Kosten für die Leistungen aufschieben, wenn er gegen den Versicherten einen Verlustschein für ausstehende Prämien oder Kostenbeteiligungen erwirkt hat und die Meldung an die Sozialhilfebehörde erfolgte. Gegen diese Verfügung erhob T Einsprache, welche die Krankenkasse M abwies. Das Versicherungsgericht heisst gut.
Aus den Erwägungen:
2. b) Sowohl der Sinn, als auch die Formulierung von Art. 9 Abs. 2 KVV sind klar. Umstritten ist jedoch die Gesetzmässigkeit von Art. 9 Abs. 2 KVV. Da der schwere Eingriff (Leistungsaufschub) nur auf Verordnungsstufe, nicht aber in einem Gesetz im formellen Sinn geregelt ist, bleibt zu prüfen, ob diese Regelung so überhaupt zulässig ist. Die Leistungssperre ist im KVG nicht geregelt. Der Bundesrat wird einzig in Art. 96 KVG mit dem Vollzug des Gesetzes beauftragt. Vollzugsverordnungen kommt die Funktion zu, die gesetzlichen Bestimmungen zu konkretisieren und gegebenenfalls untergeordnete gesetzliche Lücken zu füllen, soweit dies zur Vollziehung des Gesetzes erforderlich ist. Die Ausführungsbestimmungen müssen sich jedoch an den gesetzlichen Rahmen halten und dürfen insbesondere keine neuen Vorschriften aufstellen, welche die Rechte der Bürger beschränken oder ihnen neue Pflichten auferlegen, selbst wenn diese Regeln mit dem Zweck des Gesetzes vereinbar wären (BGE 124 I 127, E. 3b, BGE 117 IV 249, E. 3c). Vollzugsbestimmungen sind freilich nur in dem Umfang zulässig, als das Gesetz dafür Raum lässt und nicht bewusst auf eine präzisere Regelung der betreffenden Frage verzichtet. Eine gewollte, gesetzliche Unbestimmtheit darf nicht durch eine Vollziehungsverordnung ausgefüllt werden (Müller, Möglichkeiten und Grenzen der Verteilung der Rechtssetzungsbefugnisse im demokratischen Rechtsstaat, ZBl 99/1998 15). Die Vollstreckung der finanziellen Verpflichtungen der Versicherten gegenüber dem Versicherer (Prämien gemäss Art. 61 KVG und Kostenbeteiligung nach Art. 64 KVG) sowie die Folgen der Nichterfüllung sind weder formell gesetzlich geregelt, noch beauftragt das Gesetz den Bundesrat, hierzu nähere Bestimmungen zu erlassen (BGE 125 V 265).
c) Die Literatur zu Art. 9 Abs. 2 KVV ist kontrovers: Eugster, Krankenversicherung, in Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht (SBVR), Rz. 39 und Fn. 77, 78 und 827 erblickt im Bereich der Sanktionen beim Prämienzahlungsverzug eine echte Lücke und erachtet den Eingriff zu deren effizienten Behebung als notwendig, äussert sich dabei aber nur in Bezug auf den nach seiner Auffassung unzulässigen Versicherungswechsel, was jedoch durch das Bundesgericht in BGE 125 V 265 klar abgelehnt wurde. DUC in LAMal-KVG, Recueil de travaux en l’honneur de la Société suisse de droit des assurances, Lausanne 1997, S. 464 ff., wirft die Frage der Gesetzmässigkeit von Art. 9 KVV im Hinblick auf das Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage auf und bejaht das Vorliegen einer echten Lücke, die auf dem Verordnungsweg habe gefüllt werden dürfen. Die Gesetzmässigkeit der Leistungssperre bei Prämienverzug gemäss Art. 9 Abs. 2 KVV zweifelt er indessen in dem Sinne an, dass die Lücke analog den Bestimmungen des VVG – ohne rückwirkende Leistungspflicht bei nachträglicher Prämienzahlung – hätte gefüllt werden müssen. Insgesamt äussert er sich kritisch zu dieser Regelung.
