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TVR 2005 Nr. 41

Leistungsverweigerung nach Suizidversuch


Art. 37 Abs. 1 UVG, Art. 48 UVV


Konkrete Vorbereitungshandlungen, latente psychische Probleme und die Aussage «Ich will sterben» nach Einnahme von 80%iger Essigsäure sind klare Indizien dafür, dass ein Versicherter beim Suizidversuch nicht gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln.


D, jugoslawische Staatsangehörige, wurde am 17. Juni 2003 die Kündigung in Aussicht gestellt. Nach Beendigung ihrer Arbeit an diesem Tag beklagte sie sich bei einem ihrer erwachsenen Söhne und hernach auch bei der ganzen Familie über den Verlust des Arbeitsplatzes. Sie fühlte sich schlecht, weinte immer wieder und fragte mehrmals, warum sie nichts wert sei. Ihre Tochter hörte am Abend noch, wie D zu Bett ging. Sie stand später jedoch wieder auf, holte eine Flasche mit hochprozentiger Essigsäure aus dem nur ihr bekannten Versteck und trank die Säure. Durch den Husten alarmiert, kam die Tochter hinzu. Ihr erklärte D: «Lass mich los, ich will sterben». D wurde ins Spital verbracht und musste sich mehreren Operationen unterziehen. Sie überlebte den Selbstmordversuch. Die X-Versicherung, bei der D unfallversichert war, verweigerte in der Folge die Leistungen, weshalb D an das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht gelangte, das die Beschwerde abweist.

Aus den Erwägungen:

2. Zur Begründung ihrer Anträge lässt die Beschwerdeführerin zusammengefasst – vortragen, sie sei an ihrer Arbeitsstelle regelrecht gemobbt worden. Am 17. Juni 2003 habe man ihr die Kündigung in Aussicht gestellt. Darüber sei die Beschwerdeführerin völlig verzweifelt gewesen. Nach der Arbeit sei sie von ihrem Ehegatten von der Arbeit abgeholt worden. Er habe festgestellt, dass seine Frau – wie gestört – ständig die gleichen Floskeln wiederhole und sich nicht beruhigen lasse. Aufgrund ihrer Geisteskrankheit und dem eben Erlebten sei sie in höchster Gefahr gewesen. Das Abweisen der Tochter vor dem Zubettgehen habe zu einem selbstzerstörerischen Wahn geführt, indem sie nicht mehr gewusst habe, was sie getan habe. Sie habe dann zur Flasche gegriffen und die Essigsäure getrunken.
Dem wird in der Beschwerdeantwort entgegengehalten, aufgrund der Akten sei erstellt, dass die Beschwerdeführerin seit längerem an einer chronischen Depression ohne psychotische Symptome sowie unter einer familiären und beruflichen Belastungssituation gelitten habe. Der Suizid sei eine seit längerem geplante Option gewesen. Bereits geraume Zeit vor dem Suizidversuch sei die Essigsäure gekauft und vor den restlichen Familienmitgliedern versteckt worden. Die Beschwerdeführerin habe auch schon vorher mehrfach Selbstmordabsichten geäussert. Gemäss den Angaben des Ehemanns sei es ihr am 17. Juni 2003 ganz schlecht gegangen. Sie sei sicherlich psychisch angeschlagen und verzweifelt gewesen, doch habe sie nicht an einer Geisteskrankheit gelitten. Die Haltung der Tochter, die den Kontakt zur Mutter verweigert habe, sei nicht so ungewöhnlich in Anbetracht der Vorfälle um den Freund der Tochter. Gegen ein Handeln im selbstzerstörerischen Wahn/Trance sprächen auch die Worte, die die Beschwerdeführerin nach Einnahme der Säure gegenüber der Tochter gesagt habe.

