TVR 2003 Nr. 42
Annahme der charakterlichen Nichteignung bei schwerem Verschulden und verantwortungslosem Verhalten nach erstmaliger Verkehrsregelverletzung
Eine einmalige Verkehrsregelverletzung kann selbst bei schwerem Verschulden und einem verantwortungslosen Verhalten in aller Regel die Annahme einer charakterlichen Nichteignung für sich allein nicht begründen. Es müssen hinreichend begründete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Führer auch in Zukunft rücksichtslos fahren wird.
Mit Verfügung vom 9. Mai 2003 entzog das Strassenverkehrsamt D den Führerausweis mit Wirkung ab 4. Dezember 2002 auf unbestimmte Zeit. Am 5. Oktober 2000 hatte er in Wülflingen wegen übersetzter Geschwindigkeit und mangelhafter Bereifung seines Personenwagens einen Unfall verursacht. Die Fahrweise sowie der Umstand, dass D zum Zeitpunkt des Ereignisses gerade vier Monate im Besitz des Führerausweises war, hätten – so heisst es in der Verfügung – Zweifel an seiner charakterlichen Eignung als Motorfahrzeugführer aufkommen lassen. Das eingeholte verkehrspsychologische Gutachten komme zum Schluss, dass eine Verhaltensänderung höchstens eingeleitet, aber noch nicht vollzogen und auch noch nicht stabil sei. Die Fahreignung könne darum nicht bejaht werden. Vor einer erneuten verkehrspsychologischen Kontrolle habe D eine psychologische Beratung von 10 bis 12 Stunden zu absolvieren und einen entsprechenden Bericht einzureichen. Nach einem positiven Gutachten des Verkehrspsychologen könne eine Wiederzulassung zum motorisierten Strassenverkehr nur durch Bestehen einer neuen Führerprüfung erfolgen.
Mit Eingabe vom 2. Juni 2003 erhob D Rekurs und beantragte, die Verfügung des Strassenverkehrsamtes sei aufzuheben und stattdessen sei ein Warnungsentzug von höchstens sechs Monaten auszusprechen. Auf die Anordnung einer psychologischen Beratung sei ebenso zu verzichten wie auf ein erneutes verkehrspsychologisches Gutachten und eine neue, vollständige Führerprüfung. Das verkehrspsychologische Gutachten enthalte keine klaren und eindeutigen Merkmale, die auf einen verwerflichen Charakter von D hindeuteten. Der Sicherungsentzug aus charakterlichen Gründen sei für Mehrfachtäter vorgesehen, welche sich auch nach einer Warnung nicht geändert und den Verkehr erneut gefährdet hätten.
Aus den Erwägungen:
2. Der Führerausweis ist zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG). Sicherungsentzüge dienen der Sicherung des Verkehrs vor ungeeigneten Führern (Art. 30 Abs. 1 VZV). Der Ausweis wird auf unbestimmte Zeit entzogen, unter anderem wenn der Führer aus charakterlichen oder anderen Gründen nicht geeignet ist, ein Motorfahrzeug zu führen (...). Nach Art. 14 Abs. 2 lit. d SVG darf der Führerausweis nicht erteilt werden, wenn der Bewerber aufgrund seines bisherigen Verhaltens nicht Gewähr bietet, dass er als Motorfahrzeugführer die Vorschriften beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen wird. Anzeichen dafür bestehen, wenn Charaktermerkmale des Betroffenen, die für die Eignung im Verkehr erheblich sind, darauf hindeuten, dass er als Lenker eine Gefahr für den Verkehr darstellt (BGE 104 Ib 95 E. 1). Beim Entscheid über den Erlass eines Sicherungsentzuges aus charakterlichen Gründen ist eine Prognose darüber anzustellen, wie stark der betroffene Automobilist von der Gefahr betroffen ist, erneut Verkehrsregeln zu missachten. Die Behörden dürfen gestützt hierauf den Ausweis verweigern oder entziehen, wenn hinreichend begründete Anhaltspunkte vorliegen, dass der Führer rücksichtslos fahren wird (vgl. Botschaft vom 24. Juni 1955 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über den Strassenverkehr, BBl 1955 II S. 21 ff.). Die Frage ist anhand der Vorkommnisse (unter anderem Art und Zahl der begangenen Verkehrsdelikte) und der persönlichen Umstände zu beurteilen; in Zweifelsfällen ist ein verkehrspsychologisches oder psychiatrisches Gutachten gemäss Art. 9 Abs. 1 VZV anzuordnen (BGE 125 II 495 E. 2A).
