TVR 2002 Nr. 14
Vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht
1. Schüler werden verwaltungsrechtlich als Anstaltsbenützer betrachtet und sind deshalb gehalten, die Anordnungen der Lehrer und Behörden zu befolgen.
2. Kümmert sich ein Schüler im neunten Schuljahr einen Deut um Weisungen oder stört er einen geordneten Schulbetrieb massiv und hält auch Ultimaten nicht ein, so kann letztlich eine vorzeitige Entlassung verfügt werden. Nötigenfalls können Ersatzmassnahmen unterbleiben, wenn solche bis zum Schulende nicht mehr zum Tragen kommen.
Das Ehepaar S hat vier Kinder: Massimo, geboren 21. Januar 1987, Sandro, geboren 7. Juni 1989, Piero, geboren 11. Dezember 1990 und Alessandro, geboren 13. August 1993 (alle Vornamen geändert). Sandro hält sich zurzeit bei seinen Grosseltern in Italien auf.
Als Massimo in der 4. Klasse war, musste er aufgrund immer schlechterer Leistungen in die dritte Klasse zurückversetzt werden. Im Jahr darauf trat er wieder in die Mittelstufe ein. In den Lehrerberichten über die 4. bis 6. Klasse ist von zu spät zur Schule kommen, Schuldenmacherei, kleineren Diebstählen und zunehmend schlechten Leistungen die Rede.
Am 25. Januar 2001 beklagte sich die Primarschulbehörde aufgrund eines Berichtes des pädagogischen Konvents gegenüber der Vormundschaftsbehörde, die drei Söhne des Ehepaares S böten in der Schule enorme Probleme. So seien sie unpünktlich, störten den Unterricht, böten unkonstante Leistungen, seien überfordert und legten ein unannehmbares Sozialverhalten an den Tag (Störung von Pausenspielen, Schlägereien, Entwendungen, zu später Stunde auf der Strasse, Rauchen, Schulden machen). Die Mängel an den persönlichen Strukturen der Knaben seien auf die familiäre Situation zurückzuführen. Es bestehe dringender Handlungsbedarf.
Im August 2001 trat Massimo in die 1. Realklasse ein. Bereits nach 8 Wochen Unterricht berichtete der Lehrer, dass Massimo sich ungenügend konzentriere, regelmässig die Hausaufgaben nicht löse, ihn des öfteren anlüge und schon sechs Mal dem Unterricht unentschuldigt ferngeblieben sei. In diesem Lehrerbericht zuhanden der Oberstufenbehörde heisst es weiter, die Mutter habe nach eigenen Angaben die Kontrolle über Massimo völlig verloren; dieser halte sich auch zu Hause an keine Anordnung. Auch sie (die Eltern) wünschten sich, dass für Massimo so schnell als möglich eine Lösung gefunden werde. Sie würden ihn in ein geschlossenes Internat schicken (ohne Wochenendurlaub), um ihn dem Einfluss seiner Kollegen auf der Strasse zu entziehen. Als Lehrer einer 20-köpfigen Klasse sei er nicht mehr bereit, einen sinnlosen Aufwand mit Massimo zu betreiben. Er beantrage eine möglichst schnelle Anordnung einer Dispensation Massimos vom Schulplatz. Die Oberstufenbehörde liess diesen Bericht der Vormundschaftsbehörde zukommen und bat dringend, Massnahmen einzuleiten, da die Eltern nicht mehr in der Lage seien, angemessen für ihren Sohn zu sorgen. Das Wohl Massimos sei massiv gefährdet.
Die Vormundschaftsbehörde ermahnte hierauf die Eltern mit Schreiben vom 26. Oktober 2001 förmlich, ansonsten sie gezwungen sei, vormundschaftliche Massnahmen zu ergreifen, wie beispielsweise Errichtung einer Beistandschaft, Entzug der elterlichen Obhut oder Sorge, verbunden mit einer Fremdplatzierung. Schliesslich habe sie (die Vormundschaftsbehörde) dem Kinder- und Jugendpsychologischen Dienst des Kantons Thurgau (KJPD) den Auftrag für einen Abklärungsbericht über die familiäre Situation und die Hintergründe der auffälligen Verhaltensweisen der Kinder erteilt.
