TVR 2004 Nr. 1
Anspruch auf unentgeltlichen Schülertransport
Art. 19 BV, Art. 62 Abs. 2 BV, § 34 UG
Ob ein Schulweg für einen Schüler zumutbar ist, beurteilt sich nach der Länge, der zu überwindenden Höhendifferenz, der Beschaffenheit des Weges und den damit verbundenen Gefahren sowie nach Alter der betroffenen Kinder. Oberstufenschülern ist der Schulweg Dettighofen-Hüttwilen (8 km) im Sommer täglich ein Mal, im Winter überhaupt nicht zumutbar.
Mit Schreiben vom 15. März 2002 stellte die Interessengruppe Schülertransport Oberstufe Dettighofen bei der Oberstufengemeinde Hüttwilen (nachfolgend: OSG Hüttwilen) den Antrag, für die Oberstufenschülerinnen und -schüler der ehemaligen Ortsgemeinde Dettighofen einen Schülertransport einzurichten, der es allen ermögliche, zu gleichen Bedingungen die Schule zu besuchen. Die Interessengruppe wurde damals vertreten durch N, Dettighofen. Die OSG Hüttwilen lehnte das Begehren ab. Gegen diesen Entscheid erhob N Rekurs beim DEK, welcher teilweise gutgeheissen wurde. Das DEK entschied, die OSG Hüttwilen sei jeweils für die Zeit von Dezember bis Februar zur Bereitstellung eines Schülertransportes an denjenigen Tagen verpflichtet, an denen die Bewältigung des Schulwegs nicht möglich sei. Anstelle der Mittagstransporte könnten Mittagessen abgegeben werden.
Gegen diesen Entscheid liessen sowohl die OSG Hüttwilen, als auch N beim Verwaltungsgericht Beschwerde erheben. Das Gericht weist die Beschwerde der OSG Hüttwilen ab und heisst diejenige von N teilweise gut.
Aus den Erwägungen:
2. a) Art. 62 BV verpflichtet die Kantone, für einen genügenden und unentgeltlichen Primarschulunterricht an den öffentlichen Schulen zu sorgen. Darunter ist die Grundschulpflicht mit dem Zwecke einer regelmässigen Vermittlung von Grundkenntnissen während einer bestimmten Anzahl Jahre zu verstehen (Borghi in: Kommentar BV, Basel/Zürich/Bern 1996, [alt] Art. 27, Rz. 29). In ständiger Rechtsprechung des Bundesrates ist aus dieser Verfassungsbestimmung der Grundsatz abgeleitet worden, die Kantone hätten auch dafür zu sorgen, dass der Besuch der Volksschulen ohne unzumutbaren Aufwand für den Schulweg erfolgen könne. Schüler haben demnach in ihren Wohnsitzgemeinden nicht nur Anspruch auf unentgeltlichen Unterricht, sondern darüber hinaus auch darauf, dass der Schulweg für sie keine unzumutbare Erschwerung des Schulbesuchs bedeutet. Ist der Weg zu weit, zu mühsam oder mit unzumutbaren Gefahren verbunden, so haben die Kantone und Gemeinden Abhilfe zu schaffen (VPB 64.56, S. 681; Plotke, Schweizerisches Schulrecht, Bern/Stuttgart 1979, S. 179). Dabei beurteilt sich die Zumutbarkeit eines Schulwegs nicht nur nach dessen Länge und der zu überwindenden Höhendifferenz. Ebenso in die Beurteilung einzubeziehen ist die Beschaffenheit des Weges und allfällige Gefahren, die sich daraus ergeben können. Massgebend ist auch eine durchschnittliche Gesundheit und normale Konstitution wie auch das Alter der betroffenen Kinder (VPB 64.56, S. 682).
Nach § 34 UG können die Schulbehörden für die Schüler aus verkehrsmässig ungünstig liegenden Gebieten, bei gefährlichen Schulwegen oder um Gemeinschaftslösungen zu ermöglichen, unentgeltliche Zubringerdienste organisieren. Allerdings handelt es sich bei § 34 UG in Anbetracht der Rechtsprechung zu Art. 62 Abs. 2 BV lediglich um eine Konkretisierung des bundesrechtlichen Anspruchs. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass Kindern, die wegen der Länge des Schulwegs die Mittagspause nicht oder nicht immer zu Hause verbringen können, zu Selbstkosten eine Mittagsverpflegung (Mittagstisch) zur Verfügung gestellt werden kann beziehungsweise muss, wenn über Mittag kein Schultransportdienst gewährleistet wird.
