TVR 2006 Nr. 36
Leistungspflicht des Zusatzversicherers nach untauglichem Suizidversuch
1. Schliessen die AVB einer Zusatzversicherung die Leistungen nach einem Suizidversuch aus, so besteht die Leistungspflicht dennoch, wenn der Versuch mit einem völlig untauglichen Mittel begangen wurde (E. 2b aa).
2. Die Leistungspflicht darf nur verweigert werden, wenn die Behandlungsbedürftigkeit, die Kosten auslöst, auch wirklich Folge des Suizidversuchs ist (E. 2b bb).
X war bei der C obligatorisch krankenpflegeversichert und hatte bei ihr zudem eine Zusatzversicherung (halbprivat) abgeschlossen. Zufolge ihrer beruflichen Belastungssituation wies sie ihr Hausarzt in die Klinik Y ein mit der Diagnose: reaktive Depression mit Tentamen. In einem Schreiben teilte die Klinik Y der C mit, X sei «vor Eintritt suizidal» gewesen. Anfragen der C hinsichtlich der Suizidalität blieben zunächst unbeantwortet. X trat in der Folge in die Klinik I ein. Im Kostengutsprachegesuch für diese Klinik wurde wiederum ausgeführt, X sei nach einem Suizidversuch in die Klinik Y eingeliefert worden. Hierauf verweigerte die C unter Verweis auf ihre AVB die Leistungen aus der Zusatzversicherung. Die von X hiergegen erhobene Klage heisst das Versicherungsgericht gut.
Aus den Erwägungen:
2. a) aa) Gemäss Art. 33 VVG haftet der Versicherer für alle Ereignisse, welche die Merkmale der Gefahr, gegen deren Folgen die Versicherung vorgenommen wurde, in sich tragen, es sei denn, dass der Vertrag einzelne Ereignisse in bestimmter, unzweideutiger Fassung von der Versicherung ausschliesst. Gestützt auf diese Norm hat die Krankenkasse C in Art. 31.1 AVB folgende Ausschlüsse formuliert: «Krankheiten und Unfälle, die in Zusammenhang mit nachstehenden Ereignissen auftreten, sind von der Versicherung unter anderem ausgeschlossen:
– Teilnahme an kriegerischen Handlungen oder Terrorakten;
– Teilnahme an Unruhen, Demonstrationen oder ähnlichen Anlässen;
– vorsätzliche oder grobfahrlässige Ausübung von Verbrechen und Vergehen;
– Beteiligung an Raufereien und Schlägereien, es sei denn, der Versicherte sei als Unbeteiligter oder bei Hilfeleistung für einen Wehrlosen durch die Streitenden verletzt worden;
– Gefahren, denen sich der Versicherte dadurch aussetzt, dass er andere stark provoziert;
– Einwirkung ionisierender Strahlen und Schäden aus Atomenergie;
– Konsum von Drogen, Betäubungs- und Suchtmitteln sowie Alkohol- und Medikamentenmissbrauch;
– versuchte oder vollendete Selbsttötung oder Selbstverstümmelung.»
Gemäss Art. 8.1 AVB gilt als Krankheit jede vom Willen des Versicherten unabhängige, medizinisch wahrnehmbare körperliche oder geistige Gesundheitsstörung, die ärztliche Behandlung notwendig macht und nicht auf einen Unfall oder eine unfallähnliche Körperschädigung entsprechend der Definition in der obligatorischen Unfallversicherung zurückzuführen ist. Als Unfall gilt gemäss Art. 9 AVB die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper sowie unfallähnliche Körperschädigungen entsprechend der Definition in der obligatorischen Unfallversicherung.
bb) Die Geltung vorformulierter AVB wird durch die sogenannte Unklarheits- und die Ungewöhnlichkeitsregel eingeschränkt. Nach der Unklarheitsregel sind mehrdeutige Klauseln in Versicherungsverträgen gegen den Versicherer als deren Verfasser auszulegen (BGE 122 III 118, E. 2a, S. 121). Diese Regel ist indes erst dann anzuwenden, wenn die übrigen Auslegungsmittel zu keinem Resultat führen und der bestehende Zweifel nicht anders beseitigt werden kann.
Nach der Ungewöhnlichkeitsregel sind von der globalen Zustimmung zu allgemeinen Geschäftsbedingungen alle ungewöhnlichen Klauseln ausgenommen, auf deren Vorhandensein die schwächere oder weniger geschäftserfahrene Partei nicht besonders aufmerksam gemacht worden ist. Im Bereich der AVB kann diese Regel zur Anwendung gelangen, wenn der durch Bezeichnung und Werbung beschriebene Deckungsumfang ganz erheblich reduziert wird, so dass gerade die häufigsten Risiken nicht mehr gedeckt sind, wenn Sinn und Tragweite einer Bestimmung infolge komplizierter Formulierung verklausuliert sind oder wenn sie aufgrund ihres Standorts innerhalb der AVB für den Versicherungsnehmer überraschend und unerwartet erscheint (BGE vom 1. Oktober 2004, Fall Nr. 5C.134/2004). Mit der Relativierung der Eindeutigkeitsregel ist nicht mehr zwingend auf den klaren Wortlaut abzustellen; indes besteht nur dann Anlass, vom Wortsinn abzuweichen, wenn triftige Gründe für die Annahme bestehen, der Wortlaut entspreche nicht dem wirklichen Parteiwillen (BGE 128 III 212, E. 2b/bb).
