TVR 2006 Nr. 17
Opferhilfe bei sexueller Beeinträchtigung eines Kindes
Art. 2 Abs. 2 aOHG, Art. 3 aOHG
1. Nicht jede geringfügige Beeinträchtigung der sexuellen Integrität eines unter 16-jährigen Mädchens macht sie zum Opfer im Sinne des OHG. Fall einer durch junge erwachsene Männer zu sexuellen Handlungen verleiteten Minderjährigen, die diese der Vergewaltigung bezichtigt und Strafanzeige macht, aber kurz darauf eingesteht, den Geschlechtsverkehr in gegenseitigem Einverständnis vollzogen zu haben (E. 2c).
2. Ist dem Mädchen die Opfereigenschaft abzusprechen, kann auch die Mutter nicht durch die Straftat betroffen sein (E. 2d aa). Familientherapiekosten für die Mutter sind schon deshalb nicht zu ersetzen.
Am 21. März 2005 begaben sich die Mutter G zusammen mit ihrer 15-jährigen Tochter S zum Kantonspolizeiposten, um Strafanzeige gegen zwei 20-jährige Männer zu erstatten. Die Tochter erklärte bei der Anzeigeerstattung, sie sei von den beiden ihr bekannten Männern in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 2005 in einem Auto vergewaltigt und in einem Waldstück allein zurückgelassen worden. Die beiden Männer wurden in der Folge für drei Tage in Untersuchungshaft genommen, während welcher sie zugaben, mit der unter 16jährigen S wiederholt sexuelle Kontakte gehabt zu haben, dies aber nie in einem Auto und immer im gegenseitigen Einverständnis. Am Ostersamstag, 26. März 2005, wurde S von der Polizei zu einer Tatortbesichtigung abgeholt, in deren Verlauf die junge Frau zugab, den Vorwurf der Vergewaltigung erfunden zu haben, um auf die Probleme in ihrer aktuellen Lebenssituation aufmerksam zu machen. Bei einer nachfolgenden Befragung als Angeschuldigte gab sie an, mit den beiden jungen Männern im gegenseitigen Einverständnis den Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben, ohne dabei vergewaltigt oder bedroht worden zu sein. Sie habe ihrer Mutter die Geschichte mit der Vergewaltigung erzählt, um damit ihre privaten Probleme lösen zu können. Als ihre Mutter vorschlug, eine Strafanzeige zu machen, sei sie einverstanden gewesen und sei immer mehr in die Sache hineingeschlittert. In der Folge wurde gegen die beiden jungen Männer ein Strafverfahren wegen sexueller Handlungen mit einem Kind unter 16 Jahren und gegen S ein Verfahren vor Jugendanwaltschaft wegen Falschanschuldigung eröffnet.
Mit Eingabe vom 20. Juli 2005 stellte die Beratungsstelle für Opfer von Straftaten dem DJS Antrag auf Kostengutsprache für weitere Hilfe gemäss Art. 3 Abs. 4 OHG, und zwar für die Familientherapie für die Mutter 10 Stunden und Kosten für anwaltliche Vertretung. Das DJS wies das Gesuch mit Entscheid vom 18. August 2005 im Wesentlichen mit der Begründung ab, S müsse die Opfereigenschaft abgesprochen werden. Da der Tochter die Opfereigenschaft abgesprochen werden müsse, könne sich auch die Mutter nicht auf Art. 2 Abs. 2 lit. a OHG berufen und um Kostenübernahme ersuchen. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Mutter weist das Verwaltungsgericht ab.
Aus den Erwägungen:
2. a) Aufgrund des Antrages vom 20. Juli 2005 geht es um zwei verschiedene Gesuche um Leistung von Opferhilfe, nämlich um
– Kosten von Fr. 600.– für die von der Beschwerdeführerin in Anspruch genommene familientherapeutische Hilfe bei der Fachstelle perspektive Westthurgau (dazu E. 2d).
– Kosten in nicht bezifferter Höhe für die anwaltliche Vertretung von S (dazu E. 2c).
