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TVR 2009 Nr. 35

Medizinische Massnahmen (Psychotherapie)


Art. 12 IVG


Psychotherapeutische Massnahmen gehen nicht zulasten der Invalidenversicherung, wenn die Prognose unbestimmt ist und/oder die Behandlung eine medizinische Vorkehr von zeitlich unbegrenzter Dauer darstellt.


Die 1996 geborene B wurde im November 2008 wegen eines psychosomatischen Schmerzsyndroms bei der Invalidenversicherung gemeldet. Beantragt wurde die Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Behandlung. Gestützt auf einen Arztbericht der Tagesklinik des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD), wo sich B seit November 2008 tagsüber aufhält, und auf einen Arztbericht der Alpinen Kinderklinik Davos, wo B vom 28. Juli 2008 bis 11. September 2008 hospitalisiert war, kam die IV-Stelle zum Schluss, die Voraussetzungen für die beantragte Kostenübernahme seien nicht gegeben. Mit Verfügung vom 16. Juni 2009 wies sie das Leistungsbegehren ab. Dagegen erheben B und die Krankenversicherung Beschwerde, welche abgewiesen wird.

Aus den Erwägungen:

2. Nach Art. 12 IVG und Art. 2 Abs. 1 IVV besteht ein Anspruch auf Übernahme medizinischer Massnahmen durch die Invalidenversicherung, wenn durch die Vorkehr stabile oder wenigstens relativ stabilisierte Folgezustände von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall behoben oder gemildert werden, um die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Bei Minderjährigen können medizinische Vorkehren schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Charakters des Leidens von der Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein anderer stabilisierter Zustand einträte, welcher die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich beeinträchtigen würde. Die entsprechenden Kosten werden bei Minderjährigen also von der Invalidenversicherung getragen, wenn das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden stabilen pathologischen Zustand führen würde (BGE 131 V 9 E. 4.2).
Gemäss ständiger Rechtsprechung kommen medizinische Massnahmen der Invalidenversicherung jedoch nicht in Betracht, wenn sich solche Vorkehren gegen psychische Krankheiten richten, die nach der herrschenden Auffassung der Psychiatrie ohne kontinuierliche Behandlung nicht dauerhaft gebessert werden können. Die Übernahme von Psychotherapie als medizinische Massnahme fällt aber nicht schon deshalb ausser Betracht, weil es um eine über längere Zeit hinweg dauernde Behandlung geht. Bezüglich der Anspruchsvoraussetzungen von Art. 12 IVG bei nichterwerbstätigen minderjährigen Versicherten ist nicht entscheidend, ob eine Sofortmassnahme oder zeitlich ausgedehntere (aber nicht unbegrenzte) Vorkehr angeordnet wird. Die Massnahme zur Verhütung einer Defektheilung oder eines sonst wie stabilisierten Zustandes bei einem Kind können sehr wohl eine gewisse Zeit andauern. Damit die Invalidenversicherung dafür aufzukommen hat, dürfen sie jedoch nicht Dauercharakter haben, das heisst zeitlich unbegrenzt erforderlich sein, wie dies beispielsweise bei Diabetes oder bei Schizophrenien und manischdepressiven Psychosen zutrifft. In solchen Fällen dient die medizinische Massnahme regelmässig nicht der Verhinderung eines stabilen Defektzustandes, der sich in naher Zukunft einstellen würde. Gegenteilig verhält es sich, wenn gemäss spezialärztlicher Feststellung von einer weiteren Behandlung erwartet werden darf, dass der drohende Defekt mit seinen negativen Auswirkungen auf die Berufsbildung und Erwerbsfähigkeit ganz oder in wesentlichem Ausmass verhindert werde, im Einzelfall mit hinlänglicher Zuverlässigkeit eine günstige Prognose gestellt werden kann. Die Prognose muss mithin zwei Aussagen enthalten: zunächst muss erstellt sein, dass ohne die vorbeugende Behandlung in naher Zukunft eine bleibende Beeinträchtigung eintreten würde; gleichzeitig muss ein ebenso stabiler Zustand herbeigeführt werden können, in welchem vergleichsweise erheblich verbesserte Voraussetzungen für die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit herrschen. Daraus folgt, dass eine therapeutische Vorkehr, deren Wirkung sich in der Unterdrückung von Symptomen erschöpft, nicht als medizinische Massnahme im Sinne des Art. 12 IVG gelten kann, selbst wenn sie im Hinblick auf die schulische und erwerbliche Eingliederung unabdingbar ist. Denn sie ändert am Fortdauern eines labilen Krankheitsgeschehens nichts und dient dementsprechend nicht der Verhinderung eines stabilen pathologischen Zustandes (Urteil des Bundesgerichts I 32/06 vom 9. August 2007 E. 6.1).

