TVR 2009 Nr. 11
Verhältnis kindesschutzrechtlicher Massnahmen zur Opferhilfe
Art. 3 Abs. 4 aOHG, Art. 14 aOHG
Weisen Massnahmen in sachlicher Hinsicht sowohl eine kindes- als auch eine (untergeordnete) opferschutzrechtliche Komponente auf und überschneidet sich somit die Zielsetzung des Kindesschutzes mit derjenigen des Opferschutzes, so lässt sich kein Vorrang der Opferhilfe begründen. Leistungspflichtig wird somit die Gemeinde im Rahmen der Sozialhilfe, sofern nicht die unterhaltspflichtigen Personen herangezogen werden können.
J wurde von der Amtsvormundin der Gemeinde P unter Mithilfe der Opferhilfestelle am 24. Juni 2008 in der Betreuungseinrichtung «B» platziert. J zeigte Selbstverletzungstendenzen und drohte mit Suizid. Die Fachstelle Opferhilfe leistete nach Rücksprache mit dem DJS am 1. Juli 2008 Kostengutsprache für 42 Tage à Fr. 250.– für die Platzierungskosten. Am 3. Juli 2008 stellte die Gemeinde P einen Antrag betreffend Kostenübernahme für die Abklärung weiterer Massnahmen. Vor Ablauf der sechs Wochen, für welche eine Kostengutsprache der Opferhilfestelle bestand, tauchten Meinungsverschiedenheiten über die weitere Finanzierung der Fremdplatzierung auf. Die Gemeinde weigerte sich, eine Kostengutsprache für Pflegeleistungen und Nebenkosten zu leisten und verwies die «B» an die Fachstelle Opferhilfe. Aufgrund der Dringlichkeit leistete das DJS Kostengutsprache für weitere zwei Wochen bis zum 18. August 2008. Eine weitere und letzte Kostengutsprache wurde bis längstens 23. September 2008 in Aussicht gestellt, wenn verschiedene Bedingungen durch Gemeinde und Institution erfüllt würden, unter anderem die Unterzeichnung des Kostengutsprachegesuches für die ersten sechs Wochen. Die Amtsvormundin unterschrieb dieses Gesuch am 7. August 2008. Am 15. August 2008 reichte die Fachstelle ein Gesuch um Verlängerung der Kostengutsprache für die Platzierungskosten sowie für Abklärungen der E beim DJS ein. Mit Schreiben vom 1. September 2008 erteilte das DJS Kostengutsprache für die Platzierung in der «B» lediglich bis zum 18. August 2008 und wies das Gesuch um Übernahme der Kosten der Abklärungen der E ab. Kostengutsprache wurde zudem für 30 Therapiestunden à maximal Fr. 142.– gewährt. Dieser Entscheid wurde vom DJS bestätigt. In der Folge wurde Beschwerde erhoben und beantragt, es sei die Vorinstanz anzuweisen, Kostengutsprache im Sinne der weiteren (längerfristigen) Hilfe für den Aufenthalt in der «B» zu Lasten der Opferhilfe zu leisten. Das Verwaltungsgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
1.3 Auf den 1. Januar 2009 wurde das aOHG durch das revidierte Opferhilfegesetz vom 23. März 2007 abgelöst. Nach Art. 48 des revidierten Gesetzes ist für die materielle Beurteilung des vorliegenden Falles noch das alte bis Ende Dezember 2008 gültig gewesene Gesetz (aOHG) anwendbar, worauf im Folgenden auch verwiesen wird.
1.4 (…)
2.
