TVR 2010 Nr. 23
Unentgeltliche Rechtspflege, Vermögensfreibetrag
Art. 61 ATSG, Art. 29 Abs. 3 BV, § 81 VRG
Bei der Beurteilung, ob einem Gesuchsteller ein den sog. „Notgroschen“ übersteigendes Vermögen zusteht, ist auch eine in seinem Eigentum stehende Liegenschaft zu berücksichtigen. Dabei ist vom Mittelwert zwischen Steuerwert und Gebäudeversicherungswert auszugehen. Davon abzuziehen sind die darauf lastenden Hypothekarschulden und allfällige Veräusserungsbeschränkungen gemäss Art. 30d Abs. 1 lit. a BVG.
Die IV-Stelle verneinte mit Verfügung vom 3. Juni 2010 einen Anspruch von G auf eine Invalidenrente ab dem 1. November 2007. Gegen diese Verfügung liess G, vertreten durch RA M, beim Versicherungsgericht Beschwerde erheben, wobei in formeller Hinsicht die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und die Bestellung von RA M als unentgeltlicher Anwalt von G für das Beschwerdeverfahren beantragt wurden. Das Versicherungsgericht weist das Gesuch ab.
Aus den Erwägungen:
2.4 Die prozessuale Bedürftigkeit beurteilt sich nach der gesamten wirtschaftlichen Situation des Rechtsuchenden im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs. Dazu gehören einerseits sämtliche finanziellen Verpflichtungen, andererseits die Einkommens- und Vermögensverhältnisse (BGE 120 Ia 179 E. 3a, 124 I 1 E. 2a, Urteil des Bundesgerichts 9C_234/2008 vom 4. August 2008, E. 4.1). Hat der Gesuchsteller Vermögen, kann ihm zugemutet werden, dieses zur Finanzierung des Prozesses zu verwenden, soweit es einen angemessenen Vermögensfreibetrag, den sogenannten „Notgroschen“, übersteigt. Bei dessen Festsetzung ist nach der Rechtsprechung den Verhältnissen des konkreten Falles, wie namentlich Alter und Gesundheit des Gesuchstellers, Rechnung zu tragen. Das Bundesgericht und das EVG haben in verschiedenen Fällen Vermögensfreibeträge zwischen Fr. 13'000.-- und Fr. 40'000.-- zuerkannt (vgl. die Zusammenstellung im Urteil des EVG I 362/05 vom 9. August 2005, E. 5.3, sowie das Urteil des Bundesgerichts 9C_874/2008 vom 11. Februar 2009, E. 2.2.2; TVR 2009 Nr. 34).
2.4.1 Der Beschwerdeführer ist (Allein-)Eigentümer einer Liegenschaft an der M-Strasse in Z. Der Steuerwert dieser Liegenschaft beträgt gemäss den Angaben im Gesuchsformular und der Liegenschaftensteuerrechnung 2010 Fr. 526'000.--. Notorischerweise entspricht der Steuerwert jedoch bei weitem nicht dem effektiven Verkehrswert einer Liegenschaft. Das Bundesgericht bzw. das EVG erachteten - im Zusammenhang mit der Berechnung von Ergänzungsleistungen - eine Methode, bei welcher das Mittel zwischen dem Steuerwert und dem Gebäudeversicherungswert herangezogen wurde, als sachgerecht (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_849/2008 vom 16. Juni 2009, E. 6.3.4, mit weiteren Hinweisen). Diese Methode wird auch im Zusammenhang mit Gesuchen um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege angewandt (vgl. TVR 2009 Nr. 34). Gemäss Police der Gebäudeversicherung Thurgau vom 2. September 2010 beträgt der Gebäudeversicherungswert für die Liegenschaft an der M-Strasse Fr. 1'124'000.--. Dies führt zu einem Durchschnittswert von Fr. 825'000.--. Abzuziehen sind die auf der Liegenschaft lastenden Hypothekarschulden von total Fr. 376'000.--. Ebenfalls zu berücksichtigen ist, dass auf dem Grundstück eine Veräusserungsbeschränkung nach BVG angemerkt ist. Gemäss der vom Grundbuchamt Z nachgereichten Kopie des Belegs Nr. XIV tätigte der Beschwerdeführer per 28. Februar 2002 einen BVG-Vorbezug über Fr. 60'000.-- zwecks Beteiligung an Wohneigentum zur Selbstnutzung. Im Falle einer Veräusserung der Liegenschaft müsste der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 30d Abs. 1 lit. a BVG den Betrag des Vorbezugs in Höhe von Fr. 60'000.-- zurückzahlen. Unter Berücksichtigung dieser Veräusserungsbeschränkung bzw. der entsprechenden Rückzahlungspflicht im Veräusserungsfall und der Hypothekarschulden ergibt sich bezüglich dieser Liegenschaft ein Nettovermögen des Beschwerdeführers von Fr. 389'000.--.