3. a) Umstritten ist, ob die Beschwerdeführerin den Suizidversuch im Zustand der nicht vollständig aufgehobenen Urteilsfähigkeit herbeigeführt hat, sieht doch Art. 37 UVG den Ausschluss von Versicherungsleistungen bei Suizid vor. Indessen findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV).
Das Sozialversicherungsrecht stellt dabei auf die Urteilsfähigkeit ab, wobei diese nach der Rechtsprechung in Bezug auf die in Frage stehende Handlung und unter Würdigung der bei ihrer Vornahme herrschenden objektiven und subjektiven Verhältnisse zu prüfen ist. Ob die Tat ohne Wissen und Willen erfolgt ist, ist nicht entscheidend; denn eine Absicht, und sei es auch nur in Form eines völlig unreflektierbaren, dumpfen Willensimpulses, ist stets festzustellen, sonst liegt keine Selbsttötung beziehungsweise kein Suizidversuch vor. Massgeblich ist einzig, ob im entscheidenden Moment jenes Minimum an Besinnungsfähigkeit zur kritischen, bewussten Steuerung der Endotymen (das heisst vor allem der triebhaften innerseelischen Abläufe) vorhanden war. Damit eine Leistungspflicht des Unfallversicherers entsteht, muss mit anderen Worten eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche usw. nachgewiesen sein, welche zum Zeitpunkt der Tat unter Würdigung der herrschenden objektiven und subjektiven Umstände sowie in Bezug auf die in Frage stehende Handlung die Fähigkeit gänzlich aufgehoben hat, vernunftgemäss zu handeln (BGE 113 V 63 E. 2c). Es muss deshalb mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Geisteskrankheit oder eine schwere Störung des Bewusstseins nachgewiesen sein, also psychopathologische Symptome wie Wahn, Sinnestäuschung, depressiver Stupor, Raptus und anderes. Dazu muss das Motiv zum Suizid oder Suizidversuch aus der geisteskranken Symptomatik stammen, mit anderen Worten muss die Tat «unsinnig» sein. Eine blosse «Unverhältnismässigkeit» der Tat, indem der Suizident seine Lage in depressivverzweifelter Stimmung einseitig und voreilig einschätzt, genügt zur vollständigen Urteilunfähigkeit nicht (SZS 193, S. 291). Demzufolge muss der Unfallcharakter einer suizidaren Handlung verneint werden, wenn sie lediglich als unverhältnismässig zu bezeichnen ist und nur diesbezüglich eine vollständige Urteilsunfähigkeit besteht (LGV 1992 II 39, S. 292 E. 2b).
Für diesen Nachweis ist nicht bloss die zu beurteilende Suizidhandlung von Bedeutung und somit nicht allein entscheidend, ob diese als unvernünftig uneinfühlbar oder abwegig erscheint. Vielmehr ist aufgrund der gesamten Umstände, wozu das Verhalten und die Lebenssituation des Versicherten vor dem Selbsttötungsereignis insgesamt gehören, zu beurteilen, ob er in der Lage gewesen wäre, den Suizid oder Suizidversuch vernunftmässig zu vermeiden oder nicht (TVR 2001 Nr. 39, E. 2b).
Da die Frage der Urteilsfähigkeit aufgrund von inneren Tatsachen (innerseelischen Abläufen) zur Zeit einer bestimmten Suizidhandlung zu beurteilen ist und ein strikter Beweis nach der Natur der Sache diesbezüglich ausgeschlossen ist (vgl. BGE 91 II 338 E. 8, 74 2/2005 E. 1), dürfen an den Nachweis der Urteilsunfähigkeit keine strengen Beweisanforderungen gestellt werden. Der Beweis der Urteilsunfähigkeit gilt als geleistet, wenn eine durch übermächtige Triebe gesteuerte Suizidhandlung als wahrscheinlicher erscheint als ein noch in erheblichem Masse vernunftgemässes und willentliches Handeln (TVR 2001 Nr. 39, a.a.O.).

b) Die Verwaltung als verfügende Instanz und – im Beschwerdefall – der Richter dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind. Im Sozialversicherungsrecht hat der Richter seinen Entscheid nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht (BGE 121 V 47 E. 2a, 208 E. 6b). Ob die Selbsttötung beziehungsweise der Suizidversuch im Zustande gänzlich fehlender Urteilsfähigkeit begangen wurde, ist von Amtes wegen zu prüfen. Den Parteien obliegt keine subjektive Beweislast. Eine solche besteht im Sozialversicherungsprozess nur in dem Sinne, dass im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (TVR 2001 Nr. 39, S. 154).