b) Die Vorinstanz hat angeordnet, dass die OSG Hüttwilen für die Zeit von Dezember bis Februar zur Bereitstellung eines Schülertransportes an Tagen verpflichtet sei, an denen die Bewältigung des Schulwegs nicht möglich sei. Diese Regelung ist aus Sicht des Verwaltungsgerichts nicht praktikabel, wie der Beschwerdeführer N zu Recht bemängelt. Es ist den Eltern der Schüler nicht zuzumuten, dass sie von Tag zu Tag den Entscheid der Schulbehörde abwarten müssen, ob am nächsten Tag ein Schultransport organisiert wird oder nicht. Eine langfristige, verlässliche Planung ist so nicht möglich. Schon aus diesem Grund ist die von der Vorinstanz angeordnete Regelung aufzuheben.
c) Beim Schulweg Dettighofen/Lanzenneunforn von beziehungsweise nach Hüttwilen handelt es sich um ein 8 km langes Wegstück, wobei eine Höhendifferenz von rund 100 m zu überwinden ist. Dabei ist der Heimweg sicher schwieriger zu überwinden als der Weg zur Schule. Der Heimweg führt zunächst einmal durch die zum Teil relativ enge Ortschaft Hüttwilen. Danach muss die viel befahrene Strasse Hüttwilen-Weiningen überquert werden. Der Schulweg führt dann weiter bergauf auf der Ortsverbindungsstrasse nach Herdern, die relativ schmal ist und auf der trotz Lastwagenfahrverbot – der Augenschein hat dies gezeigt – doch immer wieder LKWs verkehren. Vor Herdern ist erneut die Hauptstrasse zu überqueren und danach führt der Weg durch Herdern in Richtung Pfyn. Auf dieser Strecke müssen die Schüler eine unübersichtliche, im Wald liegende Doppelkurve überwinden, bevor ihr Weg nachher auf Nebenstrassen nach Dettighofen (537 m.ü.M) führt.
In Lehre und Rechtsprechung wird in der Regel ein Schulweg von bis zu 30 Minuten noch als zumutbar erachtet. Entgegen der Auffassung der Schulbehörde und mit dem Beschwerdeführer N ist davon auszugehen, dass die Strecke Hüttwilen-Dettighofen nicht in 30 Minuten bewältigt werden kann. Ein Mitglied des Gerichtes ist nach dem Augenschein die Strecke mit dem Fahrrad abgefahren und hat dafür mehr als 40 Minuten benötigt. Selbstverständlich hängt die effektive Fahrdauer vom Fahrverhalten und der Konstitution des einzelnen Kindes ab. Zu berücksichtigen sind auch die momentanen Verhältnisse. Letztlich entscheiden nicht nur die Distanz und die Fahrdauer. Massgebend ist die Summe aller Faktoren. Die Hinfahrt von Dettighofen nach Hüttwilen fällt sicher zeitlich etwas kürzer aus, dementsprechend nimmt aber der Weg von Hüttwilen nach Dettighofen mehr Zeit in Anspruch. So oder so aber ist nach Auffassung des Gerichtes die Bewältigung des gesamten Schulwegs für Kinder zwischen 13 und 16 Jahren mit einem Velo körperlich anstrengend und mit einigen Gefahren verbunden. Dies gilt insbesondere bei Dämmerung, Dunkelheit oder sonstigen schwierigen Sicht- oder Witterungsverhältnissen. Die verschiedenen Abzweigungen und Passagen entlang von Wäldern können nicht als ungefährlich eingestuft werden. Keinesfalls zumutbar ist der Weg bei Eis und Schnee. Es ist auch zu berücksichtigen, dass Dettighofen auf einer Höhe von 537 m.ü.M. liegt, wo Schnee und Eis häufig länger liegen bleiben als an Orten, die unter 450 m.ü.M. gelegen sind.
