TVR 2005 Nr. 4
Beschwerdeweg betreffend eine Botschaft des Regierungsrates zu einer kantonalen Abstimmung
§ 81 Abs. 1 StWG, § 2 Ziff. 1 StWV, § 7 Abs. 1 Ziff. 3 VRG
1. Das StWG kennt den zweistufigen Rechtsmittelweg, womit ein verfassungsmässiger Anspruch auf Einhaltung des Rechtsmittelweges besteht (E. 1d).
2. Das Überspringen des DIV als Rekursinstanz einzig mit der Begründung, dieses sei mit der Angelegenheit zufolge Mitwirkung bei der Ausarbeitung der regierungsrätlichen Botschaft vorbefasst, hat keine Grundlage im Gesetz. Diese Vorbefassung ist systemimmanent und als solche in der Regel auch kein Ausstandsgrund (E. 1e).
3. Der Vorsteher eines Departements hat den Entscheid, mit dem er in den Ausstand tritt, in einem selbständig anfechtbaren Zwischenentscheid zu erlassen (E. 1f).
Am 9. März 2005 beschloss der Grosse Rat des Kantons Thurgau, dass die beiden neu zu erstellenden Strassen Kreuzlingen Bernrain – Lengwil – Bottighofen – Münsterlingen (Südumfahrung Kreuzlingen) und Märstetten – Weinfelden – Amriswil – Romanshorn (Thurtalstrasse) gestützt auf § 5 Abs. 3 StrWG in das Netz der Kantonsstrassen aufgenommen werden. Diese beiden von einander getrennten Beschlüsse wurden der Volksabstimmung unterstellt. Gestützt auf § 17 StWG verfasste der Regierungsrat die Botschaft für diese beiden kantonalen Vorlagen und veröffentlichte diese im Amtsblatt Nr. 28 vom 15. Juli 2005. Die Abstimmung über diese beiden kantonalen Vorlagen fand am 25. September 2005 statt.
Mit Eingabe vom 19. Juli 2005 reichte K, Stimmbürger in der Gemeinde H, beim DIV «Stimmrechtsbeschwerde in Sachen Botschaft zu den Netzbeschlüssen» ein. Er stützte sich dabei auf § 83 StWG und beantragte, «das Ergebnis der Abstimmung vom 25. September 2005 sei aufzuheben.» Er machte unter anderem geltend, die Botschaft des Regierungsrates enthalte unwahre oder irreführende Angaben, namentlich betreffend der Angaben zur Verkehrsprognose, zur Lebensqualität und Sicherheit, zu den Verkehrsverlagerungen, zur Finanzierung durch den Kanton, den Bund und die Gemeinden sowie der gesamten Kosten. Mit Schreiben vom 8. August 2005 «übergab» das DIV dem Verwaltungsgericht die «Stimmrechtsbeschwerde» samt Beilagen. Es wies darauf hin, dass die Zuständigkeit zur Beurteilung dieser Beschwerde grundsätzlich beim DIV liege. Da die beanstandete Botschaft indessen vom Gesamtregierungsrat verabschiedet worden sei und alle seine Mitglieder bei der Ausarbeitung mitgewirkt hätten, stelle sich die Frage des Ausstandes. Der Regierungsrat sei nun zum Ergebnis gekommen, dass gemäss § 7 Abs. 1 Ziff. 3 VRG alle Mitglieder des Regierungsrates in den Ausstand zu treten hätten. Somit stehe für die Behandlung der Stimmrechtsbeschwerde kein Departement mehr zur Verfügung, weshalb die Sache im Sinne einer Sprungbeschwerde an das Verwaltungsgericht zu überweisen sei. Gleichzeitig werde darauf hingewiesen, dass der Regierungsrat an der Botschaft festhalte und keinen Anlass für Sofortmassnahmen im Sinne einer Verschiebung der Abstimmung oder einer Zusatzbotschaft sehe. Das Verwaltungsgericht weist den Rekurs an das DIV zum Erlass eines anfechtbaren Entscheids zurück.