c) Der Arztbericht der Psychiatrischen Dienste Thurgau (Psychiatrische Klinik Münsterlingen) hält fest, da dem Suizidversuch am gleichen Tag die Mitteilung der Kündigung vorausgegangen sei, liege es nahe, den Versuch als raptusartige, ungeplante Handlung zu interpretieren. Eine eingehendere Stellungnahme diesbezüglich sei jedoch kaum möglich, da sich die Patientin dazu nicht äussern wolle und von den Angehörigen nur bedingt Angaben erhältlich seien. Eine Seite weiter vorne wird im Bericht festgehalten, der Suizidversuch sei für die Familienmitglieder ein völlig unerwartetes Ereignis gewesen, mit dem niemand gerechnet habe. Auf die Frage nach innerfamiliären Konflikten werde vom Sohn eine intakte Ehe der Eltern beschrieben, darüber hinaus gebe es in der Familie auch keine sonstigen Problemkonstellationen.
Das Versicherungsgericht hält diesen Bericht im vorliegenden Verfahren für nicht verwertbar, denn er ist offensichtlich in Unkenntnis der Aussagen in den umfangreichen polizeilichen Befragungen der Familienmitglieder und der Beschwerdeführerin ergangen. Diese ergeben ein ganz anderes Bild. Zunächst ist einmal auf die Einvernahme der Beschwerdeführerin selbst zu verweisen, in der sie zwar zunächst behauptete, sie könne sich an kaum mehr etwas erinnern. Danach gab sie jedoch zu, dass der Suizidversuch seit längerem geplant war. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass sie das Fläschchen mit der Essigsäure bereits einige Zeit vor dem Suizidversuch gekauft und es dann vor ihren Familienmitgliedern versteckt hatte. Nachdem sie zunächst noch behauptet hatte, sie habe das Fläschchen zum Einlegen von Gemüse gekauft, gab sie im Laufe der Befragung dann doch zu, dass die Säure im Hinblick auf einen möglichen Suizidversuch gekauft worden sei. Diese Aussage deckt sich im Übrigen mit der Aussage des Ehemanns der Beschwerdeführerin, der zu Protokoll gab, seine Frau habe bisher noch nie Gemüse einmachen müssen, da sie es jeweils in Gläsern kauften. Die Tochter der Beschwerdeführerin (L) sagte aus, es habe in letzter Zeit vermehrt Probleme wegen ihres (Ls) Freundes gegeben, den die Familie und damit auch die Mutter nicht akzeptiert hätten. Sie habe auch gewusst, dass ihre Mutter psychische Probleme habe (seit sie sich erinnern könne) und deswegen in ärztlicher Behandlung gewesen sei. Am Abend des Selbstmordversuchs sei sie zu Bett gegangen und die Beschwerdeführerin sei dann zu ihr ans Bett gekommen und habe gefragt, ob sie bei ihr bleiben könne. Da sie am anderen Morgen um 05.00 Uhr habe aufstehen müssen, habe sie das abgelehnt. Sie habe dann der Mutter geraten, zu Bett zu gehen und diese sei dann die Treppe hochgegangen. Wenig später habe sie die Mutter husten gehört. Sie sei aufgestanden, die Mutter sei dann die Treppe hinuntergekommen und habe zu ihr gesagt: «Lass mich los, ich will sterben. Es ist nicht deine Schuld, ich habe dich gern.» Die Beschwerdeführerin habe auch schon mehrfach gedroht, sie wolle sich das Leben nehmen. In Jugoslawien brächten sich viele Personen auf diese Weise um (was auch vom Bruder bestätigt wird).
Die Beschwerdeführerin begründet nicht näher, warum die Einvernahmeprotokolle der Kantonspolizei nicht verwertbar sein sollen. Entgegen ihrer Behauptung lässt sich auch nicht in irgendeiner Art und Weise erkennen, dass sie bei der Befragung unter Druck gesetzt worden wäre. Sie hat auch unterschriftlich bestätigt, dass sie von der Polizei korrekt behandelt wurde und sich frei und ohne Druck äussern konnte. Zudem war bei der Einvernahme der Beschwerdeführerin eine Übersetzerin zugegen. Verständigungsschwierigkeiten können also ausgeschlossen werden. Aufgrund der Akten ergibt sich somit das Bild einer Person, die bereits vor dem 17. Juni 2003 an einer depressiven Erkrankung litt, die zweifelsohne durch die familiären Probleme, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem Freund der Tochter, und den Problemen am Arbeitsplatz immer mehr verstärkt wurde. Die Beschwerdeführerin hat in Selbsttötungsabsicht längere Zeit vor dem Ereignis das Fläschchen mit Essigsäure gekauft und vor der Familie versteckt. Sowohl der Sohn als auch die Tochter der Beschwerdeführerin bestätigen, dass die Einnahme hochprozentiger Säure in Jugoslawien ein gängiges Mittel zum Suizid darstellt. Als der Beschwerdeführerin dann am 17. Juni 2003 die Kündigung in Aussicht gestellt wurde, hat sich der Zustand der Beschwerdeführerin sicherlich noch einmal verschlechtert und dies dürfte auch der auslösende Moment für den Selbstmordversuch gewesen sein. Nachdem die Beschwerdeführerin in der Familie letztlich kaum Rückhalt für ihre Probleme gefunden hat, hat sie sich offensichtlich dazu entschlossen, Suizid zu begehen. Gegen die Annahme einer vollständigen Urteilsunfähigkeit sprechen sowohl das planmässige Vorgehen, als auch die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin nach der Einnahme der Säure der Tochter gegenüber noch einmal ganz klar gesagt hat, sie wolle jetzt sterben.
Allein die Tatsache, dass jemand einen Selbstmord begeht, reicht für den Nachweis der völligen Unzurechnungsfähigkeit nicht aus. Bei so konkreten Indizien noch ein psychiatrisches Gutachten oder weitere Zeugen einvernehmen zu wollen, macht keinen Sinn. Zum einen ist doch die relativ lange Zeit zu berücksichtigen, seit der Suizid versucht wurde. Es dürften Erinnerungs- und Verdrängungslücken bestehen. Zum anderen kann die Einvernahme des Sohns Z nichts zur Klärung beitragen, da er selbst in der kritischen Zeit, als die Beschwerdeführerin die Säure einnahm beziehungsweise kurz davor, nicht zugegen war. Aufgrund der Aussagen in den Polizeibefragungen ist vielmehr für das Gericht erstellt, dass die Beschwerdeführerin – trotz zweifelsfrei eingeschränkter Urteilsfähigkeit – den Suizidversuch nicht im Zustand völliger Unfähigkeit, vernunftgemäss zu handeln, begangen hat. Vielmehr ist das Gericht überzeugt, dass die Beschwerdeführerin den Entschluss letzten Endes doch sehr bewusst getroffen hat.

Entscheid vom 7. Dezember 2005

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