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TVR 2001 Nr. 6

Verfahrenssistierung als anfechtbarer Zwischenentscheid


§ 35 Abs. 2 VRG, § 44 Ziff. 1 VRG


1. Droht durch den Entzug der elterlichen Obhut die Entfremdung vom Kind, so kann der Entscheid über die Sistierung des Rekursverfahrens gegen den Obhutsentzug mit Beschwerde angefochten werden (E. 1b).

2. Ein Rechtsmittelverfahren, in dem über die Rechtmässigkeit eines verfügten Obhuts-entzugs zu urteilen ist, darf nicht bis zum Vorliegen des Strafurteils gegen den obhutsberechtigten Elternteil sistiert werden, sind doch im Strafverfahren völlig andere Gesichtspunkte massgeblich (E. 2).


A ist die Mutter der Kinder Angelika (geboren 1987), Ismael (geboren 1994) und Fréderic. Im Rahmen einer Strafuntersuchung gegen den Neffen von A kam der Verdacht auf, dass sie sich gegenüber ihrer Tochter ebenfalls strafbar gemacht haben könnte. Nach durchgeführten Einvernahmen erstattete der kantonale Untersuchungsrichter am 26. September 2000 den Schlussbericht zuhanden der Staatsanwaltschaft. Darin wirft er A folgende Straftaten vor:
– Mehrfache Tätlichkeiten im Sinne von Art. 126 Abs. 2 StGB durch wiederholtes Schlagen mit Hand, Kochkelle, Bambusstecken oder Gürtel auf Gesäss, Oberkörper und Kopf;
– Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht im Sinne von Art. 209 StGB durch Misshandlung beziehungsweise dadurch, dass sie ihre Tochter durch ihren Neffen sowie ihren erwachsenen Sohn Fréderic misshandeln liess;
– Gehilfenschaft zu sexuellen Handlungen mit einem Kind gemäss Art. 187 i.V. mit Art. 25 StGB, indem sie ihren Neffen, von dem sie wusste, dass er schon sexuelle Übergriffe auf ihre Tochter Angelika vorgenommen hatte, mit dieser alleine liess und ihm sogar gestattete, mit ihr alleine übers Wochenende nach Davos zu fahren, wo es in der Folge wieder zu sexuellen Übergriffen kam.
Nach Abschluss der Untersuchung informierte der Untersuchungsrichter auch die Vormundschaftsbehörde O. Diese kam auf Grund weiterer Recherchen zum Schluss, A sei als Mutter hoffnungslos überfordert. Zudem verweigere sie die Zusammenarbeit mit der Therapeutin von Angelika. Die Vormundschaftsbehörde entzog daher A die Obhut über ihre Kinder und platzierte sie in einer Pflegefamilie. Einer allfälligen Beschwerde gegen diesen Entscheid wurde die aufschiebende Wirkung entzogen. Gegen diesen Entscheid liess A beim DJS Beschwerde erheben. Beantragt wurde die Aufhebung des angeordneten Obhutsentzugs. Am 7. Dezember 2000 erliess das DJS einen Zwischenentscheid, in dem angeordnet wurde, das Beschwerdeverfahren (beim DJS) werde unter Vorbehalt des Einholens eines kinderpsychiatrischen Gutachtens bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Strafurteils gegen A sistiert. Gegen diesen Zwischenentscheid erhebt A beim Verwaltungsgericht Beschwerde, welches teilweise gutheisst.

Aus den Erwägungen:

1. a) (...)

b) Anfechtungsgegenstand der vorliegenden Beschwerde ist ein verfahrensleitender Zwischenentscheid der Vorinstanz. Ein solcher Zwischenentscheid kann nur ausnahmsweise angefochten werden, nämlich dann, wenn er für den Betroffenen zu einem nicht wieder gut zu machenden Nachteil führen könnte (Haubensak/Litschgi/Stähelin, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Frauenfeld 1984, N. 6 zu § 11 VRG). Die Beschwerdeführerin bringt vor, das Strafverfahren gegen sie könne mehrere Jahre dauern. Wegen des Entzugs der aufschiebenden Wirkung des Obhutsentzugs bestehe die Gefahr, dass somit ihre Kinder rein durch die Verfahrensdauer des Strafverfahrens von ihr entfremdet würden. Dieser Argumentation kann zugestimmt werden. Der Beschwerdeführerin ist daher die besondere Betroffenheit mit Bezug auf den Zwischenentscheid vom 7./11. Dezember 2000 zuzusprechen, weshalb sie zur Anfechtung des Verfahrensentscheides legitimiert ist. Da auch alle übrigen Prozessvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
(...)