Aus den Erwägungen:
1. a) Gemäss § 81 Abs. 1 StWG können Stimmberechtigte insbesondere wegen Verletzung des Stimmrechts einschliesslich Rechtsverletzungen bei der Vorbereitung und Durchführung von Abstimmungen Rekurs erheben. Rekursinstanz ist bei (kantonalen) Abstimmungen das zuständige Departement. Zuständiges Departement ist das DIV (vgl. § 2 Ziff. 1 StWV). Rechtsmittel gemäss § 81 sind spätestens am dritten Tag nach der Veröffentlichung der Ergebnisse von Abstimmungen an der Urne einzureichen (vgl. § 82 Abs. 1 Ziff. 1 StWG). Unabhängig von dieser Frist sind vermutete Rechtsverletzungen unverzüglich nach deren Kenntnis zu rügen. Erfolgt die Rüge verspätet, ist auf den Rekurs nicht einzutreten (§ 82 Abs. 2 StWG). Das Ergebnis einer Abstimmung ist aufzuheben, wenn die gerügten Rechtsverletzungen nach Art und Umfang geeignet waren, das Resultat entscheidend zu beeinflussen. Rechtsverletzungen, die das Ergebnis nicht entscheidend beeinflusst haben, sind festzustellen und nötigenfalls zu ahnden (§ 83 StWG).
b) Der Stimmrechtsrekurs Ks wurde beim dafür zuständigen Departement eingereicht, wovon auch das DIV – zu Recht – ausgeht (vgl. BGE 1P.710/2000 und Nr. 4 46 den Hinweis auf dieses Urteil in TVR 2001, Nr. 5, S. 47 oben). Daraus ergibt sich, dass die Überweisung des Stimmrechtsrekurses an das Verwaltungsgericht nicht in Anwendung von § 5 Abs. 3 Satz 1 VRG erfolgen konnte, wonach Eingaben an eine unzuständige Behörde – unter Benachrichtigung des Absenders – an die zuständige Behörde weiterzuleiten sind. Das DIV geht auch nicht von einem Zuständigkeitskonflikt gemäss § 6 VRG aus. Es hat den Rekurs vielmehr «im Sinne einer Sprungbeschwerde ans Verwaltungsgericht überwiesen», weil es in Anwendung von § 7 Abs. 1 Ziff. 3 VRG in den Ausstand getreten ist, habe es doch an der Ausarbeitung der Botschaft mitgewirkt. Damit beruft es sich darauf, dass es nicht über den Rekurs entscheiden kann, weil es «in gleicher Sache in anderer amtlicher Stellung» gehandelt hat.
c) Gemäss § 54 KV übt das Verwaltungsgericht letztinstanzlich die Verwaltungsrechtspflege aus. Darin kommt zum Ausdruck, dass es dem Gesetzgeber vorbehalten ist, weitere Organe der Verwaltungsrechtspflege zu bezeichnen. Das StWG bezeichnet ausdrücklich eine Rekursinstanz, nämlich das zuständige Departement; der Weiterzug ans Verwaltungsgericht ist durch § 54 KV beziehungsweise § 54 VRG gewährleistet. Einem Stimmbürger steht damit von Gesetzes wegen ein zweistufiger Rechtsmittelweg offen (Rekurs und Beschwerde). Damit besteht ein verfassungsmässiger Anspruch auf Einhaltung des Rechtsmittelweges.
d) Die Verwaltungsrechtspflege vollzieht sich – wie dargestellt – im Allgemeinen in einem Instanzenzug. Dieser ist gesetzlich vorgeschrieben und kann auch nicht durch Vereinbarung der Beteiligten abgeändert werden. In bestimmten Fällen kann es sich jedoch als sinnvoll erweisen, dass auf dem Rechtsmittelweg eine bestimmte Instanz übersprungen wird, weil diese mit einer Angelegenheit befasst war und deshalb in einer späteren Beurteilung nicht mehr die erforderliche Unabhängigkeit aufweist. Eine solche Auslassung einer Instanz im Anfechtungsverfahren sieht das VRG jedoch – im Gegensatz etwa zur st. gallischen Regelung – nicht vor (vgl. Cavelti/Vögeli, Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton St. Gallen – dargestellt an den Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, 2. Aufl., St. Gallen 2003, Rz 1163 f.). Das thurgauische Recht kennt die Auslassung einer Instanz einzig dort, wo das Gemeinwesen in einem umstrittenen (Bau)Bewilligungsverfahren Parteistellung hat (vgl. § 109 PBG; vgl. TVR 2002, Nr. 1 betreffend Gestaltungsplan).
