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TVR 2004 Nr. 42

Zusammensetzung des Schiedsgerichts, Ausstandsgründe


Art. 89 KVG, § 7 VRG


1. § 7 VRG unterscheidet nicht zwischen Ausstandsund Ablehnungsgründen. Es sind daher auch Befangenheitsgründe von Amtes wegen zu beachten.

2. Befangenheit eines Geschäftsführers eines regionalen Verbandes der Krankenversicherer als Vertreter einer diesem angehörenden Krankenkasse in einem Schiedsgerichtsfall, bei dem diese Krankenkasse Partei ist und der sich im Vorfeld in einem Zeitungsartikel in grundsätzlicher Art über die Streitgegenstand bildenden Fragen geäussert hat.


Mit Klage vom 13. August 2003 lässt M, dipl. Psychiatriekrankenschwester SRK, beim Schiedsgericht des Kantons Thurgau das Begehren stellen, die Krankenkasse C sei zu verpflichten, ihr für erbrachte Pflichtleistungen den Betrag von Fr. 8’472.10 nebst 5% Zins seit dem 1. August 2002 zu bezahlen. Daraufhin wurden die Parteien aufgefordert, unter Berücksichtigung der Rechtsprechung, ihren Vertreter im Schiedsgericht zu nominieren. Die Klägerin nominierte Dr. med. W, ärztlicher Leiter einer Psychiatrischen Klinik.
Die Beklagte C nominierte A, Geschäftsführer von santésuisse. Der Präsident des Verwaltungsgerichts setzte den Parteien Frist, um ein allfälliges begründetes Rekusationsbegehren einzureichen. Mit Schreiben vom 23. Oktober 2003 liess die Klägerin mitteilen, sie verzichte auf ausdrückliche Opposition gegen den vorgeschlagenen A. Seine eng mit der Beklagten und ihren Interessen verbundene Funktion als Geschäftsführer der santésuisse wisse das Gericht sicher zu würdigen. Der Präsident des Verwaltungsgerichts forderte alsdann die C auf, zu diesem sinngemässen Rekusationsbegehren Stellung zu nehmen beziehungsweise eine allfällige Ersatznomination vorzunehmen. Am 17. Dezember 2003 teilte die C im Wesentlichen mit, sie halte fest, dass mit Bezug auf A weder Umstände im Sinne von Art. 23 lit. b OG, welche einen Ausstand zu begründen vermöchten, noch Umstände gemäss § 7 VRG vorlägen. A sei zwar Geschäftsführer der santésuisse und die C Mitglied dieses Branchenverbandes, doch komme ihm mit Bezug auf die C weder die Funktion eines Organes noch die eines Mitarbeiters zu. Es seien keine Umstände gegeben, die den Anschein und die Gefahr der Voreingenommenheit in objektiver Weise zu begründen vermöchten. In der Regeste zu BGE 115 V 257 halte das Bundesgericht sogar ausdrücklich fest, dass Kassenfunktionäre grundsätzlich als Schiedsrichter tätig sein dürften. Die Krankenversicherer kämen in eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit, wenn sie generell keine santésuisse-Vertreter mehr als Schiedsrichter nominieren dürften. Demgemäss halte sie an der Nomination von A fest. Das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht weist die Nomination von A zurück und setzt der C Frist zur Nennung eines neuen Vertreters.

Aus den Erwägungen:

1. a) Das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht beurteilt Streitigkeiten gemäss Art. 89 KVG, und zwar in Dreierbesetzung (§§ 69a Abs. 1 Ziff. 1 und 33 Abs. 2 VRG), als Schiedsgericht allerdings ergänzt mit je einer Vertretung der Versicherer und der betroffenen Leistungserbringer in gleicher Zahl (Art. 89 Abs. 4 KVG). Fraglich ist im Schiedsgerichtsverfahren vorab die Ernennung As durch die Beklagte als Schiedsrichter. Darüber ist in Form eines (anfechtbaren) Zwischenentscheids zu befinden, (...).

2. a) Gemäss Art. 30 BV hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Damit wird gewissermassen wiederholt, was auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleistet. Die Anforderung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit trifft nicht nur das Gericht als solches, sondern jeden Richter (BGE 115 V 161).
Eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit liegt dann vor, wenn bei objektiver Betrachtung der Sachlage der Anschein einer – wenn auch vielleicht gar nicht vorhandenen – Voreingenommenheit des Richters erweckt wird (Kölz im Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung, Basel/Zürich/Bern 1990, Rz 16 und 18 zu Art. 58). Ein Richter gilt als befangen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in seine Unparteilichkeit zu erwecken. Die richterliche Befangenheit hat eine tatsächliche (subjektive) und eine objektive Seite. Da die innere (tatsächliche) Befangenheit eines Richters nur schwer nachzuweisen ist, und dessen Unparteilichkeit gar vermutet wird, genügen bereits objektiv begründete Umstände, welche den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen, um (heute) Art. 30 BV – anzurufen (BGE 112 Ia 293, 113 Ia 63, 114 Ia 55, 115 Ia 175). An den Nachweis objektiver Befangenheit dürfen nicht allzu strenge Anforderungen gestellt werden; allerdings besteht auch keine Regel, wonach im Zweifelsfalle stets auf Befangenheit zu erkennen ist.