Insofern die Beschwerdeführerin als Mutter von S Rechtsvertretungskosten geltend macht, geschieht dies im Rahmen ihrer Beistandspflicht gemäss Art. 272 ZGB beziehungsweise ihrer elterlichen Sorge gemäss Art. 304 ZGB.
b) Mit dem OHG soll den Opfern von Straftaten wirksame Hilfe geleistet und ihre Rechtsstellung verbessert werden. Die Hilfe umfasst Beratung, Schutz des Opfers und Wahrung seiner Rechte im Strafverfahren sowie Entschädigung und Genugtuung (Art. 1 OHG). Hilfe nach dem OHG erhält jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist (Opfer), und zwar unabhängig davon, ob der Täter ermittelt worden ist und ob er sich schuldhaft verhalten hat (Art. 2 Abs. 2 OHG). Eltern werden gemäss Art. 2 Abs. 2 OHG dem Opfer gleichgestellt bei der Beratung (lit. a), der Geltendmachung von Verfahrensrechten und Zivilansprüchen (lit. b) sowie von Entschädigung und Genugtuung (lit. c), soweit ihnen Zivilansprüche gegenüber dem Täter zustehen.
c) S (geboren 29. Oktober 1989) ist am 1./2. Februar 2005 nicht zur Duldung des Beischlafs genötigt worden (Vergewaltigung im Sinne von Art. 190 StGB), sondern in der Zeit von November 2004 bis Februar 2005 als 151/2Jährige zu sexuellen Handlungen verleitet worden (Art. 187 StGB). Allerdings ist sie gleichzeitig Täterin, hat sie doch die jungen Männer der Vergewaltigung bezichtigt (falsche Anschuldigung, vgl. Art. 303 StGB). Zudem wird sie der Irreführung der Rechtspflege (Art. 304 StGB) beschuldigt. Grundsätzlich kann sie als Opfer im Sinne des Kindesmissbrauchs unmittelbar in ihrer sexuellen Integrität beeinträchtigt worden sein.
aa) Mit dem Begriff Integrität ist die Unversehrtheit im Sinne des Zustandes vor der Straftat gemeint. Die Integrität ist verletzt, wenn sich der körperliche oder seelische Zustand des Opfers nach der Straftat verändert hat. Hat ein sexueller Eingriff in die Integrität körperliche oder psychische Folgen, erweist sich die Opfereigenschaft ohne Probleme (Gomm/Stein/Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995, Art. 2, Rz 7 und 9). Fehlt es daran, so ist ein Opfer gleichwohl geschützt und damit anspruchsberechtigt. Zumindest hat es Anspruch auf Beratung, eventuell Genugtuung und auf besonderen Rechtsschutz im Strafverfahren gegen den Täter.
Die Rechtsprechung geht jedoch davon aus, dass nicht jede geringfügige Beeinträchtigung der sexuellen Integrität die betroffene Person zu einem Opfer im Sinne des Gesetzes werden lässt. Vielmehr ist eine nach objektiven Kriterien erhebliche Verletzung dieses Integritätsbereiches nötig (Gomm/ Stein/Zehntner, a.a.O., Art. 2, Rz 11 am Ende).
bb) Ohne die sexuelle Integrität eines Kindes grundsätzlich in Frage zu stellen, liegt hier jedoch ein Fall vor, bei dem weder objektive noch subjektive Kriterien gegeben sind, die auf eine erhebliche Beeinträchtigung der sexuellen Integrität schliessen liessen. So liegen keinerlei Anhaltspunkte vor, die auf eine psychische Beeinträchtigung von S durch die Tat hinweisen. Ihre Probleme liegen gemäss ihren eigenen Angaben vielmehr in der damaligen privaten Lebenssituation. Dem Bericht der Psychiatrischen Dienste Thurgau vom 2. September 2005 ist zu entnehmen, dass die Frage, ob sich die psychische Befindlichkeit von S verändert habe, nicht zu beurteilen sei. Die von S gezeigten und beschriebenen Symptome wiesen auf eine länger dauernde depressive Reaktion hin, die zum Untersuchungszeitpunkt im April/Mai 2005 bereits seit längerer Zeit bestanden habe. Diese lasse sich auch mit der sehr angespannten familiären wie schulischen Situation erklären. In der Untersuchung habe einzig eindeutig beobachtet werden können, dass S beim Sprechen über die jungen Männer plötzlich starke psychovegetative Reaktionen gezeigt habe, indem sich ihr Hals stark rötete und sie etwas zu zittern begonnen habe.
Auch die Tatsache, dass S nach dem Vorfall wieder eine Beziehung (26. Februar bis 26. März 2005) mit sexuellem Kontakt einging (also voll im Bewusstsein ihres Kindesalters und der Strafbarkeit ihres neuen Partners) sowie die aktive Art und Weise, wie sie mit den jungen Männern kommunizierte und sexuellen Kontakt pflegte, lassen – wie gesagt – auf keine erhebliche Beeinträchtigung der sexuellen Integrität schliessen, so dass ihr die «Opferqualität» abzusprechen ist. Von der behaupteten Verunsicherungssituation ist da wenig zu erblicken.
