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TVR 2002 Nr. 44

Leistungsverweigerung bei Beteiligung an einem Bandenkrieg


Art. 37 Abs. 3 UVG, Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV


1. Für die Leistungskürzung oder -verweigerung nach Art. 37 Abs. 3 UVG ist nicht notwendigerweise erforderlich, dass der Versicherte den Unfall durch schuldhaftes Verhalten herbeigeführt hat. Massstab der Kürzung oder Verweigerung ist vielmehr die besondere Schwere des Falles. Beteiligung an einem Bandenkrieg mit Schusswechsel ist ein besonders schwerer Fall, der Leistungsverweigerung rechtfertigt.

2. Erforderlich ist nicht, dass der Unfall durch die Verbrechens- oder Vergehenshandlung selbst herbeigeführt wird, sondern nur bei (anlässlich/im Zusammenhang mit) der Ausübung des Verbrechens oder Vergehens.

3. Abgrenzung gegenüber Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV betreffend Rauferei und Schlägerei: Ein Bandenkrieg mit Messer, Hackbeil, Pistolen und Pumpaction fällt nicht darunter.


Mehrere Mitglieder der libanesischen Familien R und H waren in den Jahren 1998 auf einem Autohandelsplatz in Schlieren im Autohandel tätig. Die Rs gehören zu den Sunniten, die Hs zu den Drusen. Anfangs Januar 1998 kam es zu einer ersten verbalen Konfrontation zwischen einzelnen Angehörigen dieser Familien. Am Nachmittag des 6. Februar 1998 ergab sich erneut ein Wortwechsel mit Drohungen und Beschimpfungen, nämlich zwischen A R und B R einerseits und C H anderseits. Einige Stunden später kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen dem mit einem Besenstiel bewaffneten C H und D R sowie E R und weiteren Personen. C H war den übermächtigen Gegnern nicht gewachsen und blieb mit einer geringfügigen Stichwunde am Oberschenkel auf der Strecke. Nach diesem Vorfall beschloss C H, sich zu bewaffnen und begab sich deshalb übers Wochenende vom 7./8. Februar nach Italien, wo er sich eine Pumpaction erstand.
Trotz Vermittlungsbemühungen vorab durch schiitische Libanesen eskalierte der Streit am 9. Februar 1998 in weitere Tätlichkeiten. Dabei wurde F L erheblich am Kopf verletzt, was seine Einlieferung ins Limmatspital erforderte. Am früheren Nachmittag desselben Tages besuchten ihn A R, B R und D R sowie E R und weitere Angehörige der Familie R im Spital. Daraufhin entschlossen sich A R und D R, die dem Clanmitglied F L angetane Schmach auf andere Weise zu rächen. Gemeinsam fuhren die am Krankenbett versammelten Personen zum Autohandelsplatz, wo sich B R mit einem Messer und D R mit einem Hackbeil und einer geladenen Pistole ausrüsteten. Vorab gab E R aus einer Pistole zwei Schüsse durch das Türfenster auf den in seinem Bürocontainer weilenden L H ab. Dieser wurde getroffen, doch wurde das Geschoss dank Ausweisen im Innern der Lederjacke abgefangen, so dass er lediglich eine Hautrötung am Bauch erlitt. Der zweite Schuss verfehlte das Ziel. C H hörte die Schüsse, eilte herbei und zog seine Pumpaction unter seinem Mantel hervor. Kaum erblickte A R, der ein Messer in der Hand hielt, den herbeieilenden C H, rief er «Angriff», worauf D R mit dem Hackbeil in der Hand auf C H zustürmte. Praktisch gleichzeitig gab eine weitere Person einen Schuss aus der Pistole auf C H ab. Dieser richtete seine Pumpaction auf D R und gab einen Schuss aus der Hüfte auf ihn ab. Dieser fiel zu Boden und starb – am Hals getroffen – kurz darauf. Ein weiterer Schuss aus wenigen Metern traf A R am Kopf. Eine Bleischrotkugel traf auch den Kopf von E R. Beide schwebten längere Zeit in Lebensgefahr. Danach kam es noch zu einem Schusswechsel zwischen C H und B R. Keiner der beiden wurde getroffen.
C H wurde am 18. Januar 2001 durch das Obergericht des Kantons Zürich zu 7 Jahren Zuchthaus und 15 Jahren Landesverweis verurteilt. Das Bundesgericht bestätigte dieses Urteil auf Nichtigkeitsbeschwerde hin (Urteil vom 13. Juli 2001).
Gegen A R eröffnete die Bezirksanwaltschaft I für den Kanton Zürich eine Untersuchung wegen Raufhandel. Diese wurde jedoch mit Verfügung vom 12. Dezember 2000 eingestellt, und zwar in Anwendung von Art. 66bis StGB, weil A R durch die unmittelbaren Folgen seiner Tat so schwer betroffen worden sei, dass von einer Strafverfolgung abgesehen werde.
Mit Verfügung hielten die S-Versicherungen fest, es würden A R für die Folgen der Schussverletzungen vom 9. Februar 1998 weder Taggelder noch Rente noch Integritätsentschädigung zugesprochen. Der obligatorische Unfallversicherer stützte sich hierbei auf Art. 37 Abs. 3 UVG. Die dagegen erhobene Einsprache wiesen die S-Versicherungen ab.
A R erhebt beim Versicherungsgericht Beschwerde. Dieses weist ab.

