TVR 2004 Nr. 17
Funktion der Vormundschaftsbeschwerde bezüglich Besuchsrechtsregelungen
1. Eine durch die Aufsichtsbehörde gemassregelte Vormundschaftsbehörde kann sich dagegen mit Beschwerde beim Verwaltungsgericht wehren (E. 1b). Aktuelles Interesse der Vormundschaftsbehörde trotz Wohnsitzwechsel der Inhaberin der elterlichen Sorge während des Verfahrens betreffend Besuchsrechtsregelung (E. 1c).
2. Mit der Vormundschaftsbeschwerde nach Art. 420 ZGB kann auch das Untätigbleiben einer Vormundschaftsbehörde bezüglich der Regelung des Besuchsrechts gerügt werden. Behandelt die Aufsichtsbehörde eine solche Rüge im Rahmen einer Aufsichtsbeschwerde nach § 71 VRG, so verkennt sie den Rechtsschutz des Betroffenen, wenn sie nicht konkrete Anordnungen trifft, sondern gewissermassen eine Massregelung der Behörde erlässt (E. 2).
Die Eltern von Sandro (Name geändert), geboren 20. Februar 1997, leben seit August 1999 getrennt und führen vor dem Bezirksgericht Laufenburg (Kanton Aargau) den Scheidungsprozess. Mit Verfügung vom 21. Dezember 2001 regelte das Gerichtspräsidium Laufenburg das Besuchsrecht des Vaters. Am 26. Februar 2002 ordnete es für Sandro eine Beistandschaft nach Art. 308 ZGB an und beauftragte die Vormundschaftsbehörde der thurgauischen Gemeinde N, eine für diese Aufgabe geeignete Person zu bestellen. Am 7. März 2002 ernannte diese eine Beiständin.
Mit Schreiben vom 6. September 2002 teilte die Beiständin der Vormundschaftsbehörde N mit, dass sich die ihr zugewiesene Aufgabe von Beginn an als sehr schwierig gestaltet habe, da zwischen beiden Elternteilen eine lange Vorgeschichte vorgelegen habe. Sie stelle den Antrag, sie vom Mandat der Beistandschaft zu entbinden. Die Vormundschaftsbehörde N entsprach diesem Begehren nicht (Beschluss vom 7. Oktober 2002). Hingegen wurde sie auf Zusehen hin und bis der vom Bezirksgerichtspräsidium Laufenburg angeforderte kinderpsychiatrische Bericht vorliegt von ihren Aufgaben als Organisatorin und Vermittlerin der Besuchstage befreit.
Der Vater machte mit Schreiben vom 28. Februar 2003 an das Präsidium des Bezirksgerichts Laufenburg unter anderem geltend, die Beiständin weigere sich, über ein allfälliges Ferienbesuchsrecht von Sandro zu entscheiden. Der Präsident dieses Gerichts verfügte daraufhin am 7. März 2003, dass die Vormundschaftsbehörde N angewiesen werde, die Beiständin aufzufordern, die Frage eines allfälligen Ferienbesuchsrechts betreffend Sandro abzuklären und allenfalls die Einwilligung für dessen Ausübung zu erteilen.
Mit Brief vom 24. März 2003 an die Vormundschaftsbehörde N ersuchte der Vater um Bekanntgabe, ab welchem Tag er mit Sandro einige Tage der Frühlingsferien (5. bis 21. April 2003) verbringen könne. Der Sekretär der Vormundschaftsbehörde N antwortete am 25. März 2003 dahingehend, dass das Schreiben an der ordentlichen Sitzung am 14. April behandelt werde. Der Vater bat alsdann mit Schreiben vom 27. März 2003 um Mitteilung bis 4. April 2003, ob die Vormundschaftsbehörde nicht doch gewillt sei, umgehend der Verfügung des Bezirksgerichtspräsidiums Laufenburg vom 7. März 2003 nachzukommen. Sollte dies nicht der Fall sein, werde er eine Aufsichtsbeschwerde gegen die Vormundschaftsbehörde einreichen. Mit Schreiben vom 10. April 2003 an das DJS erhob er «Aufsichtsbeschwerde» gegen die Vormundschaftsbehörde N. Er rügte insbesondere, die Vormundschaftsbehörde sei weder der Verfügung des Gerichtspräsidenten Laufenburg vom 1. Juli 2002 noch jener vom 7. März 2003 nachgekommen. Er sei seit Monaten mit der Tatsache konfrontiert, dass die Vormundschaftsbehörde den Gerichtsurteilen nur zögerlich oder überhaupt nicht nachgekommen sei. Dadurch habe diese wesentlich die Entfremdung Sandros zu ihm gefördert und das Recht des Vaters auf persönlichen Kontakt zu seinem Kind mutwillig und vorsätzlich unterbunden.