d) Zu entscheiden ist vorliegend, ob der Bundesrat zum Zwecke der Vollstreckung der Prämienzahlungs- und Kostenbeteiligungspflicht der Versicherten eine Leistungssperre vorsehen durfte. Wie bereits erwähnt, enthält das KVG keine Delegationsbestimmung, die den Bundesrat in diesem Bereich zum Erlass gesetzesändernder (Gygi, Verwaltungsrecht, Bern 1986, S. 95 ff.) beziehungsweise gesetzesvertretender (Häflin/Müller, Grundriss des allgemeinen Verwaltungsrechts, 3. Aufl., Zürich 1998, S. 27, Rz. 107 f.) Rechtsverordnungen ermächtigen würde. Die Kompetenz des Bundesrates zum Erlass von Vollziehungsverordnungen ist in der von der Bundesverfassung eingeräumten Vollzugskompetenz enthalten (Häflin/Müller, a.a.O., S. 27, Rz. 110). Art. 96 KVG wiederholt diese Vollzugskompetenz, indem er den Bundesrat mit dem Erlass der Ausführungsbestimmungen beauftragt. Fraglich ist, ob der Bundesrat mit der Regelung in Art. 9 Abs. 2 KVV im Rahmen der Gesetzesausführung geblieben ist. Ausführungsverordnungen sollen Gesetzesbestimmungen verdeutlichen, soweit nötig das Verfahren regeln und (echte) Lücken ausfüllen. Sie dürfen nicht im Vergleich zum Gesetz zusätzliche Beschränkungen auferlegen, selbst wenn diese mit dem Gesetzeszweck im Einklang stehen (BGE 125 V 265 E. 6 b). Hinsichtlich der Sanktionen, mit denen die Erfüllung dieser verwaltungsrechtlichen Pflichten (Prämienzahlungs- und Kostenbeteiligungspflicht) erzwungen wird, bestimmt Art. 88 Abs. 2 KVG folgendes: Danach sind vollstreckbare Verfügungen und Einspracheentscheide der Versicherer, die auf Geldzahlung gerichtet sind, vollstreckbaren Urteilen im Sinne von Art. 80 SchKG gleichgestellt. Nach dem Willen der gesetzgebenden Instanzen haben die Versicherer ihre Geldforderungen auf dem Weg der Zwangsvollstreckung gemäss SchKG durchzusetzen. Weitere Formen des Verwaltungszwangs sind formell gesetzlich nicht vorgesehen. Im Hinblick auf die Möglichkeit der Vollstreckung gemäss SchKG weist die gesetzliche Ordnung keine echte Lücke auf, die mit einer Vollziehungsverordnung gefüllt werden müsste. Das Fehlen weiterer gesetzlicher Vollzugsmassnahmen wäre als unechte Lücke zu bezeichnen, zu deren Schliessung der Bundesrat – mit der Begründung der Lückenfüllung – nicht berufen ist (BGE 125 V 265 E. 6 c).
e) Das vom Beschwerdeführer vorgebrachte Argument, der Leistungsaufschub widerspreche dem Schuldnerschutzgedanke gemäss Art. 265 SchKG, ist nicht von der Hand zu weisen. Es kann nicht angehen, dass der dem Schuldner durch ein Bundesgesetz (SchKG) gewährte Schutz mittels Verordnung (KVV) wieder ausgehöhlt wird. Die Beschwerdegegnerin wendet dagegen ein, der Schutz von Art. 265 SchKG beziehe sich lediglich auf die Zwangsvollstreckung gemäss SchKG. Dies mag formell-rechtlich insofern zutreffen, da sich die direkte Wirkung von Art. 265 SchKG auf die Zwangsvollstreckung beschränkt. Nach der ratio legis des Schuldnerschutzes ist diese Einschränkung jedoch ausgesprochen kurzsichtig. Hätte der Gesetzgeber eine Privilegierung der Krankenversicherer in der Zwangsvollstreckung gewollt, hätte er diese in Art. 219 SchKG vornehmen können.