Am 9. November 2001 hielt die Oberstufenbehörde gegenüber den Eltern fest, verschiedene Vorkommnisse seit den Herbstferien zeigten, dass Massimo nicht gewillt sei, seine Haltung und sein Benehmen gegenüber der Schule als Institution sowie auch gegenüber den Lehrkräften zu ändern. Er sei unzumutbar geworden, weshalb er sofort vom Unterricht dispensiert werde. Es sei Massimo untersagt, während der Schulzeit das Areal der Oberstufenbehörde zu betreten. Die Oberstufenbehörde zog alsdann das Schulinspektorat des Kantons bei, worauf am 15. November 2002 eine Aussprache mit den Eltern und Massimo stattfand. In der Woche vom 19. bis 23. November 2001 hatte Massimo einen Arbeitseinsatz zu leisten und ab 26. November 2001 war der Schuldispens wieder aufgehoben. Am 4. Dezember 2001 kam es zu einer weiteren Besprechung der Schulbehörde und des Klassenlehrers mit den Eltern und Massimo. Dabei wurde erklärt, Massimo erhalte eine letzte Chance.
Am 14. Dezember 2001 wurde zusammenfassend festgehalten, Massimo habe trotz Vereinbarung in 14 Fällen die Hausaufgaben nicht gemacht und sei einmal 35 Minuten zu spät zum Unterricht erschienen. Am 20. Dezember 2001 fasste die Oberstufenbehörde den Beschluss, es werde Antrag auf vorzeitige Entlassung von Massimo aus der Schulpflicht gestellt. Mit Entscheid vom 11. Februar 2002 verfügte das DEK die vorzeitige Entlassung Massimos aus der Schulpflicht. Alle bisherigen Massnahmen hätten versagt, so dass eine Entlassung Massimos im Interesse der Mitschüler und der Lehrkräfte angezeigt sei. Mit Eingabe vom 15. Februar 2002 erhoben die Eheleute S Beschwerde gegen die vom DEK ausgesprochene vorzeitige Entlassung von Massimo. Das Verwaltungsgericht weist ab.
Aus den Erwägungen:
2. a) Nach Art. 19 BV ist der Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht gewährleistet. Diese Bestimmung deckt sich weitgehend mit der bisherigen Verfassungsbestimmung (Art. 27 Abs. 2 aBV), so dass die entsprechende Lehre und Praxis beigezogen werden können. Der Grundschulunterricht bezweckt, dass jeder Schüler die ihm gerechte bestmögliche Schulbildung erhält (§ 2 Abs. 1 UG). Diese dauert neun Jahre (§ 26 UG) und ist obligatorisch (§ 70 Abs. 2 KV). Daraus lässt sich umgekehrt gewissermassen ein Anspruch auf Volksschulbildung ableiten (vgl. Stähelin, Wegweiser durch die Thurgauer Verfassung, Frauenfeld 1991, § 70 N. 3). Dem Grundschulunterricht entspricht im Kanton Thurgau die Volksschule, wozu die Primarschulen, die Sekundar- und Realschulen unter Einbezug der Förderkurse, Einschulungs- und Sonderklassen sowie die Sonderschulen gehören (Stähelin, a.a.O., § 70 N. 4; § 9 Abs. 1 lit. a UG).
b) Die (obligatorische) Schulpflicht beträgt – wie gesagt – neun Jahre. Wenn triftige Gründe vorliegen, kann das Departement nach Anhören der Schulbehörde die vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht bewilligen (§ 27 UG). Die vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht bedeutet gewissermassen vorzeitige Beendigung der Unterrichtung eines Schülers. Dazu müssen triftige Gründe vorliegen; solche sind gegeben, wenn ein weiterer Schulbesuch sinnlos und die Unterbringung in einem Heim nicht möglich oder nicht angebracht ist. Ohne Ersatzmassnahme wird sie in der Regel höchstens ein Jahr vor Ende der Schulpflicht bewilligt werden können (vgl. Plotke, Schweizerisches Schulrecht, Bern 1979, S. 149). Broghi (in Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung, Basel/Zürich/Bern, 1988) hält einen Schulausschluss mit Art. 27 Abs. 2 aBV sogar als unvereinbar (Rz 48). Hier geht es um einen Schulausschluss eines Schülers im neunten und damit letzten obligatorischen Schuljahr.