Das DJS entschied am 22. September 2003: «Die Aufsichtsbeschwerde wird gutgeheissen. Es wird festgestellt, dass die Vormundschaftsbehörde N die amtierende Beiständin nicht von ihren Aufgaben im Zusammenhang mit dem Besuchsrecht hätte entbinden dürfen.» Es erwog unter anderem, es sei der Vormundschaftsbehörde zur Verhinderung einer Sachverhaltswiederholung deutlich zu machen, dass ein Beistand trotz aller Widrigkeiten sein Amt im Sinne des Kindeswohls nicht einfach niederlegen und dass die Behörde einem solchen Entledigungsantrag auch nicht entsprechen dürfe.
Mit Eingabe vom 4. Oktober 2003 erhebt die Vormundschaftsbehörde N Beschwerde beim Verwaltungsgericht. Sie macht unter anderem geltend, bei der Aufsichtsbeschwerde des Vaters handle es sich um eine solche nach § 71 VRG, die vom DJS offensichtlich auch als solche entgegengenommen und abgehandelt worden sei. Indes sei die Aufsichtsbeschwerde stets ausgeschlossen, wenn ein ordentliches Rechtsmittel offen gestanden habe, was gegen den Beschluss vom 7. Oktober 2002 zugetroffen habe. Davon habe der Vater aber keinen Gebrauch gemacht. Wenn überhaupt sei ein aufsichtsrechtliches Eingreifen nur zulässig, wenn klares Recht, wesentliche Verfahrensvorschriften oder wichtige öffentliche Interessen missachtet worden seien. Solches habe aber das DJS nicht dargelegt. Die Rüge beziehungsweise der Vorwurf oder die Zensur des DJS an die Adresse der Vormundschaftsbehörde sei nicht gerechtfertigt. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerde im Sinne der Erwägungen ab.
Aus den Erwägungen:
1. b) (...) Das DJS wollte mit der zitierten Feststellung (nämlich dass die Beiständin nicht hätte von ihren Aufgaben entbunden werden dürfen) der Vormundschaftsbehörde «deutlich machen», dass sie dem «Entledigungsantrag» der Beiständin nicht hätte entsprechen dürfen. Die Vormundschaftsbehörde empfindet diese Feststellung als Vorwurf / Rüge / Zensur. Auch das Gericht beurteilt diese klar retrospektive Feststellung (auf den Zeitpunkt des 7. Oktober 2002 hin) als Rüge an die Adresse der Vormundschaftsbehörde, denn in der Sache nützt eine so interpretierte Feststellung – wie noch zu zeigen sein wird – wenig. So gesehen handelt es sich grösstenteils um eine Disziplinierung einer Behörde, über die das DJS trotz unbestrittener Aufsichtsfunktion keine personalrechtlichen Befugnisse hat. Darüber hat jedoch das Verwaltungsgericht und nicht der Regierungsrat zu entscheiden (vgl. §§ 54 und 55 Abs. 1 Ziff. 2 und 3 VRG). Somit trifft die angefochtene Feststellung die Behörde wie einen Privaten, weshalb ihr die Rechtsmittelberechtigung nicht abgesprochen werden kann.
c) Zur Beschwerdeführung bedarf es auch des aktuellen Interesses. Fällt dieses im Laufe des Verfahrens dahin, so wird die Streitsache grundsätzlich gegenstandslos (vgl. TVR 1997 Nr. 6 S. 56). Das gilt auch für die Vormundschaftsbeschwerde, um die es hier gemäss nachstehender Erwägung 2a) klarerweise geht. Nachdem die Mutter per 8. August 2003 ihren Wohnsitz in den Kanton Wallis verlegte, ist die dortige Vormundschaftsbehörde für die Beistandschaft zuständig (vgl. Art. 315 ZGB). Für die Bestellung des Beistandes gelten die gleichen Verfahrensvorschriften wie bei der Bevormundung (vgl. Art. 397 Abs. 1 ZGB) mithin auch Art. 377 ZGB, der sich mit dem Wechsel des Wohnsitzes befasst. Ein Wechsel der Zuständigkeit der Vormundschaftsbehörde findet danach nicht von Gesetzes wegen, sondern nur mit Zustimmung der (neu zuständigen) Vormundschaftsbehörde statt. Diese ist gemäss den Akten zumindest bis zum Entscheid des DJS über die Beschwerde – 22. September 2003 – nicht erfüllt worden. (...)