Aus den Erwägungen:

2. a) Auszugehen ist von Art. 37 Abs. 3 UVG, der wie folgt lautet: «Hat der Versicherte den Unfall bei Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt, so können die Geldleistungen gekürzt oder in besonders schweren Fällen verweigert werden. Hat der Versicherte im Zeitpunkt des Unfalles für Angehörige zu sorgen, denen bei seinem Tode Hinterlassenenrenten zustünden, oder stirbt er an den Unfallfolgen, so werden Geldleistungen höchstens um die Hälfte gekürzt.»
Der Begriff des Verbrechens/Vergehens bestimmt sich nach Art. 9 StGB. Danach sind Verbrechen die mit Zuchthaus bedrohten Handlungen und Vergehen die mit Gefängnis als Höchststrafe bedrohten Handlungen.
Ob Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV, der Folgendes bestimmt, zur Anwendung kommt, ist zu prüfen:
«Die Geldleistungen werden mindestens um die Hälfte gekürzt für Nichtberufsunfälle, die sich ereignen bei Beteiligung an Raufereien und Schlägereien, es sei denn, der Versicherte sei als Unbeteiligter oder bei Hilfeleistung für einen Wehrlosen durch die Streitenden verletzt worden;...»

b) Die S beruft sich auf Art. 133 StGB, wonach mit Gefängnis oder Busse bestraft wird, wer sich an einem Raufhandel beteiligt, der den Tod oder eine Körperverletzung eines Beteiligten zur Folge hat, sofern er nicht bloss abwehrt oder die Streitenden scheidet. Nicht massgebend sei, welcher der Beteiligten die Körperverletzung oder den Tod verursacht habe, da es sich dabei um eine blosse objektive Strafbarkeitsbedingung handle. Allerdings müsse dabei jede Seite aktiv am Streit beteiligt sein. Dass sich der Beschwerdeführer aktiv am Raufhandel beteiligt habe, stehe ausser Zweifel, sei er doch mit einem Messer bewaffnet und keineswegs unbeteiligt gewesen. Er habe sich aufgrund der Vorgeschichte vorsätzlich am Raufhandel beteiligt. Es handle sich keineswegs um einen Berufsunfall im Sinne von Art. 7 Abs. 1 i.V. mit Art. 8 UVG. Es liege ein besonders schwerer Fall im Sinne von Art. 37 Abs. 3 UVG vor, habe es sich doch nicht um ein einfaches Handgemenge gehandelt. Der Beschwerdeführer sei keineswegs nur Mitläufer gewesen, sondern gar Entscheidträger. Schon die erste verbale Konfrontation sei von ihm ausgegangen. Der Versicherte sei im Zeitpunkt des Raufhandels verheiratet aber kinderlos gewesen. Der Ehefrau stünden keine Rentenleistungen zu. Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV komme nicht als lex specialis zur Anwendung, da es sich nicht um eine Rauferei oder Schlägerei gehandelt habe. Diese seien zwar mit dem Straftatbestand des Raufhandels verwandt, doch sei der Raufhandel enger gefasst.
Der Beschwerdeführer hält dafür, es liege kein besonders schwerer Fall vor, sei doch gegen ihn nur wegen Beteiligung am Raufhandel, nicht aber wegen eines Tötungsdelikts ermittelt worden. Nicht er habe eine Feuerwaffe besessen und nicht er habe das Feuer eröffnet. Er sei nicht die treibende Kraft oder gar der Rädelsführer gewesen, vielmehr in blosser Schutzwehr gestanden. Er sei höchstens Mitläufer gewesen. Er habe lediglich die Absicht gehabt, zu seiner Arbeitsstelle zu gehen, weshalb es sich eindeutig um einen Berufsunfall handle. Nur sein Verschulden sei massgebend. Dieses sei auch nicht durch ein Gerichtsurteil rechtskräftig festgelegt. Auch habe er nichts von der Bewaffnung eines Mitglieds der Familie R gewusst. Er sei zu Fuss auf den Autoabstellplatz gegangen und sei – so betrachtet – unverschuldet in die Schiesserei hineingeraten. Von einem besonders schweren Verschulden könne nicht gesprochen werden. Die vorliegende Beteiligung des Beschwerdeführers falle unter den Tatbestand der Beteiligung an einer Rauferei, weshalb sich höchstens eine Kürzung der Geldleistungen um 50% rechtfertige, keineswegs aber eine Leistungsverweigerung.