c) Schülerinnen und Schüler sind verwaltungsrechtlich als Anstaltsbenützer zu betrachten. Sie stehen in einem besonderen Rechtsverhältnis (Sonderstatusverhältnis) zum Gemeinwesen. Sie sind gehalten, die Anordnungen der Schulbehörde und der Lehrerschaft zu befolgen und sich anständig zu verhalten. Sie haben alles zu unterlassen, was sie selber, ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sowie Drittpersonen körperlich oder seelisch gefährden oder was Sachen beschädigen könnte (vgl. ZBl 1997 S. 544).
aa) Lehrkräfte können Schüler disziplinarisch bestrafen, insbesondere bei Verstössen gegen die Schulordnung, bei unbotmässigem Verhalten gegen Mensch und Tier sowie bei Sachbeschädigungen (§ 21 Abs. 1 VKG). Bei schwerwiegenden Disziplinarverstössen kann die Schulbehörde einen Schüler vorübergehend von der Schule wegweisen (§ 21 Abs. 2 Ziff. 3 VKG).
bb) Aus wichtigen Gründen kann das Schulinspektorat ein Kind einer anderen Abteilung oder einem anderen Schulort zuteilen (§ 87 VKG).
cc) Wenn – wie gesagt – triftige Gründe vorliegen, kann das DEK nach Anhören der Schulbehörde die vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht bewilligen (§ 27 UG). Das Verwaltungsgericht hat sich hierzu in TVR 2000 Nr. 17 in grundsätzlicher Art geäussert, allerdings wich jener Sachverhalt vom hier zu beurteilenden Fall recht weit ab. Es kam bei einem 13-jährigen Sechstklässler zum Schluss, dass eine vorzeitige Entlassung nicht in Frage komme, hingegen sei ein vorübergehender Schulausschluss gerechtfertigt. Allerdings müsse so schnell als möglich eine parallele Begutachtung stattfinden, um über eine ins Auge gefasste Sonderschulung entscheiden zu können.
d) Wie im Sachverhalt dargestellt, ist der nun über 15-jährige Massimo in einer öffentlichen Schule alles andere als tragbar. Er hält sich gewissermassen mit Vorsatz nicht an die für einen geordneten Betrieb gültige Regelung, löst die Hausaufgaben nicht, kümmert sich einen «Deut» um Weisungen, auch scheint die Strasse sein Zuhause zu sein. Ultimaten lassen ihn kalt. Wer sich mit 15 Jahren so verhält, weiss offenbar nicht, um was es in der Schule beziehungsweise im Leben geht. Auch scheint es tatsächlich so, dass ihn die Eltern nicht im Griff haben.
Die Eltern selbst räumen ein, Massimo seien etliche Chancen angeboten worden, an die er sich aber nicht gehalten habe. All seine Taten und Untaten werden auch nicht im Geringsten in Frage gestellt. Es geht ihnen wohl vielmehr darum, dass er einen Schulabschluss erhält, damit er eine Lehre/Anlehre absolvieren kann.
Das (private) Interesse Massimos und der Eltern an einer nicht vorzeitigen Entlassung aus der Schulpflicht ist zweifellos erheblich. Auf der anderen Seite steht aber das öffentliche Interesse an einem geordneten Schulbetrieb, das hier klar das private Interesse überwiegt. Derartiges Verhalten darf nicht Massstab sein. Es bleibt damit danach zu fragen, ob allenfalls andere schulische Massnahmen Platz greifen müssten.
aa) Eine Versetzung in eine benachbarte Schule kommt nicht in Frage, denn Hausaufgaben fallen auch dort an; auch dort gelten Unterrichtszeiten und von seinen Kameraden auf der Strasse käme er wohl kaum weg.
bb) Angesichts der knapp drei Monate Schulzeit bis Ende der Schulpflicht dürften andere schulische Massnahmen auch kaum mehr greifen. Vielmehr ist mit aller Dringlichkeit nach anderen adäquaten Massnahmen zu suchen. Das aber haben die Eltern bisher unterlaufen, haben sie sich doch einer Prüfung der ganzen Situation durch den KJPD entzogen. Sie widersprechen sich auch dauernd, ohne dies zu realisieren.
Entscheid vom 10. April 2002