b) Diese im Allgemeinen gültigen Grundsätze sind gemäss Eidgenössischem Versicherungsgericht auch in Bezug auf die Besetzung der Schiedsgerichte nach dem alten KUVG anwendbar, deren Besetzung etwas speziell geregelt ist. Diese Spezialbesetzung ist aber praktisch genau gleich ins neue KVG übernommen worden, so dass die alte Rechtsprechung nach wie vor ihre Gültigkeit hat.
Die Beklagte stützt sich für ihr Beharren auf der Nomination von A vor allem auf BGE 115 V 263 ff. A ist in der Tat nicht direkt mit der C verbunden, weder hat er dort Organstellung, noch ist er ein Mitarbeiter. Er ist aber auch nicht (irgendein) Kassenfunktionär, sondern Geschäftsführer des Krankenkassenverbandes, dem die Beklagte (grösste Kasse der Schweiz) angehört. Als solcher hat A insbesondere die Interessen der Verbandsmitglieder wahrzunehmen. Er ist also gewissermassen von Reglements wegen auf die Interessenwahrung (auch) der Beklagten verpflichtet. Schon das allein lässt ihn objektiv als befangen erscheinen. Es kommt hinzu, dass dieser Verband im Auftrage seiner Mitglieder auch Tarifverhandlungen führt (vgl. Art. 43 und 46 KVG). Um solche Verträge geht es in schiedsgerichtlichen Verfahren meistens. Dabei hat der Geschäftsführer eine zentrale Bedeutung. Damit ergibt sich, dass A als aus anderen Gründen im Sinne von § 7 Abs. 1 Ziff. 4 VRG befangen erscheint.

Entscheid vom 11. Februar 2004

Gegen diesen Zwischenentscheid erhob die C Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim EVG. Dieses weist ab.

Aus den Erwägungen:

1.1 Die vorinstanzliche Klägerin hat bezüglich des von der Beklagten vorgeschlagenen Mitglieds des Schiedsgerichts kein ausdrückliches Ablehnungsbegehren gestellt und den Entscheid dem Gericht überlassen. Ob sie damit auf das Ablehnungsrecht verzichtet hat (vgl. BGE 130 III 75 Erw. 4.3, 126 III 255 Erw. 4c), kann offen bleiben. Anders als Art. 22 ff. OG und die meisten kantonalen Prozessgesetze unterscheidet § 7 i.V. mit § 69b VRG nicht zwischen Ausstandsund Ablehnungsgründen. Nach dem kantonalen Verfahrensrecht sind daher auch Befangenheitsgründe von Amtes wegen zu beachten (Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Schriftenreihe der Staatskanzlei des Kantons Thurgau Nr. 1, 1984, S. 32).

2.1 Am 1. Januar 2003 ist das ATSG in Kraft getreten. Nach Art. 1 Abs. 2 lit. e KVG finden dessen Bestimmungen jedoch auf Verfahren vor dem kantonalen Schiedsgericht im Sinne von Art. 89 KVG keine Anwendung.

2.2 Im Verfahren vor den kantonalen Schiedsgerichten gemäss Art. 89 KVG haben die Parteien einen aus Art. 30 Abs. 1 BV (Art. 58 Abs. 1 aBV) und Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleiteten Anspruch darauf, dass ihre Sache von unabhängigen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richtern ohne Einwirkung sachfremder Umstände entschieden wird. (...)