c) Als Berufsunfälle gelten Unfälle, die dem Versicherten bei Arbeiten zustossen, die er auf Anordnung des Arbeitgebers oder in dessen Interesse ausführt (Art. 7 Abs. 1 lit. a UVG) oder während der Arbeitspause sowie vor und nach der Arbeit, wenn er sich befugterweise auf der Arbeitsstätte oder im Bereiche der mit seiner beruflichen Tätigkeit zusammenhängenden Gefahren aufhält (Art. 7 Abs. 1 lit. b UVG).
Der Beschwerdeführer glaubt wohl selbst nicht, dass es sich um einen Berufsunfall gehandelt habe. Zwar mag der Tatort in der Nähe seines Arbeitsplatzes gewesen sein, doch war die «Arbeit» (nämlich der Bandenkrieg) keineswegs durch den Arbeitgeber angeordnet oder in dessen Interesse. Auch stand dieser Bandenkrieg auf der Arbeitsstätte nach schweizerischem Massstab nicht mit einer seiner beruflichen Tätigkeit in Zusammenhang stehenden Gefahr.

d) Zutreffend ist, dass gegen den Beschwerdeführer nur wegen Raufhandels ermittelt wurde, nicht aber wegen Beteiligung an einem Tötungsdelikt. Das aber ist nicht entscheidend. Für die Frage einer Leistungskürzung/-verweigerung ist entscheidend, ob der Versicherte den Unfall bei Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt hat. Art. 37 Abs. 3 UVG bezieht sich nicht nur auf ganz bestimmte Verbrechen oder Vergehen, sondern vielmehr auf alle. Entscheidend ist ebenso nicht, ob der Versicherte aufgrund der «Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens» auch zu einer Strafe verurteilt worden ist. Damit ist gleichzeitig ausgesagt, dass es nicht auf das Verschulden im Rechtssinne ankommt.
Art. 37 Abs. 3 UVG verlangt nicht, dass der Unfall durch die Verbrechens- oder Vergehenshandlung selbst herbeigeführt wird, sondern nur – aber immerhin – bei (anlässlich/im Zusammenhang mit) der Ausübung des Verbrechens oder Vergehens. Damit wird der Kreis der zurechenbaren Folgen etwas erweitert, ohne dass das Adäquanzprinzip aufgegeben würde. Solange sich der Täter im Gefahrenbereich des Verbrechens oder Vergehens befindet, sind Leistungskürzungen/-verweigerungen zulässig (Rumo-Jungo, Die Leistungskürzung oder Verweigerung gemäss Art. 37-39 UVG, Fribourg 1993, S. 190 ff.).
Der Sozialversicherungsrichter ist bei der Würdigung einer Leistungskürzung oder -verweigerung nicht an den Entscheid des Strafrichters gebunden (vgl. BGE 105 V 217). Im vorliegenden Fall ist das Verfahren gegen den Beschwerdeführer eingestellt worden, ohne dass gesagt worden ist, der Straftatbestand des Raufhandels sei erfüllt. Es unterblieben vielmehr weitere Untersuchungen über seinen Tatbeitrag am Raufhandel. Mit dem im Sozialversicherungsrecht notwendigen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist der Raufhandel jedoch durch die genaue Umschreibung des Sachverhalts im Urteil des Obergerichts in Sachen C H sowie durch dessen Bestätigung durch das Bundesgericht genügend erhärtet.