Aufgrund des VRG – miteingeschlossen das Spezialrecht (vgl. § 2 VRG beziehungsweise das StWG) – ist mithin eine Sprungbeschwerde ans Verwaltungsgericht, das an sich in der Streitsache als zweite Rechtsmittelinstanz sachlich zuständig wäre (vgl. § 54 VRG und indirekt § 82 Abs. 1 StWG), ausgeschlossen. Der vorliegende Stimmrechtsrekurs kann demnach nicht als Sprungbeschwerde entgegen genommen werden.
e) Das DIV ist von Amtes wegen in den Ausstand getreten, weil es sich – sinngemäss – als befangen betrachtet.
Die Unbefangenheit von Verwaltung und Justiz ist ein wichtiger Garant für das Vertrauen des Volkes in die staatlichen Behörden. Ein Mindestanspruch auf Unabhängigkeit und Unbefangenheit ergibt sich aus Art. 29 Abs. 1 BV sowie aus § 31 KV. Konkretisiert wird dieser Anspruch durch § 7 VRG. Weil das Vorliegen eines Ausstandsgrundes von Amtes wegen zu beachten ist, bedarf es weder eines Ausstandsbegehrens einer Verfahrenspartei, noch eines solchen Antrages von Seiten eines verfahrensbeteiligten Behördenmitgliedes. Zudem ist jedes Behördenmitglied verpflichtet, gesetzliche Hindernisse für seine Mitwirkung zu beachten und selbst dann in den Ausstand zu treten, wenn keine Partei Einwände erhebt. Allerdings darf eine Ausstandserklärung nicht unbesehen hingenommen werden, gilt es doch zwischen der Ausstandspflicht und dem Anspruch auf einen Entscheid durch die gesetzlich zuständige Behörde abzuwägen. Ein Ausstand erweist sich nur dann als rechtmässig, wenn die Befürchtungen mangelnder Unvoreingenommenheit aufgrund der konkreten Umstände als ernsthaft und begründet erscheinen. Dies hat zur Folge, dass die Ausstandsgründe konkret namhaft zu machen sind und blosse Vermutungen, welche sich auf keine Tatsachen und Belege stützen, nicht genügen (vgl. Kölz/Bosshart/Röhl, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, § 5a, N. 6). Die Nichtbeachtung der Ausstandspflicht stellt im Allgemeinen eine schwerwiegende Verletzung einer Verfahrensvorschrift dar und hat ungeachtet der materiellen Interessenlage in der Regel die Kassation des Entscheides zur Folge. Bei geringfügigen Verstössen ist allerdings eine Heilung denkbar. Umgekehrt darf nicht leichthin auf Ausstandspflicht erkannt werden, da sonst der zweistufige Rechtsmittelweg «ausgehebelt» würde.
Der Umstand, dass ein Behördenmitglied sich bereits früher mit einer bestimmten Angelegenheit befasst hat, begründet nicht in jedem Fall eine Ausstandspflicht. In erster Linie ist darauf abzustellen, ob es im Rahmen der Vorbefassung eine ähnliche oder qualitativ gleiche Frage geprüft hat beziehungsweise ob ein Verfahren in Bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu beurteilenden Fragen trotzdem offen und nicht vorbestimmt erscheint (vgl. Kölz/Bosshart/Röhl, a.a.O., § 5a, N. 12). Ob das DIV zu Recht in den Ausstand getreten ist, ist jedoch nicht in diesem Verfahren zu prüfen. In einem ordentlichen Beschwerdeverfahren hätte sich das Verwaltungsgericht allerdings damit auseinander zu setzen (vgl. § 54 VRG beziehungsweise § 56 VRG). Hinzuweisen ist, dass eine gewisse Vorbefassung eines Departements in Fällen wie dem vorliegenden systemimmanent ist (Ausarbeitung der Botschaft zu Handen des Regierungsrates oder Mitwirkung als Departement im Rahmen der Beschlussfassung über die Botschaft durch den Regierungsrat). Das hat der Gesetzgeber durch die Gewährleistung eines Rekurses an das Departement ausdrücklich in Kauf genommen, weshalb ein blosses Schreiben des Departements an die Rechtsmittelinstanz – das Verwaltungsgericht – mit dem Hinweise auf eine Vorbefassung selbstredend nicht genügt. Auf diesen Ausstandsgrund berief sich das DIV in dem in TVR 2001 Nr. 5 publizierten Entscheid des Verwaltungsgerichts mit keinem Wort, obschon sich dort das allgemeine Problem genau gleich stellte.