3.1 Im Lichte dieser Rechtsprechung verstösst es nicht gegen Bundesrecht, wenn die Vorinstanz die Befangenheit des im vorliegenden Fall von der Beklagten vorgeschlagenen Schiedsrichters bejaht hat. Der Nominierte ist Geschäftsführer des regionalen Verbandes der Krankenversicherer, dessen Zweck es ist, die gemeinsamen Interessen seiner Mitglieder zu wahren und zu vertreten (Art. 4 der Statuten von santésuisse, in Kraft seit 1. Juli 2001). Zu den Aufgaben der santésuisse gehören u.a. die Unterstützung der Mitglieder insbesondere in Fragen der sozialen Kranken- und Unfallversicherung, die Führung von Tarif- und Vertragsverhandlungen auf nationaler, regionaler und kantonaler Ebene, der Erlass von Reglementen, Richtlinien und Grundsätzen im Rahmen der Statuten sowie die Vertretung der Mitglieder gegenüber Dritten in gerichtlichen Verfahren (Art. 5 der Statuten). Als regionaler Geschäftsführer hat der Nominierte auch die Interessen der Beschwerdeführerin zu wahren. Dabei kann nicht unbeachtet bleiben, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um den gesamtschweizerisch grössten Krankenversicherer (Mitgliederbestand am 1. Januar 2002: 1’090’826) handelt, welchem nach den statutarischen Bestimmungen bei der Ausübung des Stimmrechts in der Generalversammlung (Art. 9) sowie der Zusammensetzung und Wahl des Verwaltungsrats (Art. 12), aber auch mit Blick auf die Höhe des Verbandsbeitrags (Art. 23) ein erhebliches Gewicht in dem als Verein konstituierten Kassenverband zukommt. Aufgrund dieser organisatorischwirtschaftlichen Gegebenheiten steht der Nominierte als Leiter des Regionalverbandes der Krankenversicherer in einer qualifizierten Nähe zu dem am Recht stehenden Verbandsmitglied. Dazu kommt, dass er sich vorgängig wenn auch nicht mit dem konkreten Fall befasst, so doch sich in der streitigen Grundsatzfrage engagiert hat. Zum einen hat der von ihm geleitete Regionalverband in einem Zirkular an die Mitglieder vom Dezember 2001 zur Leistungspflicht für die durch selbstständig tätige Krankenschwestern und Krankenpfleger angebotenen «Psychiatrischen Betreuungsdienste» Stellung genommen und die Krankenversicherer dazu angehalten, bestimmte näher umschriebene Massnahmen nicht zu vergüten. Dabei wurde sinngemäss davon ausgegangen, dass seitens gewisser selbstständig tätiger Pflegepersonen zu Unrecht Nichtpflichtleistungen (wie Hilfe bei den alltäglichen Funktionen, Informationen zur Freizeitgestaltung, Lebensbegleitung und -beratung) als Pflichtleistungen verrechnet würden. Diese Mitteilung hat offenbar zumindest dazu beigetragen, dass die Beschwerdeführerin ab Mitte 2002 generell keine Leistungen für ambulante psychiatrische Pflege mehr erbracht hat. Zum andern hat der Nominierte auch öffentlich zur Leistungspflicht der Krankenversicherer für Massnahmen der psychiatrischen Pflege Stellung genommen. Laut einem von der Beschwerdegegnerin ins Recht gelegten Zeitungsartikel hat er sich dahingehend geäussert, dass für die allgemeine Lebenshilfe bei psychisch kranken Personen der Staat und nicht die Krankenversicherung zuständig sei. Es seien Fälle bekannt, wo qualifiziertes Pflegepersonal Dienstleistungen erbracht habe, die in den Bereich Lebensberatung oder soziales Umfeld gehörten und klar nicht kassenpflichtig seien. Auch wenn der Leiter des Regionalverbandes der Krankenversicherer gleichzeitig ausgeführt hat, dass eine Abgrenzung ausgesprochen schwierig und eine gerichtliche Klärung erforderlich sei, sind diese Äusserungen aufgrund ihres engen Zusammenhangs und der zeitlichen Nähe zur hier in Frage stehenden Streitsache objektiv geeignet, deren unbefangene und unvoreingenommene Beurteilung durch den Nominierten in Frage zu stellen (vgl. auch Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit. Verfassungsrechtliche Anforderungen an Richter und Gerichte, Bern 2001, S. 181 f.). Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz dessen Ernennung zurückgewiesen hat.

3.2 Was in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht wird, vermag zu keiner andern Beurteilung zu führen. Wohl ist der Nominierte nicht Arbeitnehmer der Beschwerdeführerin. Er steht nach den konkreten Umständen jedoch in einer qualifizierten Nähe zur Beschwerdeführerin, was objektiv den Anschein der Befangenheit zu begründen vermag. Des Weitern trifft zu, dass sich die vorliegende Konstellation von den in BGE 114 V 292 und 115 V 257 beurteilten Sachverhalten, wo das Eidgenössische Versicherungsgericht die Befangenheit bejaht hat, in wesentlichen Punkten unterscheidet. Mit dieser Rechtsprechung wurde die Ausstandspflicht jedoch nicht auf Kassenfunktionäre beschränkt. Ergänzend hinzuweisen ist insbesondere auf die in RKUV 1997 KV Nr. 14 S. 309 sowie SZIER 1999 S. 550 publizierten Urteile, wo das Gericht die Befangenheit von Präsidenten kantonaler Krankenkassenverbände bejaht hat (Erw. 2.3 hievor). Damit vergleichbar ist der vorliegende Fall des Geschäftsführers eines Regionalverbandes, wobei erschwerend hinzutritt, dass sich dieser bereits mit der streitigen Grundsatzfrage und dem anwendbaren Tarifvertrag als Vertreter der dem Verband angeschlossenen Krankenversicherer (und damit auch der Beschwerdeführerin) befasst hat (Erw. 3.1. hievor). Nicht gehört werden kann schliesslich der Einwand, die Krankenversicherer kämen in eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit, wenn sie generell keine Vertreter von santésuisse mehr als Schiedsrichter bezeichnen dürften. Das vorliegende Urteil bedeutet nicht, dass Vertreter von santésuisse generell als Schiedsrichter ausgeschlossen sind. Zudem stehen zweifellos auch ausserhalb des Verbandes der Krankenversicherer Personen als Schiedsrichter zur Verfügung, welche die erforderliche Unabhängigkeit und das nötige Fachwissen aufweisen.

Urteil vom 29. Juli 2004 (K29/04)

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