e) Für die Leistungskürzung oder -verweigerung nach Art. 37 Abs. 3 UVG ist – wie gesagt – nicht notwendigerweise erforderlich, dass der Versicherte den Unfall durch schuldhaftes Verhalten herbeigeführt hat. Folglich ist nicht das Verschulden der Massstab für Leistungskürzungen oder -verweigerungen, sondern die «Schwere des Falles».
Aufgrund der Akten steht fest, dass der Beschwerdeführer, ausgerüstet mit einem Messer, zusammen mit sechs bis sieben Mitgliedern der R einen eigentlichen Angriff auf den Bürocontainer der H unternahm, nachdem der Clan im Spital einen Rachefeldzug beschlossen hatte. Die ersten Schüsse wurden denn auch von einem Mitglied der R abgegeben. Gegen seine Darstellung als blosser Mitläufer spricht die Feststellung im Urteil des Zürcher Obergerichts, wonach A R in vorderster Front stehend, nachdem er C H erblickt hatte, «Angriff» rief. D R ging rennend, das Hackbeil in der Hand, aus dem gedeckten Zwischenstand hervor und ihm folgte A R. Danach erschoss C H D R, wobei ihm das Obergericht grundsätzlich eine Notwehrsituation zubilligte, primär wegen des auf ihn zueilenden D R, ebenso aber wegen des ebenfalls auf ihn zueilenden A R, der das Messer in der Hand hatte. Das Obergericht hatte aufgrund der Akten den Eindruck, A R und D R seien «Heisssporne», welche die F L zugefügten Verletzungen rächen wollten. Für beide Seiten sei klar gewesen, dass es zum «Showdown» kommen werde. Von einem «Mitläufer» oder in «blosser Schutzwehr stehenden» Versicherten kann mithin nicht gesprochen werden. Das Bundesgericht hat keine Korrekturen an diesem Urteil vorgenommen.

f) Aufgrund der Akten steht somit fest, dass der Beschwerdeführer massgeblich und nach entsprechender Vorbereitung mit Absicht an diesem Bandenkrieg beteiligt war. Damit liegt eindeutig ein «besonders schwerer Fall» im Sinne von Art. 37 Abs. 3 UVG vor, womit mit anderen Worten die Leistungsverweigerung zu Recht ausgesprochen wurde.
Dem steht Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV nicht entgegen. Erstens ist bereits dargelegt worden, dass es nicht um einen Berufsunfall ging. Zweitens lässt diese Bestimmung ohne weiteres auch eine über die Hälfte hinausgehende Kürzung, und zwar bis zur Leistungsverweigerung, zu (dort steht «mindestens» und nicht «höchstens»). Drittens ist eine Rauferei etwas ganz anderes als das, was am 9. Februar 1998 auf dem Autohandelsplatz abgelaufen ist. Selbst das Bundesgericht spricht von Bandenkrieg. Deutlicher könnte es nicht sein. Unter Rauferei und Schlägerei verstehen Lehre und Rechtsprechung gewaltsame Auseinandersetzungen, bei welchen sich die Beteiligten raufen oder bei welchen Schläge ausgeteilt werden (Rumo-Jungo, a.a.O., S. 263). Ein geplanter Angriff mit Messer, Hackbeil, Pistolen und Pumpactions gehört klar nicht dazu.

Entscheid vom 20. November 2002

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