In Bezug auf die körperliche Beanspruchung ist das Gericht der Auffassung, dass ein Schulweg bei normalen Licht- und Witterungsverhältnissen hin und zurück noch als zumutbar erscheint, keinesfalls aber zweimal am Tag. Unverhältnismässig ist auch die Annahme der Vorinstanz, es genüge, wenn die Kinder über Mittag eine halbe Stunde zu Hause verbringen könnten, da das Mittagessen in 20 Minuten eingenommen werden könne. In Anbetracht der konkreten Verkehrsund Streckenverhältnisse, der besseren Witterungs- und Lichtverhältnisse ist es zumutbar, wenn während des Sommerhalbjahres eine Hin- und eine Rückfahrt mit dem Fahrrad zurückgelegt wird. In dieser Jahreszeit ist es am Morgen bereits hell und am Nachmittag noch nicht dunkel. Die Hinfahrt zur Schule ist zudem bedeutend weniger anstrengend und zeitlich kürzer, so dass die Schüler doch einigermassen ausgeruht und nicht allzu verschwitzt am Schulunterricht teilnehmen können. Während des Winterhalbjahres ist es jedoch in der Regel am Morgen noch dunkel und in den späten Nachmittagsstunden bricht bereits wieder die Dämmerung herein. Es herrschen auch häufiger schlechte Witterungsverhältnisse wie Regen, Schnee oder Nebel. Im Winterhalbjahr ist daher generell ein Schülertransport bereitzustellen. An der Beurteilung, dass der Weg im Winter nicht zumutbar ist, vermögen auch die von der Vorinstanz und der OSG Hüttwilen in Aussicht gestellten strassenbaulichen Verbesserungen nichts zu ändern.
Zusammenfassend ist somit als Zwischenergebnis festzuhalten, dass im Winterhalbjahr, beginnend nach den Herbstferien und bis zu den Frühlingsferien, für die Oberstufenschüler ein Schülertransportdienst zur Verfügung zu stellen ist. Im Sommerhalbjahr ist es demgegenüber zumutbar, wenn ein Hin- und ein Rückweg am Tag mit dem Fahrrad bewältigt werden muss.
d) Auf jeden Fall unzumutbar ist eine Heimkehr mit dem Fahrrad über Mittag. Dementsprechend hat die OSG Hüttwilen auch dafür entweder einen entsprechenden Schülertransport einzurichten oder dann muss sie den Schülern einen Mittagstisch, an dem die Schüler ein Mittagessen zum Selbstkostenpreis beziehen können, anbieten. Es ist grundsätzlich Sache der OSG Hüttwilen, welche der beiden Lösungen sie bevorzugt; dies liegt in ihrem Ermessensbereich. Festzuhalten ist ergänzend, dass sich die Schülertransporte am ordentlichen Schulbeginn am Morgen beziehungsweise am Nachmittag zu orientieren haben. Falls Schüler später zur Schule gehen müssen, haben sie sich selbst zu organisieren oder bis zum offiziellen Schulanfang in einem Aufenthaltsraum zu bleiben. Nebenbei bemerkt sei, dass auch die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht in Frage kommt. Zwar könnte nach heute gültigen Fahrplänen am Morgen ein Postautokurs erreicht werden, doch findet sich weder am Mittag noch am Nachmittag eine zumutbare Busverbindung.
e) Zusammengefasst ergibt sich somit, dass für das Winterhalbjahr am Morgen und am Abend ein Schülertransport zu organisieren ist. Für den Mittag ist generell entweder ein Schülertransport oder ein Mittagstisch von Seiten der OSG Hüttwilen zu stellen.
Entscheid vom 4. Februar 2004
N hat diesen Entscheid mit staatsrechtlicher Beschwerde beim Bundesgericht angefochten, das sie abweist.
Aus den Erwägungen des Bundesgerichts:
4.1 Die Zumutbarkeit eines Schulweges bestimmt sich nach seiner Länge und der zu überwindenden Höhendifferenz, nach der Beschaffenheit des Weges und den damit verbundenen Gefahren sowie nach Alter und Konstitution der betroffenen Kinder (Plotke, a.a.O., S. 226; VPB 2000/64 Nr. 1 S. 17 E. 2.3 S. 25, mit Hinweisen). Das Verwaltungsgericht hat diese Kriterien im vorliegenden Fall in seine Beurteilung einbezogen und in zulässiger Weise gewürdigt.
4.2 Dass die Schüler aus der ehemaligen Ortsgemeinde Dettighofen für den Schulbesuch in Hüttwilen kein öffentliches Verkehrsmittel benützen können, wird von keiner Seite in Abrede gestellt. Sie müssen, soweit für sie kein besonderer Transportdienst eingerichtet wird, den Weg mit dem Fahrrad zurücklegen. Die Strecke beträgt gemäss Feststellung des Verwaltungsgerichts 8 km (nach Angabe der Gemeinde 7,2 km) und weist eine Höhendifferenz von 100 m auf. Die Schüler benötigen nach Schätzung des Verwaltungsgerichts für den Rückweg rund 40 Minuten, während der Hinweg zur Schule aufgrund des Gefälles schneller bewältigt werden kann. Das Verwaltungsgericht hat aufgrund der Länge des Weges sowie der witterungsbedingten Hindernisse im Winter den Schulweg für das Winterhalbjahr generell als unzumutbar erachtet und die Gemeinde verpflichtet, für diesen Zeitraum am Morgen und am Abend einen Schülertransport zu organisieren und während des ganzen Schuljahres am Mittag entweder ebenfalls einen Schülertransport oder den Schülern ein Mittagessen an der Schule anzubieten. Für das Sommerhalbjahr dagegen erachtete es das Verwaltungsgericht aufgrund der besseren Witterungs- und Lichtverhältnisse als den Schülern zumutbar, wenigstens einmal am Tage bzw. am Morgen und am Abend den Hin- und den Rückweg mit dem Fahrrad zurückzulegen. Da die Hinfahrt nach Hüttwilen aufgrund des Gefälles leichter und kürzer sei als der Rückweg, kämen die Schüler im Übrigen nicht allzu verschwitzt in der Schule an.