3. Der Rekurrent fuhr am 5. Oktober 2002 zusammen mit fünf Beifahrern mit dem ihm und seinem Vater gehörenden Personenwagen auf der Wülflingerstrasse von Embrach Richtung Winterthur, obwohl ihm bewusst war, dass dessen Bereifung den Vorschriften nicht mehr entsprach. Beim sogenannten «Stüdlirank» geriet er «infolge massiv übersetzter, nicht mehr genau bestimmbarer, krass unangepasster Geschwindigkeit» (Strafbefehl der Bezirksanwaltschaft Winterthur vom 15. April 2003, S. 3) ins Schleudern und verlor die Herrschaft über sein Fahrzeug. Er überquerte danach die Mittellinie und fuhr auf einer Distanz von rund 100 m auf der Gegenfahrbahn. Bei der Linkskurve Höhe Wülflingerstrasse 399 geriet er mit seinem Personenwagen weiter ins Schleudern, wobei das Fahrzeug sich um 180 Grad drehte, auf den rechten Strassenrand zu rutschte, zuerst eine Gartenmauer touchierte, dann einen Hydranten und einen Maschendrahtzaun umriss, so dass der Personenwagen durch die Wucht des Aufpralls angehoben wurde und sich überschlug. Infolge dieses Unfalles erlitt eine Mitfahrerin schwere Verletzungen; drei Mitfahrer wurden leicht verletzt. (...) Es ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die charakterliche Eignung des Rekurrenten in Zweifel zog und eine verkehrspsychologische Begutachtung veranlasste. Allerdings kann eine einmalige Verkehrsregelverletzung eines Automobilisten – selbst bei schwerem Verschulden und einem offensichtlich verantwortungslosen Verhalten – in aller Regel die Annahme einer charakterlichen Ungeeignetheit als Fahrzeuglenker für sich allein nicht begründen. Es bedarf entweder eines mehrfachen Verstosses gegen Verkehrsregeln trotz vorgängiger erzieherischer Massnahmen (z.B. Warnungsentzüge), damit die Voraussetzungen für den Erlass eines Sicherungsentzuges aus charakterlichen Gründen erfüllt sind. Eine charakterliche Nichteignung liesse sich bei bloss einmaliger Nr. 42 190 Verkehrsregelverletzung allenfalls dann begründen, wenn Verhalten oder Aussagen des Betroffenen im Rahmen des Strafverfahrens oder einer verkehrspsychologischen Begutachtung die klare Prognose zuliessen, er sei aufgrund charakterlicher Mängel nicht gewillt oder in der Lage, auf künftige Verstösse gegen elementare Verkehrsregeln zu verzichten. Aufgrund der Strafuntersuchungsakten sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dem Rekurrentenaufgrund seiner Äusserungen zum Unfallhergang eine schlechte Prognose bezüglich künftigen Verkehrsregelverletzungen gestellt werden müsste. Die Vorinstanz stützt die von ihr angenommene charakterliche Nichteignung denn auch vorwiegend auf das verkehrspsychologische Eignungsgutachten vom 5. Mai 2003. Der Gutachter stellt allerdings nach Meinung der Rekurskommission für Strassenverkehrssachen beim Rekurrenten keine derart erheblichen charakterlichen Defizite fest, dass ihm die Fahreignung einzig aufgrund seines erstmaligen Fehlverhaltens vom 5. Oktober 2002 abgesprochen werden müsste. So stellt der Gutachter zwar aus verkehrspsychologischer Sicht auf verschiedenen Ebenen zum Teil widersprüchliche Darstellungen des Rekurrenten fest: «Dies betrifft einerseits das sehr zuvorkommende freundliche Verhalten in der Untersuchung, wo er versucht einen guten Eindruck zu geben. Andererseits zeigt er zum Teil ein vorschnelles Handeln und ein aussergewöhnliches Drängeln, wenn es um das Fertigstellen des Berichtes geht. Ebenfalls nicht kongruent sind die Aussagen vom Protokoll bezüglich dem Wissen um die abgelaufenen Pneus sowie den Angaben in der Untersuchung. Ein Widerspruch ergibt sich auch in der Bewertung des Selbstwertgefühls und der des persönlichen Wohlbefindens im Zusammenhang mit der Beurteilung der Unterstützung und Geborgenheit durch andere. Eine gewisse Ambivalenz ist ebenfalls in der Beurteilung des Verhaltens am Arbeitsplatz im Verhältnis zum Verhalten beim letzten Unfall zu beobachten. D macht einen Unterschied zwischen dem Verhalten im Beruf und in der Beurteilung der Risikobereitschaft oder bei der Rücksichtnahme auf andere im Strassenverkehr.»
Allein diese widersprüchlichen Darstellungen des Rekurrenten lassen es für die Rekursinstanz nicht als nachvollziehbar erscheinen, ihm eine charakterliche Eignung als Motorfahrzeugführer abzusprechen. Die vom Gutachter festgestellten Defizite sind zu wenig schwerwiegend und zu wenig konkret, als dass davon ausgegangen werden müsste, der Rekurrent biete nach seinem erstmaligen und bisher einzigen Fehlverhalten keine Gewähr, dass er als Motorfahrzeugführer die Vorschriften beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen würde. Es genügt nach Ansicht der Rekurskommission für Strassenverkehrssachen, dem Rekurrenten einen seinem schweren Verschulden angemessenen Warnungsentzug aufzuerlegen und ihn mit dieser verkehrserzieherischen Massnahme zu künftigem Wohlverhalten zu bewegen. Es sind keine derart schwerwiegenden Charaktermängel nachgewiesen, als dass vom Rekurrenten nicht erwartet werden kann, dass er aus dem Vorfall vom 5. Oktober 2002 seine Lehren zieht und sich künftig an die Verkehrsregeln halten wird. Der von der Vorinstanz verfügte Sicherungsentzug lässt sich somit nicht aufrecht erhalten und ist in einen Warnungsentzug umzuwandeln.
4. Die Dauer des Führerausweisentzuges richtet sich gemäss Art. 17 Abs. 1 SVG nach den Umständen und ist vor allem nach der Schwere des Verschuldens, dem Leumund als Motorfahrzeugführer sowie der beruflichen Notwendigkeit, ein Fahrzeug zu führen, zu bemessen (Art. 33 Abs. 2 VZV).
Auch der Rekurrent bestreitet nicht, dass aufgrund des schweren Verschuldens vorliegend eine deutlich über dem gesetzlichen Minimum von einem Monat liegende Entzugsdauer verfügt werden muss. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dem bislang ungetrübten automobilistischen Leumund des Rekurrenten aufgrund dessen jugendlichen Alters noch keine wesentliche Bedeutung zukommen kann und die geltend gemachte berufliche Angewiesenheit auf die Benützung des Motorfahrzeuges in keiner Weise belegt ist, erscheint eine Entzugsdauer von sechs Monaten als angemessene Massnahme.
Entscheid vom 18. August 2003