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TVR 2009 Nr. 38

Vorbescheid und rechtliches Gehör bei Renteneinstellung


Art. 42 ATSG, Art. 57 a Abs. 1 IVG, Art. 73 ter IVV


Wenn nach einer Observation der Verdacht auf Rentenbetrug besteht, hat die IV-Stelle die Einstellung der Rentenleistungen trotzdem per Vorbescheid mitzuteilen und das rechtliche Gehör zu gewähren.


G wurde in eine Auffahrkollision verwickelt und erlitt dabei ein Schleudertrauma. Seither leidet sie unter multiplen Beschwerden. In der Folge sprach ihr die IV-Stelle eine ganze Rente ab dem 1. Juli 2001 zu. Im Auftrag des Haftpflichtversicherers wurde G im Zeitraum vom 8. Oktober bis 18. November 2007 observiert. Gestützt auf die dadurch erhobenen Erkenntnisse hob die IV-Stelle die Ausrichtung der Invalidenrente mit Verfügung vom 17. November 2008 rückwirkend per 1. Juli 2001 auf. Dagegen liess G Beschwerde erheben, welche das Versicherungsgericht in dem Sinne gutheisst, dass es die angefochtene Verfügung aufhebt und die Sache zur Durchführung des Vorbescheidverfahrens an die IV-Stelle zurückweist.

Aus den Erwägungen:

3.
3.1 Nach Art. 57a Abs. 1 IVG teilt die IV-Stelle der versicherten Person den vorgesehenen Endentscheid über ein Leistungsbegehren oder den Entzug oder die Herabsetzung einer bisher gewährten Leistung mittels Vorbescheid mit. Die versicherte Person hat Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 42 ATSG.

3.2 Diese gesetzlich bestimmte Vorgehensweise hat die Beschwerdegegnerin nicht beachtet. Insbesondere hat sie der Beschwerdeführerin auch keine Frist zur Wahrung ihres rechtlichen Gehörs angesetzt. Formell ist die Einstellungsverfügung vom 17. November 2008 daher mangelhaft. Die Gehörsverletzung kann auch nicht durch das vorliegende Beschwerdeverfahren geheilt werden (vgl. Art. 57 Abs. 1 Satz 1 IVG sowie BGE 134 V 97 E. 2.4). Daran vermag auch nichts zu ändern, dass die Beschwerdegegnerin ihre Verfügung als vorsorgliche Massnahme bezeichnet. Zum einen wäre dabei nämlich nicht von der Hand zu weisen, dass auch in einem solchen Fall der Anspruch auf rechtliches Gehör zu wahren gewesen wäre, zum anderen ist keine rechtliche Grundlage für diese Art von Massnahme gegeben. Es ist zwar zutreffend, dass im Bereich der Sozialversicherung vorsorgliche Massnahmen angeordnet werden können (vgl. Art. 55 ATSG und Art. 56 VwVG). Jedoch ist die Vorschrift von Art. 56 VwVG auf das Beschwerdeverfahren zugeschnitten. Für das erstinstanzliche Verfahren sind vorsorgliche Massnahmen nur möglich, wenn sie spezialgesetzlich vorgesehen sind (vgl. Seiler, in: Waldmann/ Weissenberger [Hrsg.], Praxiskommentar zum VwVG, Zürich 2009, Art. 56 N. 10). Dies ist bei der Aufhebung von Rentenleistungen nicht der Fall. Seiler (a.a.O.) nennt im Bereich der Sozialversicherung lediglich die Vorleistungspflicht (Art. 70 ATSG). Der Gesetzgeber hat es aber versäumt, das negative Korrelat, nämlich die vorsorgliche Aufhebung von Leistungen, vorzusehen. Die Verfügung ist daher aufzuheben und die Sache zur Durchführung eines korrekten Vorbescheidverfahrens an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Über den materiell-rechtlichen Antrag der Beschwerdeführerin ist nicht zu entscheiden.

3.3 Ungeachtet dieser formellen Mängel ist jedoch auch das Vorgehen der Beschwerdegegnerin insofern verständlich, als dass sie die Verdachtsmomente gegen die Beschwerdeführerin als begründet genug erachtete, um die Invalidenrente pro futuro sowie rückwirkend (vgl. Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV) einzustellen. Dies hätte aber auch dadurch erreicht werden können, dass der Beschwerdeführerin lediglich eine kurze Frist angesetzt worden wäre, um zum Vorbescheid Stellung zu nehmen, da der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne von Art. 42 ATSG nicht grundsätzlich eine dreissigtägige Frist beinhaltet. Bei Art. 73ter Abs. 1 IVV handelt es sich auch nicht um eine Gesetzesvorschrift im formellen Sinn. Vielmehr wird dort lediglich die übliche Dauer, innert der Einwendungen zum Vorbescheid vorgebracht werden können, festgelegt. Dies heisst aber nicht, dass in speziell gelagerten Fällen wie dem vorliegenden davon gegen unten nicht abgewichen werden könnte. Überdies stehen die Einwendungen der Beschwerdeführerin auf einen Vorbescheid betreffend Einstellung der Invalidenrente vorliegend auch schon weitgehend fest, da sie diese ja bereits im laufenden Beschwerdeverfahren vorgebracht hat und diese somit lediglich wiederholt werden müssen, was EDV-technisch keinen grossen Zusatzaufwand beinhaltet. Ebenso begründbar wäre zudem ein Entzug der aufschiebenden Wirkung einer allfälligen Beschwerde, womit auch die Ausrichtung von zwar bereits fällig gewordenen, aber noch nicht überwiesenen Rentenbetreffnissen bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens aufgeschoben werden könnte. Bei korrekt durchgeführtem Verfahren wäre es dem Gericht sodann möglich gewesen, das Verfahren bis zum Abschluss der Strafuntersuchung – oder falls eine solche nicht an die Hand genommen wird – bis zum Vorliegen weiterer Abklärungsergebnisse durch die Beschwerdegegnerin selber, zu sistieren.

Entscheid vom 22. April 2009

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