f) Tritt ein Mitglied einer Gesamtoder Kollegialbehörde von sich aus in den Ausstand, ohne dass dagegen Einwände erhoben werden, bedarf es keines formellen Entscheides, sondern ist lediglich der Spruchkörper so zu ergänzen, dass er wieder gehörig besetzt und entscheidungsfähig ist. Für den Fall, dass der Ausstand streitig ist, ist gemäss § 7 Abs. 2 1. Satz VRG die Gesamtbehörde – in Abwesenheit des Betroffenen – zum Entscheid berufen. «In den übrigen Fällen entscheidet die vorgesetzte Behörde», so der 2. Satz von § 7 Abs. 2 VRG. Das kann wohl kaum die Aufsichtsbehörde sein, ergäbe sich doch sonst eine Gabelung des Rechtsweges. «Vorgesetzte Behörde» dürfte vielmehr die in der Sache zuständige Rechtsmittelbehörde sein (vgl. Haubensak/Litschgi/Stähelin, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Frauenfeld 1984, § 7 N. 6).
Hier jedoch steht der Ausstand des Vorstehers des DIV in Frage, also nicht einer Kollegialbehörde. Darüber ist – wie bereits dargelegt – nicht formlos, sondern in Form eines Zwischen- oder verfahrensleitenden Entscheides zu befinden und konkret anzugeben, welcher Ausstandsgrund aufgrund welcher Gegebenheiten erfüllt sein soll. Der Betroffene ist jedoch vor Erlass eines solchen Entscheides nach der Vorschrift von § 13 VRG anzuhören. Dieser Entscheid ist selbständig anfechtbar, sofern er für den Betroffenen einen Nachteil zur Folge hat, der sich später nicht mehr beheben lässt (§ 35 Abs. 2 VRG). Davon ist wohl dann auszugehen, wenn dem Betroffenen letztlich der Instanzenzug beschnitten werden soll.
g) Der Stimmrechtsrekurs ist demnach an das DIV zurückzuweisen, damit dieses baldmöglichst nach Gewährung des rechtlichen Gehörs einen verfahrensleitenden Zwischenentscheid über das Vorliegen eines Ausstandsgrundes trifft und den Rekurs – sofern es das Vorliegen eines Ausstandsgrundes bejaht – an das stellvertretende DEK zum Entscheid überweist. Das DIV erklärt zwar, alle Mitglieder des Regierungsrates hätten an der Ausarbeitung der Botschaft mitgewirkt, weshalb für die Behandlung des Rekurses kein (Ersatz)Departement mehr zur Verfügung stehe. So abstrakt kann – wie bereits angetönt – über einen Ausstand nicht befunden werden. Mag man das DIV allenfalls aufgrund seines Auftrages im Bereich Wirtschaftsförderung in dieser Strassenangelegenheit noch als in einem bestimmten Umfang interessiert betrachten, so ist eine konkrete Vorbefassung des DEK allein durch die Mitwirkung bei der Ausarbeitung der Botschaft nicht einleuchtend. Gleiches trifft beim DJS zu, ebenso beim DFS. Sollte demnach der Vorsteher des DIV in den Ausstand treten, so hätten (zusammengefasst in einem Entscheid) auch die anderen Departemente konkret darzulegen, warum der Ausstandsgrund von § 7 Abs. 1 Ziff. 3 VRG trotz der systemimmanenten und vom Gesetzgeber in Kauf genommenen Vorbefassung (vgl. E. 1 e am Ende) erfüllt sein soll. Hiezu bedarf es jedoch ebenfalls eines förmlichen Entscheides und nicht einfach einer Erklärung des DIV. Ergäbe sich, dass alle Departementsvorsteher von Amtes wegen in den Ausstand träten, hätte – auf Beschwerde Ks hin – das Verwaltungsgericht über das Vorliegen eines Ausstandsgrundes zu befinden und bejahendenfalls erst dann insbesondere im Rahmen des VRG und des StWG in der Sache zu entscheiden.
Entscheid vom 17. August 2005