TVR 2001 Nr. 39
Suizid und Rentenansprüche der Hinterbliebenen
1. Für den Nachweis der Urteilsunfähigkeit des Selbstmörders im Zeitpunkt der Suizidhandlung genügt der Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.
2. Ganz gezielte Vorbereitungshandlungen deuten auf eine nicht völlig abhanden gekommene Urteilsfähigkeit hin.
M, geboren 24. März 1956, hatte seit seiner Kindheit und Adoleszenz erhebliche psychische Probleme. Nach dem ersten Suizidversuch mit 16 Jahren hielt er sich ein erstes Mal in Littenheid auf. 1979 heiratete er. Seine Ehefrau gebar zwei Kinder. Wegen beruflicher Überforderung kam es 1991 nach vorgängigem Alkoholabusus zu einem zweiten Selbstmordversuch, wobei das Auto Totalschaden erlitt. M hielt sich erneut während knapp eines Jahres in Littenheid auf, um dann mit gesenkter Suizidalität, aber weitgehend unveränderter chronischer Depressivität entlassen zu werden. In der Folge wurde er durch den Externen Psychiatrischen Dienst (EPD) sowie ab 1995 durch seinen Hausarzt ambulant betreut. Sein Zustand verbesserte sich nur gering, als er am 1. April 1997 beim Bezirksamt Frauenfeld wieder Arbeit fand. Anlässlich der Konsultation vom 1. Dezember 1998 beim EPD beklagte sich N bei seinem Arzt, auf den er zuvor einen zwar chronischen, aber nur leicht depressiven Eindruck gemacht hatte, über den (seit der Kindheit) schwierigen Monat Dezember und insbesondere die bevorstehenden Festtage.
Am Abend des 28. Dezember 1998 unterhielt sich M mit seiner Ehefrau in der Wohnstube. Gemäss deren Aussagen habe er sie gedrängt, ins Bett zu gehen. Vor Mitternacht sei sie dann zu Bett gegangen. Wie meistens üblich sei ihr Mann noch in der Wohnstube geblieben und habe sein Bier ausgetrunken. Gegen 1.00 Uhr habe sie ihn dann dabei ertappt, wie er auf dem Balkon einen dünnen Strick um einen Balken geknüpft habe, um angeblich etwas daran anbinden zu wollen. Gegen 2.20 Uhr habe er sich erneut nach draussen begeben, um eine Zigarette zu rauchen. Als er nach einigen Minuten nicht in die Stube zurückgekehrt sei, habe sie nachschauen wollen. Da die Türsicherung entfernt worden war, habe sie die Tür nicht von innen öffnen können, weshalb sie sich von der Seitentüre auf den Sitzplatz begeben habe, wo sie ihren Mann in der Schlinge hängend vorgefunden habe. Nachdem sie ein Küchenmesser geholt habe, habe sie den Strick durchschnitten. Der anschliessend erschienene Arzt habe nur noch den Tod feststellen können.
Die SUVA lehnte ihre Leistungspflicht ab. Mit Beschwerde beantragt die Ehefrau Rückweisung an die SUVA, eventuell Zusprache einer Rente für sie und ihre heute 14 und 19 Jahre alten (gemeinsamen) Kinder. Das Versicherungsgericht weist ab.
Aus den Erwägungen:
2. a) Umstritten ist, ob der Ehemann seinen Tod absichtlich beziehungsweise im Zustand der nicht vollständig aufgehobenen Urteilsfähigkeit herbeigeführt hat, sieht doch Art. 37 UVG den Ausschluss von Versicherungsleistungen mit Ausnahme der Bestattungskosten vor. Indessen findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV).