3.
3.1 Die Beschwerdegegnerin lehnt eine Kostengutsprache für die Psychotherapie für B mit der Begründung ab, es liege ein chronisches Krankheitsbild vor, weswegen eine psychotherapeutische Behandlung nötig sei, welche voraussichtlich noch lange Zeit andauern werde. Bei B stehe absolut die Behandlung der Erkrankung im Vordergrund und nicht die berufliche Integration. Krankheiten, die nach der heutigen Erkenntnis der Medizin einer Dauerbehandlung bedürfen, gehörten nicht in den Zuständigkeitsbereich der Invalidenversicherung. Die Beschwerdeführerinnen stellen sich demgegenüber auf den Standpunkt, die psychotherapeutische Behandlung sei eine Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 IVG. Die Behandlung sei primär nötig, damit B ihre Schulpflicht erfüllen könne und sei damit eingliederungswirksam. Zudem handle es sich nicht um ein chronisches Leiden und auch die Feststellung, die Behandlung der Erkrankung stehe im Vordergrund, sei unzutreffend.

3.2 B befindet sich seit März 2007 in ambulanter Behandlung im KJPD. Trotz dieser Therapie spitzte sich die Schmerzproblematik zu. Von Juli 2008 bis September 2008 hielt sie sich sodann in der Alpinen Kinderklinik in Davos auf. Seither wird ein günstiger Entwicklungsverlauf und eine Abnahme der Schmerzproblematik beschrieben. Seit Oktober 2008 besucht B die Tagesklinik des KJPD. Im Bericht vom 6. Januar 2009 des KJPD wird eine gute Prognose gestellt und eine Rückkehr in eine Regelklasse bei einer Fortsetzung der derzeitigen Entwicklung im Laufe des Sommerhalbjahrs 2009 als möglich bezeichnet. Ziel sei die Rückkehr von B in einen geeigneten schulischen Rahmen und der Aufbau eines altersentsprechenden Freizeitverhaltens und einer erhöhten sozialen Kompetenz. Im Bericht vom 23. April 2009 wiederholen die Verantwortlichen des KJPD, bei B stehe derzeit die schulische und damit auch die berufliche Rehabilitation im Vordergrund. Die sozialphobische Komponente ihrer Somatisierungsstörung habe ihr zunehmend die Teilnahme am schulischen Unterricht verunmöglicht. Durch die Therapie in der Tagesklinik seien die Schmerzen weniger geworden. Nach dem jetzigen Verlauf rechne man mit einer Rückkehr in den schulischen Rahmen im Sommer/Herbst 2009. Ohne eine entsprechende Behandlung wäre B von einer frühen Invalidisierung bedroht.
Aus den medizinischen Unterlagen ergibt sich somit, dass der Gesundheitszustand von B durch den stationären Aufenthalt in der Alpinen Kinderklinik in Davos und die seitherige Therapie in der Tagesklinik im KJPD zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes geführt hat. Dort stellt man eine positive Prognose in dem Sinne, dass man eine Reintegration in die Regelschule für absehbar und als Ziel erklärt. Aus den Akten geht jedoch auch hervor, dass trotz ambulanter Behandlung durch den KJPD sich der Zustand Bs seit März 2007 verschlechtert hatte und erst mit einer stationären Intervention eine Stabilisierung und später wieder eine Verbesserung hat erzielt werden können. Im hier massgeblichen Prüfungszeitraum bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung (vgl. Urteil des Bundesgerichts 9C_235/2009 vom 30. April 2009, E. 3.3) konnte somit der vor der Hospitalisation im Juli 2008 gewesene Zustand noch nicht erreicht werden. Angesichts des Schweregrades der Somatisierungsstörung und der «emotionalen Störung des Kindesalters» von B ist davon auszugehen, dass auch nach einer Reintegration in die Regelschule eine ambulante psychiatrische Behandlung, wie sie seit März 2007 erfolgte, notwendig sein wird. Die Dauer der psychiatrischen Therapie ist somit nicht vorhersehbar, mithin zeitlich unbegrenzt. Es kann somit durch die Behandlung kein stabiler Zustand herbeigeführt werden, in welchem vergleichsweise erheblich verbesserte Voraussetzungen für die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit bestehen (vgl. Urteil des Bundesgerichts I 501/06 vom 29. Juni 2007, E. 5.2).
Für den Anspruch auf medizinische Massnahmen der Invalidenversicherung ist nicht die Prognose bezüglich Wiedereintritt in die Regelklasse massgebend, sondern diejenige bezüglich Dauer der erforderlichen Psychotherapie. Die Feststellung des IV-Arztes, wonach das Krankheitsbild tiefgreifend sei und einer langwierigen Behandlung unabhängig von den Auswirkungen auf die schulischen Leistungen bedürfte, ist aufgrund der Akten ohne weiteres nachvollziehbar. Eine zuverlässige Prognose bezüglich Dauer einer psychiatrischen Weiterbehandlung lässt sich unter diesen Umständen nicht stellen. Damit sind die Voraussetzungen für die Gewährung von medizinischen Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG nicht erfüllt. Denn für Massnahmen, die zeitlich unbegrenzt erforderlich sind, hat nicht die Invalidenversicherung aufzukommen.

Entscheid vom 11. November 2009

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