2. a) Ausgelöst hat das Verfahren der Vater mit seiner «Aufsichtsbeschwerde» vom 10. April 2003, in der er nach Vorankündigung vom 27. März 2003 das Nichttätigwerden der Vormundschaftsbehörde insbesondere im Zusammenhang mit dem gewünschten Ferienbesuchsrecht rügte. Dabei bezog er sich sowohl auf den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 7. Oktober 2002, als auch auf die neueste Verfügung des Gerichtspräsidenten Laufenburg vom 7. März 2003. Damit machte er bei der Aufsichtsinstanz im eigentlichen Sinne (momentane) Rechtsverzögerung geltend, blieb doch die Vormundschaftsbehörde/Beiständin untätig (sie vertröstete ihn auf den 14. April 2003). Gemäss dem Wortlaut von Art. 420 Abs. 2 ZGB ist zwar Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde binnen 10 Tagen nur gegen Beschlüsse der Vormundschaftsbehörde zulässig, doch ist auch das Unterlassen beschwerdefähig (Basler Kommentar ZGB I, 2. Aufl., Basel 2002, Art. 420 N. 11, S. 2135). Damit handelt es sich bei der «Aufsichtsbeschwerde» des Vaters entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin offensichtlich nicht um eine solche nach § 71 VRG, sondern um eine Beschwerde nach Art. 420 ZGB (i.V. mit Art. 397 ZGB). Das sieht wohl im Nachhinein auch das DJS so, doch fehlt im angefochtenen Entscheid eine eindeutige Qualifizierung des Rechtsmittels mit Hinweis auf die Rechtsgrundlage, wie es § 18 Abs. 1 Ziff. 2 VRG verlangt.
b) Das DJS bezieht sich in der Vernehmlassung auf die Abhandlung von Geiser, Die Aufsicht im Vormundschaftswesen, ZVW 1993, S. 201 ff. und hält in Anlehnung daran fest, «in erster Linie gehe es bei der Aufsicht darum, das Funktionieren der unterstellten Behörde schlechthin sicherzustellen und in zweiter Linie darum, die Richtigkeit des Entscheides der unterstellten Behörde auch ausserhalb eines förmlichen Rekurses zu prüfen und gegebenenfalls korrigierend einzuschreiten. Diesbezüglich könne die Aufsichtsbehörde den ihr unterstellten Behörden auch Weisungen erteilen. In einem Beschwerdeverfahren könne die Aufsichtsbehörde den Entscheid der unteren Behörde aufheben und ihn durch einen eigenen ersetzen oder aber die Sache mit bestimmten Anweisungen an die andere Instanz zurückweisen.»
Aus dieser Vernehmlassung und dem angefochtenen Entscheid erhellt, dass das DJS den Charakter der Eingabe des Vaters nicht als Beschwerde nach Art. 420 ZGB erkannte, mit der – wie gesagt – auch das Untätigbleiben einer Behörde gerügt werden kann. Es vermischte die allgemeine Aufsicht mit dem Rechtsschutz des Einzelnen.
Die Schutzbedürftigkeit der von vormundschaftlichen Massnahmen betroffenen Personen – was auch bei Untätigbleiben zutrifft – erfordert es, dass die Aufsichtsbehörde die Entscheide in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht und mit Bezug auf die Angemessenheit prüft. Mit Blick auf die Tragweite der staatlichen Eingriffe, um die es beim Vormundschaftsrecht in der Regel geht, steht die materielle Richtigkeit im Vordergrund. Es handelt sich insofern um ein vollkommenes Rechtsmittel (Geiser, a.a.O., S. 214). Daraus ergibt sich, dass das DJS nicht die (retrospektive) Feststellung der Unrichtigkeit der vorübergehenden Entbindung der Beiständin von ihren Aufgaben hätte treffen sollen, sondern die Vormundschaftsbehörde aus aktuellem Anlass (Wunsch des Vaters zur Ferienbesuchsregelung für Sandro) umgehend hätte anhalten sollen, dass die (bisherige oder eine neue) Beiständin zeitgerecht über das Ferienbesuchsrecht entscheide, entsprechend der Verfügung des Präsidenten des Bezirksgerichts Laufenburg vom 1. Juli 2002 beziehungsweise vom 7. März 2003. Über derartige Beschwerden ist – wie gesagt – umgehend zu entscheiden.
Dem Vater hätte allerdings offen gestanden, das beschwerdeweise vor Verwaltungsgericht zu rügen. Die Beschwerde der Vormundschaftsbehörde ist hingegen nicht gerechtfertigt, kam sie doch ihrer Aufgabe nicht nach, mögen auch die Widrigkeiten noch so gross gewesen sein. Zwar ist richtig, dass das Gutachten des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes St. Gallen noch nicht vorlag, doch hätte gleichwohl ein Entscheid über das Ferienbesuchsrecht getroffen werden müssen, wie auch immer er ausgefallen wäre.
Entscheid vom 21. Januar 2004