f) Wenn mit der Benachrichtigung der Fürsorgebehörde erreicht werden soll, dass diese für die laufenden Prämien aufkommt, mag dies noch angehen. Es kann und darf aber nicht Aufgabe der Fürsorgebehörden sein, Verlustscheine aus dem Konkurs aufzukaufen, um eine Aufhebung der Leistungssperre zu erwirken. Dies widerspricht klar Sinn und Zweck der Fürsorgegesetzgebung.
g) Inwieweit Sanktionen einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, ist in der Doktrin umstritten. So wird die Auffassung vertreten, es sei keine gesetzliche Grundlage erforderlich, wenn die Sanktion nur eine Verpflichtung darstelle, die an die Stelle derjenigen trete, welche die Pflichtigen nicht erfüllt hätten, um zum selben Resultat zu gelangen. Anders verhalte es sich aber, wenn die Sanktion eine neue Verpflichtung begründe, welche nicht darauf hinziele, den rechtmässigen Zustand wieder herzustellen (Moor, Droit administratif, Bd. II, Bern 1992, S. 65 ff.). Während nach der Rechtsprechung die Statuierung von Strafnormen in Vollziehungsverordnungen nicht gänzlich ausgeschlossen ist (Rhinow/Krähenmann, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel 1990, Nr. 8, B II c, S. 22), bedürfen administrative Rechtsnachteile wie Bewilligungs- und Leistungsentzüge einer formell gesetzlichen Grundlage (Rhinow/Krähenmann, a.a.O., Nr. 49 B VII, S. 156). Der Leistungsaufschub gemäss Art. 9 Abs. 2 KVV dürfte als Leistungsentzug im oben genannten Sinn zu qualifizieren sein. Hierfür wäre somit eine formell gesetzliche Grundlage erforderlich. Die Beschwerdegegnerin erblickt die erforderliche gesetzliche Grundlage im Grundsatz der Gegenseitigkeit, der gemäss Art. 13 Abs. 2 lit. a KVG auch im neuen Recht gelte. Es ist richtig, dass das Eidgenössische Versicherungsgericht (nach altem Recht) die in Kassenstatuten vorgesehene Leistungseinstellung für die Dauer des Prämienverzugs als mit dem Gegenseitigkeitsprinzip für vereinbar erklärte (BGE 111 V 318). Diese Argumentation kann aber für das neue Recht nicht überzeugen und wurde vom Bundesgericht in BGE 125 V 265 offengelassen. Die Situation zum alten Recht ist denn auch nur beschränkt vergleichbar. Nach altem Recht wurde die Auferlegung von Sanktionen an die Kassenstatuten übertragen. Damals bestand aber noch kein Versicherungsobligatorium. Dieser obligatorische Versicherungsschutz würde durch die Leistungseinstellung vielmehr unterhöhlt.
h) Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber bereits an einer formell gesetzlichen Grundlage arbeitet (vgl. Zeitschrift für Sozialhilfe Nr. 3/2001, S. 33 ff.). Offenbar hat der Gesetzgeber erkannt, dass in diesem Bereich, insbesondere nachdem auf Grund des letztgenannten Bundesgerichtsentscheides ein Kassenwechsel trotz Ausständen problemlos möglich ist, dringender Handlungsbedarf besteht. Dieser jederzeit mögliche Kassenwechsel lässt die Leistungseinstellung ohnehin zur Makulatur werden. Auch wenn eine gesetzliche Grundlage zu erwarten ist (der neue Art. 81a Abs. 2 KVG lautet im Entwurf: «Hat die Mahnung keine Zahlung zur Folge, schiebt der Versicherer nach Ablauf der Nachfrist die Übernahme der Kosten für die Leistungen auf, bis die ausstehenden Prämien oder Kostenbeteiligungen vollständig bezahlt sind.»), ändert dies nichts daran, dass derzeit diese Grundlage fehlt. Somit überschreitet Art. 9 Abs. 2 KVV den einer Vollziehungsbestimmung gesetzten Rahmen und verstösst damit gegen Bundesrecht. Der angefochtene Entscheid beziehungsweise die zu Grunde liegende Verfügung sind daher aufzuheben.
Entscheid vom 24. Oktober 2001