4.3 Der Beschwerdeführer erachtet vor allem die Länge der zu bewältigenden Wegstrecke von 8 km als unzumutbar und beruft sich auf eine nach seiner Auffassung in der Rechtsprechung festgelegte Obergrenze von 5 km, die vorliegend massiv überschritten werde. Das angerufene Werk von Plotke (S. 229 f.) erwähnt zwar eine Reihe von Beispielen, die sich mit dem vorliegenden Fall aber kaum vergleichen lassen. Der Regierungsrat des Kantons Aargau ist in einem Entscheid aus dem Jahre 1983 davon ausgegangen, dass ein Schulweg von etwa 5 km (zu Fuss oder mit dem Fahrrad) in der Regel noch als zumutbar erscheint (AGVE 1983 Nr. 19 S. 485 E. 3b S. 488). Dies wurde vom Verwaltungsgericht des Kantons Aargau in einem späteren Entscheid, jedenfalls bezüglich Schüler der Mitteloder Oberstufe, bestätigt. Die Schulweglänge von 5 km gilt allenfalls nach aargauischer Praxis als Richtwert für die Anerkennung «notwendiger» Transportkosten im Sinne des kantonalen Schulgesetzes (AGVE 1986 Nr. 1986 S. 143 E. 1c S. 147; 1997 Nr. 50 S. 166 E. II/3b S. 167). Von einer in der Rechtsprechung allgemein festgelegten Obergrenze von 5 km kann jedoch nicht die Rede sein.
4.4 Zudem hängt die Zumutbarkeit des Schulweges, wie erwähnt, nicht allein von der Länge, sondern ebenfalls von der Höhendifferenz, der sonstigen Beschaffenheit des Weges, von dessen Gefährlichkeit und insbesondere auch vom Alter der Schüler ab. Der vom Beschwerdeführer geltend gemachte Höhenunterschied von rund 100 m fällt bei einer Strecke von 8 km, wenn sich die Steigung wie vorliegend ziemlich regelmässig auf die gesamte Länge des Schulweges verteilt, wenig ins Gewicht. Ferner besteht Einigkeit darüber, dass der fragliche Schulweg von den Kindern nicht zu Fuss, sondern mit dem Fahrrad zu bewältigen ist. Auch vom zeitlichen Aufwand her (40 Minuten für den beschwerlicheren Heimweg) kann der Schulweg nicht als unzumutbar erachtet werden, nachdem selbst für Kinder im Kindergartenalter ein halbstündiger Fussmarsch als zumutbar gilt (Plotke, a.a.O., S. 227). Im vorliegenden Fall handelt es sich gemäss Feststellung des Verwaltungsgerichts um Schüler im Alter von 13 bis 16 Jahren, denen – auch was die Bewältigung der Gefahren des Strassenverkehrs anbelangt – entsprechend mehr zugemutet werden darf als jüngeren Kindern, auf die sich die bei Plotke erwähnten Beispiele aus der Judikatur in erster Linie beziehen. Der Beschwerdeführer vermag schliesslich auch nicht darzutun, dass im Kanton Thurgau in vergleichbaren Fällen von den Rechtsmittelinstanzen ein wesentlich günstigerer Massstab angelegt worden wäre. Wenn das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau im vorliegenden Falle die Forderung auf Einrichtung eines Transportdienstes nicht vollumfänglich, sondern nur mit den dargelegten Einschränkungen anerkannt hat, mag dieser Entscheid eher streng erscheinen, doch hält er sich noch im Rahmen des den Kantonen in dieser Frage zuzugestehenden Spielraumes. Es kann daher weder von einer Verletzung des Willkürverbotes noch von einer Missachtung von Art. 19 BV gesprochen werden.
Urteil 2P.101.2004 vom 14. Oktober 2004