2.1 Im vorliegenden Fall zu beurteilen ist das Verhältnis familienrechtlicher Kindesschutzmassnahmen zur Opferhilfe. Das DJS erteilte gestützt auf das Opferhilfegesetz vom 24. Juni 2008 bis 18. August 2008, also insgesamt für 8 Wochen, Kostengutsprache für die Platzierungskosten von J in der «B». Danach erachtet die Vorinstanz die Gemeinde, respektiv die Vormundschaftsbehörde, als zuständig. Diese stellt sich auf den Standpunkt, dass die Finanzierung einer Fremdplatzierung so lange über die Opferhilfe finanziert werden müsse, als die Bedrohungssituation anhalte. Das DJS stützt seine Auffassung auf einen Entscheid des Regierungsrates des Kantons Solothurn aus dem Jahre 1997 (GER 1997 Nr. 3). Diese Auffassung wurde jedoch in der Zwischenzeit durch verschiedene weitere Gerichtsurteile präzisiert und zum Teil überholt. Wegweisend ist das Urteil des Bundesgerichts BGE 125 II 230. Das Bundesgericht hält in diesem Urteil auf Seite 236 klar fest, dass Art. 14 aOHG, welcher die Subsidiarität der staatlichen Opferhilfeleistung umschreibt, nicht auf eine Anspruchskollision zwischen kindesschutzrechtlicher Massnahme und Opferhilfe anwendbar sei. Auch fände sich sonst keine ausdrückliche Regelung dieser Frage im Gesetz. Der vorliegend zu beurteilende Fall lässt sich mit demjenigen in BGE 125 II 230 ohne Weiteres vergleichen. Aufgrund des Abklärungsberichtes der E vom 23. September 2008 kann davon ausgegangen werden, dass die Fremdplatzierung von J nur zu einem ganz untergeordneten Teil eine Folge der Schläge durch die Mutter gewesen ist. Es wird eindrücklich das familiäre Umfeld geschildert, woraus ersichtlich ist, dass die Eltern und insbesondere die Mutter, zur richtigen Erziehung von J unfähig sind. Mit dem Bundesgericht kann deshalb geschlossen werden, dass vor diesem Hintergrund die Massnahme in sachlicher Hinsicht sowohl eine kindes- als auch eine (untergeordnete) opferschutzrechtliche Komponente aufweist und sich somit die Zielsetzung des Kindesschutzes mit derjenigen des Opferschutzes überschneidet. Auch hier trifft zudem die Beurteilung zu, dass den Folgen der Straftat kein derart ursächliches Gewicht zukommt, dass man sagen könnte, der kindesschutzrechtliche Charakter der Massnahme werde in den Hintergrund gedrängt. Ein Vorrang der Opferhilfe kann somit nicht begründet werden. In einem späteren Entscheid des Bundesgerichtes vom 26. Januar 2001 (1A.249/2000) hielten die Richter ebenfalls fest, dass bei der Beurteilung, welche Hilfe der anderen vorgeht, in erster Linie auf die konkreten Umstände abzustellen sei. In beiden zitieren Bundesgerichtsentscheiden ging es zwar darum, zu entscheiden, ob die Opferhilfe nachträglich Kosten für die Fremdplatzierungen übernehmen muss. Es ist aber auch so, dass für einen Anspruch auf Opferhilfe eine Straftat kausal für den Schaden sein muss, wenn die Beratungsstelle von Beginn weg bei der fraglichen Fremdplatzierung miteinbezogen worden ist. Auch dann ist aufgrund der konkreten Umstände im Einzelfall zu prüfen, ob und wie lange eine Hilfe im Sinne von Art. 3 aOHG angezeigt ist.
2.2 Vorliegend sind die Akten aussagekräftig genug, um den Fall abschliessend beurteilen zu können. Die Amtsvormundschaft beauftragte mit Schreiben vom 17. Juli 2008 die E mit der Abklärung der Gefährdung von J im Elternhaus. Am 23. September 2008 verfasste lic. phil. P einen 27-seitigen Bericht. Ein Bericht liegt auch von der Fachstelle D vor. Aus beiden Berichten ist ersichtlich, dass J unter den Auseinandersetzungen mit der Mutter litt. Die Mutter gebe ihr das Gefühl, sie sei nicht erwünscht und drohe ihr, dass sie in ein Heim komme. Unter Alkoholeinfluss der Mutter kam es regelmässig zu Auseinandersetzungen. Gemäss Bericht der E ist die von der Mutter ausgehende Gewalt nur eines von vielen Problemen. Die Berichterstatterin sieht Schwierigkeiten in Bezug auf die Fürsorgepflicht der Eltern im Allgemeinen, so dass sie auch eine Gefährdung des jüngeren Bruders befürchtet. Es ist offensichtlich, dass es hauptsächlich um die mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern geht. Die Gewaltausbrüche der Mutter sind lediglich ein Teil dieser Problematik. Der strafrechtliche Aspekt steht somit stark im Hintergrund. Dies zeigt auch die Tatsache, dass offensichtlich gegen die Mutter kein Strafverfahren eröffnet wurde. Zumindest liegen keine solchen Angaben im Recht. Zwar lagen der Vorinstanz beim Verfassen ihres Schreibens vom 1. September 2008 (informelle Ablehnung des Gesuches um Kostengutsprache ab dem 19. August 2008) diese beiden relevanten Berichte noch nicht vor. Dies dürfte auch nicht der Fall gewesen sein, als schliesslich der anfechtbare Entscheid vom 21. Oktober 2008 erging. Diesbezüglich ist die Vorinstanz darauf aufmerksam zu machen, dass sie bei diesem Entscheid den Sachverhalt sicherlich zu wenig abgeklärt hatte. Dies konnte nun aber im Verfahren vor Verwaltungsgericht nachgeholt werden. Nachträglich hat sich nun auch gezeigt, dass der Entscheid der Vorinstanz aufgrund der konkreten Umstände gerechtfertigt war. Zudem hat die Vorinstanz durch ihre befristeten Leistungszusprechungen im Rahmen einer Soforthilfe denn auch nie einen Vorrang der Opferhilfe gegenüber der Sozialhilfe anerkannt. Die weitere Unterbringung von J ist daher – sofern die übrigen Voraussetzungen gegeben sind und nicht die unterhaltspflichtigen Personen zur Leistung herangezogen werden können – von der Gemeinde im Rahmen der Sozialhilfe zu tragen.
Entscheid vom 1. Juli 2009