b) Dabei stellt das Sozialversicherungsrecht auf die Urteilsfähigkeit ab, wobei diese nach der Rechtsprechung in Bezug auf die in Frage stehende konkrete Handlung und unter Würdigung der bei ihrer Vornahme herrschenden objektiven und subjektiven Verhältnisse zu prüfen ist. Ob die Tat ohne Wissen und Willen erfolgt sei, ist nicht entscheidend; denn eine Absicht, und sei es auch nur in Form eines völlig unreflektierbaren, dumpfen Willensimpulses, ist stets festzustellen, sonst liegt keine Selbsttötung beziehungsweise kein Suizidversuch vor. Massgeblich ist einzig, ob im entscheidenden Moment jenes Minimum an Besinnungsfähigkeit zur kritischen, bewussten Steuerung der endothymen (das heisst, vor allem der triebhaften innerseelischen) Abläufe vorhanden war. Damit eine Leistungspflicht des Unfallversicherers entsteht, muss mit anderen Worten eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche usw. nachgewiesen sein, welche zum Zeitpunkt der Tat, unter Würdigung der herrschenden objektiven und subjektiven Umstände sowie in Bezug auf die in Frage stehende Handlung, die Fähigkeit gänzlich aufgehoben hat, vernunftgemäss zu handeln (BGE 113 V 63 E. 2c). Es muss deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Geisteskrankheit oder eine schwere Störung des Bewusstseins nachgewiesen sein, also psychopathologische Symptome wie Wahn, Sinnestäuschungen, depressiver Stupor, Raptus u.a. Dazu muss das Motiv zum Suizid oder Suizidversuch aus der geisteskranken Symptomatik stammen, mit anderen Worten muss die Tat «unsinnig» sein. Eine blosse «Unverhältnismässigkeit» der Tat, indem der Suizident seine Lage in depressiv-verzweifelter Stimmung einseitig und voreilig einschätzt, genügt zur vollständigen Urteilsfähigkeit nicht (SZS 1993, S. 291). Demzufolge muss der Unfallcharakter einer suizidalen Handlung verneint werden, wenn sie lediglich als unverhältnismässig zu bezeichnen ist und nur diesbezüglich eine vollständige Urteilsunfähigkeit besteht (LGVE 1992 II Nr. 39, S. 292 E. 2b).
Für diesen Nachweis ist nicht bloss die zu beurteilende Suizidhandlung von Bedeutung und somit nicht allein entscheidend, ob diese als unvernünftig, uneinfühlbar oder abwegig erscheint. Vielmehr ist auf Grund der gesamten Umstände, wozu das Verhalten und die Lebenssituation des Versicherten vor dem Selbsttötungsereignis insgesamt gehören, zu beurteilen, ob er in der Lage gewesen wäre, den Suizid oder Suizidversuch vernunftmässig zu vermeiden oder nicht.
c) Da die Frage der Urteilsfähigkeit auf Grund von inneren Tatsachen (innerseelischen Abläufen) zur Zeit einer bestimmten Suizidhandlung zu beurteilen ist (BGE 113 V 63 unten) und ein strikter Beweis nach der Natur der Sache diesbezüglich ausgeschlossen ist (vgl. BGE 91 II 338 E. 8, 74 II 205 E. 1), dürfen an den Nachweis der Urteilsfähigkeit keine strengen Beweisanforderungen gestellt werden. Der Beweis der Urteilsunfähigkeit gilt als geleistet, wenn eine durch übermächtige Triebe gesteuerte Suizidhandlung als wahrscheinlicher erscheint als ein noch in erheblichem Masse vernunftmässiges und willentliches Handeln (unveröffentlichtes Urteil H. vom 1. Juli 1993, U 136/92).
d) Die Verwaltung als verfügende Instanz und – im Beschwerdefall – der Richter dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind. Im Sozialversicherungsrecht hat der Richter seinen Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Der Richter hat vielmehr jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die er von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigt (BGE 121 V 47 E. 2a, 208 E. 6b, je mit Hinweisen).
Ob die Selbsttötung beziehungsweise der Suizidversuch im Zustande gänzlich fehlender Urteilsfähigkeit begangen wurde, hat der Richter von Amtes wegen zu prüfen. Den Parteien obliegt in dem von der Untersuchungsmaxime beherrschten Sozialversicherungsprozess keine subjektive Beweislast im Sinne von Art. 8 ZGB. Eine Beweislast besteht im Sozialversicherungsprozess nur in dem Sinne, dass im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264, E. 3b mit Hinweisen).
Die Beweise sind im Sozialversicherungsprozess nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung ohne Bindung an förmliche Beweisregeln umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Das Prinzip der freien Beweiswürdigung besagt, dass der Sozialversicherungsrichter alle Beweismittel objektiv zu prüfen hat, unabhängig davon, von wem sie stammen und danach zu entscheiden, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des strittigen Rechtsanspruchs gestatten. Insbesondere darf er bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe darzulegen, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist demnach entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Darlegung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 122 V 160 E. 1c). Ausschlaggebend für den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten, sondern dessen Inhalt. Weil die SUVA in beweisrechtlicher Hinsicht ein zur Objektivität verpflichtetes gesetzvollziehendes Organ ist, kann auch den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte Beweiswert beigemessen werden, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen.