Gemäss BGE 125 II 265 ist entscheidend, ob die Beeinträchtigung des Geschädigten in seiner Integrität das legitime Bedürfnis begründet, die Hilfsangebote und die Schutzrechte des Opferhilfegesetzes ganz oder zumindest teilweise – in Anspruch zu nehmen. Das hielt S wohl selbst nicht für nötig, erklärte sie doch am 26. März 2005 anlässlich der Tatortbesichtigung gegenüber der Polizeibeamtin, es gäbe einige Probleme zu Hause. Die Situation habe sich etwas gebessert, habe sich doch ihre Mutter ihrer angenommen und sich mehr um sie gekümmert. Offenbar sah sie sich selbst nicht als Opfer.
cc) Es kommt hinzu, dass anwaltliche Vertretung von S in der Opferrolle nicht stattfand, sie vielmehr fünf Tage nach der Strafanzeige in die Rolle als Täterin beziehungsweise Angeschuldigte mutierte und das Auftreten der Rechtsbeiständin in dieser Rolle erfolgte.
d) Hauptgewichtig geht es der Beschwerdeführerin jedoch um die Übernahme der Kosten für die von ihr in Anspruch genommene familientherapeutische Hilfe. Das DJS hat S die Opfereigenschaft abgesprochen, womit sich die Mutter auch nicht auf Art. 2 Abs. 2 lit. a OHG berufen und um Kostenübernahme ersuchen könne.
aa) Von einer Straftat betroffen sein kann – neben dem Opfer – auch eine ihr nahestehende Person. Dem hat der Gesetzgeber mit Art. 2 Abs. 2 OHG Rechnung getragen. Nachdem S aber die Opfereigenschaft aufgrund unerheblicher Betroffenheit abzusprechen ist (vgl. E. 2 c) aa), ist ihr die Beschwerdeführerin gleichgestellt, was heisst, dass ihr das DJS grundsätzlich zu Recht eine Kostengutsprache nicht bewilligte.
bb) Im Bereich der Opferberatung werden dem Opfer nahe stehende Personen dem Opfer ohne Einschränkung gleichgestellt (Art. 2 Abs. 2 lit. a OHG). In den beiden anderen Bereichen (Art. 2 Abs. 2 lit. b und c OHG) schützt das Gesetz lediglich Personen, denen gegenüber dem Täter Zivilansprüche zustehen. Die Beratung umfasst neben der Information über die Hilfe insbesondere medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe (Art. 3 Abs. 2 OHG). Die Beratungsstellen leisten ihre Hilfe sofort und wenn nötig während längerer Zeit (Art. 3 Abs. 3 1. Satz OHG). Bei zunehmender Intensität der im Rahmen der von Art. 3 OHG zu erbringenden Leistungen sind höhere Anforderungen an die Betroffenheit der ansprechenden Personen zu stellen (Gomm/Stein/Zehntner, a.a.O., Art. 2, Rz 28).
Die Beschwerdeführerin hat psychologische Beratung erst im Juni 2005 in Anspruch genommen (vgl. Schreiben vom 5. September 2005), also zu einer Zeit, als die Tochter längst auch Angeschuldigte war. Gemäss diesem Schreiben habe die Beschwerdeführerin um diese Beratung ersucht, nachdem ihre Tochter zuvor Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sei. Sie habe sich als alleinerziehende und engagierte Mutter grosse Sorgen um ihre Tochter gemacht, die auf das belastende Ereignis mit emotionalem Rückzug und starken Stimmungsschwankungen reagiert habe. Als Mutter habe sie nach einem Weg gesucht, wie sie ihre Tochter in dieser schwierigen Situation habe angemessen unterstützen können, was angesichts des entwicklungsbedingten Abgrenzungsverhaltens der Tochter nicht einfach gewesen sei. Daraus erhellt, dass es um Familientherapie ging und weniger um psychologische Therapie zur Überwindung der Situation nach der Straftat. Von nicht zu entgeltender Therapie sprechen auch Gomm/Stein/Zehntner (a.a.O., Art. 2, Rz 28), indem sie die Meinung vertreten, die Mutter eines minderjährigen Opfers eines Sexualdeliktes dürfe wohl Anspruch auf eine juristische Beratung haben, nicht jedoch eine langjährige psychologische Therapie beanspruchen können, sofern nicht besondere Umstände eine schwerste Betroffenheit erklärlich machten. Solche besonderen Umstände sind nicht ersichtlich und werden auch nicht geltend gemacht.
Entscheid vom 11. Januar 2006