2. a) Die Verfahrenssistierung ist im VRG nicht geregelt. Dennoch kommt sie in der Praxis vor und ist im Rahmen der Verfahrensleitung als Rechtsinstitut allgemein anerkannt. Die Sistierung wird in der Regel auf Gesuch einer verfahrensbeteiligten Person angeordnet, doch kann sie auch durch die mit dem Verfahren befasste Behörde selbst verfügt werden. Die Sistierung ist sinnvoll, sobald der Entscheid einer Verwaltungs- oder Verwaltungsrechtspflegeinstanz von einem anderen Entscheid oder Urteil abhängt oder im Wesentlichen beeinflusst wird. Dies gilt etwa für den Fall, dass der Ausgang eines anderen Verfahrens für das interessierende Verfahren von präjudizieller Bedeutung ist (BGE 123 II 3, 122 II 217). Eine Sistierung rechtfertigt sich auch, wenn in einem anderen Verfahren über Sachumstände oder rechtliche Voraussetzungen entschieden wird, die für den Ausgang des in Frage stehenden Verfahrens von massgebender Bedeutung sind (Kölz/Bosshart/Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, Vorbemerkungen zu §§ 4 - 31 N. 28 ff.).

b) Die Vorinstanz begründet ihren Entscheid im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführerin die ihr gegenüber erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe bestreite, weshalb allein schon aus prozessökonomischen Gründen auf das Ergebnis des Strafverfahrens abzustellen sei, welches aber erst nach rechtskräftigem Abschluss definitiv feststehe. Weiter führt die Vorinstanz aus, dass es angesichts der Sachlage sowie der konkreten Anhaltspunkte, welche für eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls sprechen, jedenfalls als zumutbar erscheine, erst nach Vorliegen eines Strafurteils über die Beschwerde gegen den Obhutsentzug zu entscheiden.
Dem hält die Beschwerdeführerin entgegen, dass die ihr vorgeworfenen strafrechtlichen Tatbestände nicht zutreffen würden. Vielmehr sei sie eine fürsorgliche Mutter, welche ihre Tochter sehr in Massen züchtige. Dies werde auch durch den Brief von Dr. med. M bestätigt. Da das Strafverfahren bis zu seinem endgültigen Abschluss mehrere Jahre dauern könne, bestehe die erhebliche Gefahr, dass die Kinder von ihrer leiblichen Mutter entfremdet würden. Beantragt werde im Übrigen auch die Befragung der direkt betroffenen Angelika, welche urteilsfähig sei und somit selbst entscheiden könne, ob sie bei der Beschwerdeführerin bleiben wolle oder nicht.

c) Die Frage, ob das Beschwerdeverfahren gegen den durch die Vormundschaftsbehörde Romanshorn verfügten Entzug der elterlichen Obhut sistiert werden soll, hängt im Wesentlichen davon ab, ob die Sistierung aus prozessökonomischen Gründen Sinn macht. Dies ist jedoch nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes nicht der Fall. Im Strafverfahren ist zu prüfen, ob objektive und subjektive Straftatbestände erfüllt wurden und für den Fall, dass dies bejaht wird, ob die übrigen Voraussetzungen für eine Bestrafung erfüllt sind. Das Verfahren wird unter rein strafprozessualen Verfahrensgrundsätzen abgewickelt und eine Bestrafung erfolgt streng nach dem Strafrecht. Grundsätzlich stehen sich lediglich die Interessen des Angeklagten und des Staates gegenüber. Anders verhält es sich im Verfahren mit Bezug auf den Entzug der elterlichen Obhut. Hier muss immer an allererster Stelle das Wohl der betroffenen Kinder stehen. Dieses ist dann gegen dasjenige des obhutsberechtigten Elternteils abzuwägen. Würde man das Ende des Strafprozesses abwarten, so bestünde die Gefahr, dass allenfalls wegen des Grundsatzes in dubio pro reo ein Freispruch erreicht würde, wobei es durchaus denkbar ist, dass die entscheidende Gerichtsinstanz nicht einmal eine Urteilsbegründung vorlegt. Unter diesen Umständen würde mit dem Zuwarten bis zum Abschluss des Strafverfahrens nichts gewonnen. Sowohl das Interesse des Kindes als auch dasjenige des betroffenen Elternteils erfordern es jedoch, dass über den Obhutsentzug sobald als möglich endgültig entschieden wird. Dies ist dann der Fall, wenn von Seiten der entscheidenden Instanz sämtliche notwendigen Akten eingeholt und allfällige Beweisergänzungsmassnahmen abgeschlossen sind. Letztlich darf auch nicht vergessen werden, dass die Verwaltungsbehörde an den Entscheid des Strafrichters nicht gebunden ist, sondern primär das Kindeswohl – selbst im Falle eines Freispruches – zu beachten hat.
Im Sinne der Untersuchungsmaxime erscheint es jedoch sinnvoll, dass über den Entzug der elterlichen Obhut erst nach Einholung eines kinderpsychiatrischen Gutachtens entschieden wird. Die Einholung eines solchen Gutachtens ist denn auch von der Vorinstanz bereits angeordnet worden. Dementsprechend kann das Verfahren sistiert bleiben, bis das Gutachten vorliegt. Nach Vorliegen des Gutachtens ist jedoch umgehend über den Entzug der elterlichen Obhut zu entscheiden.

Entscheid vom 28. Februar 2001

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