3. a) Der Arzt, der nach dem 2. Suizidversuch die ambulante Behandlung seines Vorgängers ab 1. April 1997 fortsetzte, gelangte in seiner Stellungnahme vom 17. März 1999 zum Schluss, dass bei M eine chronisch depressive Entwicklung entsprechend einer Dysthymia (ICD 10 F 34.1) auf dem Boden einer narzisstischen Neurose sowie eine sekundäre, chronische Alkoholabhängigkeit vorgelegen hätten. Der Suizid sei trotz einer chronisch latenten Suizidalität letztlich überraschend gekommen. Die SUVA setzte sich durch eine weitere Befragung im Einspracheentscheid damit auseinander, wobei sie die fachärztliche Einschätzung als «nicht aktenkundig» bezeichnete und meint damit wohl, dass hierfür in den Akten keine Stütze zu finden sei. Damit erweist sich die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs als unberechtigt, abgesehen davon, dass ein allfälliger Mangel im Beschwerdeverfahren ohne weiteres geheilt würde.
b) Unbestrittenermassen litt der Ehemann bereits seit seiner Jugend an einer chronisch depressiven Entwicklung, welche auch durch die Therapieversuche in Littenheid und die anschliessende ambulante, medikamentöse und gesprächstherapeutische Behandlung nicht entscheidend beeinflusst beziehungsweise verbessert werden konnte. Der Ehemann der Beschwerdeführerin geriet bei seiner früheren Tätigkeit als Gemeindeschreiber aus objektiven (Abwesenheit des Chefs), mehr aber wohl subjektiven Gründen (wie mangelndes Selbstwertgefühl, Selbstzweifel) in eine Überforderungssituation, die zu einem ernsthaften Suizidversuch (1991) und zu einem länger dauernden Ausstieg aus dem Arbeitsprozess mit entsprechenden sozialen Folgen führte. Auch auf der Ebene der Familie gab es offensichtlich Probleme. In der Folge blieb eine latente Suizidalität. Im Sommer 1996 durchlebte er eine grössere depressive Krise bis zum Arztwechsel im Frühling 1997. Zwar trug die neue Anstellung per 1. April 1997 zu einer gewissen Stabilisierung bei, vermochte jedoch an der latenten, «leicht» depressiven Grundstimmung nichts zu ändern. In der letzten Zeit vor dem Suizid lag keine erhöhte Suizidalität vor und M schien seine Alkoholabhängigkeit besser in den Griff bekommen zu haben.
c) Offenbar realisierte er aber, dass seine psychischen Probleme trotz erfolgreicher (teilweiser) Reintegration ins Arbeits- und Sozialleben nicht behoben waren. In der Vorweihnachtszeit 1998 tauchte erneut der Wunsch auf, aus dem Leben zu gehen. Dennoch befand er sich nach den Schilderungen seiner Ehefrau nicht in einer aussergewöhnlichen Gemütslage, sondern wirkte auf sie eher zufrieden und normal. Auch am fraglichen Abend war er zu einer normalen Kommunikation in der Lage, und realisierte, nachdem er seine Frau, offenbar vertrauend auf routinierte Abläufe, ins Bett geschickt hatte, seinen leider erfolgreichen, letzten Suizidversuch. Dabei gelang es ihm auch, seine argwöhnisch gewordene und später wachgebliebene Ehefrau regelrecht «auszutricksen» (Alibi Strickvorbereitung, Entfernung Türsicherung, Rauchen als Vorwand). Angesichts dieser Handlungen erscheint die Einschätzung der SUVA-Fachärztin zutreffend, dass seine Urteilsfähigkeit zwar durch die chronische Dysthymie (im Sinne einer klassifizierten Geisteskrankheit) und die sekundäre Alkoholabhängigkeit (im Sinne einer Geistesschwäche) eingeschränkt, aber nicht vollständig aufgehoben gewesen sei. Die Tatsache, dass er den Selbstmord nicht angekündigt und entgegen seinen früheren Bemühungen, im Interesse seiner Familie am Leben zu bleiben und an sich zu arbeiten, nicht einmal einen Abschiedsbrief geschrieben hat, steht dem nicht entgegen. Wenn die Weihnachtszeit wirklich derart ausschlaggebend gewesen wäre, müsste davon ausgegangen werden, dass er auch in den vorangegangenen, objektiv und subjektiv, insbesondere wegen der Arbeitslosigkeit, noch schwereren Jahren wahrscheinlich auch einmal versucht hätte, Hand an sich zu legen. Die Selbsttötung erscheint demzufolge im Sinne der unbestrittenermassen sehr restriktiven Praxis zwar als unverhältnismässig, nicht aber als unsinnig.
Entscheid vom 21. Februar 2001
Die hiegegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat das Eidgenössische Versicherungsgericht am 14. August 2001 abgewiesen.