b) aa) Damit die Beklagte unter Berufung auf Art. 33.1 AVB ihre Leistung verweigern darf, muss zunächst einmal ein Selbsttötungsversuch vorliegen. Dabei genügt es selbstverständlich nicht, dass ein Versicherter eine (seiner Meinung nach) selbstschädigende Handlung vornimmt, verbunden mit dem Wunsch, nicht mehr weiter zu leben. Vielmehr muss darüber hinaus verlangt werden, dass die vorgenommene Handlung auch objektiv dazu geeignet ist, den entsprechenden Schaden (die Selbsttötung oder zumindest eine Selbstschädigung) herbeizuführen.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit führt die Einnahme von 8 Tabletten Temesta à 1 mg nicht zum Tod. Dies gilt jedenfalls so lange, als das Medikament nicht in Kombination mit anderen Medikamenten eingenommen wird. Vorliegend ist den Akten kein Hinweis zu entnehmen, dass die Klägerin noch weitere Medikamente eingenommen hätte. In der Fachinformation des Arzneimittel-Kompendiums der Schweiz zu Temesta (AMZV9.11.2001) steht beschrieben, dass eine Überdosis dieses Medikamentes sehr selten, also in weniger als 0.01% der Fälle zum Tod führen kann.
Fraglich ist im Übrigen allein schon, ob die von der Versicherten eingenommene Menge (8 mg) überhaupt als Überdosis bezeichnet werden muss. Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass 3x2.5 mg einer ordentlichen Tagesdosis entsprechen. Es kann also höchstens von einer erhöhten Dosis, nichtaber von einer Überdosis, was für einen Selbstmordversuch notwendig wäre, gesprochen werden. Selbst wenn also die Klägerin im Moment der Einnahme ihren Lebensmut völlig verloren hätte, so wäre von einem untauglichen Versuch auszugehen. Objektiv betrachtet lag kein Selbstmordversuch vor. Die Voraussetzungen von Art. 31.1 AVB sind somit nicht erfüllt.
bb) Die Bestimmung von Art. 33.1 AVB, wonach die Leistungspflicht ausgeschlossen ist, wenn Krankheit oder Unfall im Zusammenhang mit einem Selbsttötungsversuch stehen, ist auslegungsbedürftig. Mit der Bestimmung von Art. 31.1 AVB hat die Beklagte Ereignisse von der Versicherungspflicht ausgeschlossen, wenn die Krankheit oder der Unfall Folge eines dieser Ereignisse sind. Dies gilt jedenfalls für die weit überwiegende Zahl der Ereignisse, die in der zitierten Aufzählung von Art. 31.1 AVB genannt werden. Im Kontext mit den übrigen Fällen von Art. 31.1 AVB ist daher die Bestimmung, wonach die Leistungen ausgeschlossen sind, wenn sie im Zusammenhang mit versuchter oder vollendeter Selbsttötung auftreten, so zu verstehen, dass sie nur dann zur Anwendung gelangt, wenn dadurch tatsächlich ein an sich leistungsauslösender Gesundheitsschaden eintritt. Diese Auslegung von Art. 31.1 AVB muss deshalb verlangt werden, weil bei depressiven Patienten notorisch eine gewisse Suizidalität latent vorhanden ist und die Krankheit (Depression) ja nicht selten auch mit Medikamenten wie Temesta oder ähnlichen Präparaten (unter anderem bei Schlafstörungen) behandelt wird. Nur so kann in den nicht seltenen Fällen einer depressiven Erkrankung zwischen leistungspflichtigen Fällen und denjenigen, in denen die Leistung verweigert werden darf, eindeutig unterschieden werden.
Die Einnahme der erhöhten Dosis Temesta hat keinerlei Gesundheitsschäden zur Folge gehabt, für die die Beklagte einstehen müsste. Vielmehr steht die Behandlungsbedürftigkeit der Klägerin im Zusammenhang mit ihrer reaktiven Depression, die so schwere Züge angenommen hat, dass auch ohne den genannten Vorfall eine stationäre Behandlung notwendig geworden ist. Dies wird von Seiten der Klinik Y mehrfach dargelegt und die Beklagte beziehungsweise ihr Vertrauensarzt bestreitet dies auch nicht ernsthaft. Allerdings, und darin ist der Beklagten Recht zu geben, war das Verhalten der Klinik völlig inakzeptabel. Dem Vertrauensarzt der Beklagten hätte sofort und umfassend Auskunft erteilt werden müssen. Solange dies nicht der Fall war, durfte die Beklagte die Leistung verweigern.
Entscheid vom 18. Januar 2006