2.4.2 Der Beschwerdeführer lässt vorbringen, dass eine kurzfristige Erhöhung der Hypotheken zwecks Beschaffung von liquiden Mitteln zur Finanzierung des Prozesses nicht möglich sei, da sämtliche bestehenden Kredite gemeinsam auf ihn und den mithaftenden Sohn W laufen würden und er, der Beschwerdeführer, über kein sonstiges Vermögen und kein Einkommen verfüge. Für dieses Vorbringen legt der Beschwerdeführer allerdings keinerlei Nachweise ins Recht. Bei einem vorliegend zu berücksichtigenden Nettovermögen von Fr. 389'000.-- aus besagter Liegenschaft ist nicht ersichtlich, weshalb eine kurzfristige Erhöhung des Hypothekarkredites, zumindest zur vorübergehenden Bestreitung des Lebensunterhaltes und zur Finanzierung des vorliegenden Prozesses, oder gar eine Veräusserung der Liegenschaft nicht möglich sein sollten. Der Beschwerdeführer ist immerhin Alleineigentümer des betreffenden Grundstückes. Ausserdem wird er offensichtlich durch seinen Sohn W unterstützt.
Auch unter Berücksichtigung der übrigen persönlichen Verhältnisse und des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers - er ist mittlerweile 60 Jahre alt und seine (medizinisch-theoretische) Arbeitsfähigkeit bzw. seine Erwerbsfähigkeit sind Gegenstand des vorliegenden Verfahrens - ist es ihm durchaus zuzumuten, entweder die in seinem Eigentum stehende Liegenschaft an der M-Strasse zu veräussern oder diese mit einer zusätzlichen Hypothek zu belasten, um zusätzliche finanzielle Mittel erhältlich zu machen. Das Nettovermögen von Fr. 389'000.-- stellt einen erheblichen, dem Beschwerdeführer grundsätzlich zur Verfügung stehenden Betrag dar, dem bei weitem mehr als lediglich die Qualität eines „Notgroschens“ beizumessen ist. (…)
2.5 Unter den gegebenen Umständen erweist sich die Tragung der Verfahrenskosten für das vorliegende Beschwerdeverfahren von voraussichtlich Fr. 700.-- sowie der zu erwartenden Anwaltskosten von maximal Fr. 2'000.-- (geschätzt) durch den Beschwerdeführer aufgrund des ihm anzurechnenden Vermögens - trotz des relativ erheblichen aktuellen Fehlbetrages von monatlich Fr. 1'316.25 (bei Ausgaben von Fr. 2'533.45 und Einnahmen von Fr. 1'217.20) - als durchaus zumutbar. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang anzuführen, dass die Berücksichtigung des Vermögens des Beschwerdeführers in Form seiner Liegenschaft auch aus Gründen der Gleichbehandlung mit anderen gesuchstellenden Parteien, die lediglich über Barmittel verfügen, als angezeigt erscheint. Widrigenfalls ergäbe sich eine nicht begründbare Privilegierung derjenigen Gesuchsteller, deren finanzielle Mittel in einer Liegenschaft „gebunden“ sind, gegenüber denjenigen gesuchstellenden Personen, welche lediglich über entsprechende Barmittel verfügen und deren Bedürftigkeit unter Berücksichtigung derselben a priori verneint werden müsste.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Prozessführung und unentgeltliche anwaltliche Vertretung ist somit mangels Mittellosigkeit abzuweisen.
Entscheid vom 1. Dezember 2010