Skip to main content

TVR 2010 Nr. 32

Adäquanz des Kausalzusammenhanges


Art. 6 Abs. 1 UVG


Adäquanzprüfung nach der Rechtsprechung zur psychischen Fehlverarbeitung nach Unfall (sog. „Psycho-Praxis“, BGE 115 V 133). Fall, in welchem die Adäquanz des Kausalzusammenhanges bejaht werden muss, nachdem 4 der 7 Adäquanzkriterien erfüllt sind.


Der 1949 geborene D war seit 1993 als Konstrukteur bei der Firma A AG in Arbon angestellt und bei der Suva obligatorisch gegen Unfälle versichert, als er am 10. Juli 2004 einen Arbeitsunfall erlitt. Dabei stürzte er beim Tragen eines PC-Monitors und erlitt eine beidseitige Unterkiefertrümmerfraktur, welche am 11. Juli 2004 osteosynthetisch versorgt wurde. Am 18. Februar 2005 unterzog sich D einer erneuten Operation des Unterkiefers, nachdem sich eine Pseudarthrose gebildet hatte. Am 28. Oktober 2005 erfolgte eine Narbenkorrektur mit Entfernung des Ostheosynthesematerials im Unterkiefer. Mit Schadenmeldung vom 5. Februar 2008 wurde ein Rückfall - unter Hinweis auf psychische Probleme mangels richtiger Heilung der Kieferprobleme und wegen mehreren Operationen - gemeldet. Seit 15. Oktober 2007 befand sich D in psychiatrischer Behandlung beim Psychiater Dr. P. Dieser attestierte D ab 20. Dezember 2007 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit. In seinem Bericht vom 29. Februar 2008 hielt Dr. P fest, bei D habe sich bei einer entwicklungsbedingten neurotischen Grundstruktur durch das am 10. Juli 2004 erlittene Trauma mit dem komplizierten Verlauf der Nachbehandlung eine schwere depressive Symptomatik eingestellt. Dr. P diagnostizierte eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome sowie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung.
Nach weiteren ärztlichen Untersuchungen verneinte die Suva mit Verfügung vom 21. August 2008 die Adäquanz der psychischen Probleme von D und entschied, deshalb keine Versicherungsleistungen für die Behandlung der psychischen Beschwerden und für die Arbeitsunfähigkeit infolge derselben erbringen zu können. Des Weiteren bestehe auch kein Anspruch auf eine Invalidenrente und / oder Integritätsentschädigung infolge der psychischen Beschwerden. Gleichzeitig führte die Suva aus, dass von diesem Entscheid die Folgen für die weiterhin andauernde Behandlung der unfallbedingten Kieferbeschwerden nicht betroffen seien.
Am 22. September 2008 liess D gegen die Verfügung Einsprache erheben, welche von der Suva abgewiesen wurde. Dagegen wiederum erhob D am 2. März 2009 beim Versicherungsgericht Beschwerde und beantragte die Zusprechung einer Rente und einer Integritätsentschädigung.
Mit Entscheid vom 30. September 2009 hiess das Versicherungsgericht die Beschwerde gut und stellte fest, dass der Fallabschluss durch die Suva verfrüht erfolgt sei. Die Sache wurde zur Weiterführung des Falles im Sinne der Erwägungen an die Suva zurückgewiesen. Eine dagegen von der Suva beim Bundesgericht erhobene Beschwerde hiess dieses seinerseits mit Urteil 8C_1004/2009 vom 13. April 2010 gut, hob den Entscheid vom 30. September 2009 auf und wies die Sache an das Versicherungsgericht zurück, damit es die noch nicht vorgenommene Adäquanzprüfung bezüglich der psychischen Beschwerden an die Hand nehme und über den Leistungsanspruch von D entscheide. Dabei stellte das Bundesgericht fest, dass zwar das ärztliche Behandlungsprozedere in Bezug auf die Kieferproblematik noch nicht als abgeschlossen zu betrachten und von weiteren diesbezüglichen Vorkehren allenfalls noch eine gewisse Linderung der Schmerzen zu erwarten sei. Eine namhafte Steigerung der Arbeitsfähigkeit im Sinne der Rechtsprechung, welche den vorgesehenen Fallabschluss zu verhindern vermöchte, könne davon aber nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erwartet werden. Im Rahmen der erneuten Beurteilung heisst das Verwaltungsgericht die Beschwerde gut und weist die Sache zur Festsetzung der gesetzlichen Leistungen an die Suva zurück.

Aus den Erwägungen:

3.
3.1 Unbestritten ist die Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin für die Folgen der weiterhin andauernden Behandlung der unfallbedingten Kieferbeschwerden. Strittig ist lediglich der Anspruch auf eine Invalidenrente und/oder Integritätsentschädigung zufolge der psychischen Leiden des Beschwerdeführers. Nicht bestritten wird seitens der Beschwerdegegnerin grundsätzlich der natürliche Kausalzusammenhang zwischen den psychischen Beschwerden und dem Unfall vom 10. Juli 2004. Zu prüfen gilt es vorliegend, entsprechend dem Urteil des Bundesgerichts vom 13. April 2010, lediglich die Adäquanz bezüglich dieser psychischen Beschwerden (vgl. E. 4.2.2.2 des Bundesgerichtsurteils). Unbestritten ist auch, dass diese Adäquanzprüfung vorliegend aufgrund der vom Bundesgericht für psychische Fehlverarbeitung nach Unfall entwickelten Rechtsprechung zu erfolgen hat.

3.2 (Wiedergabe der vorliegend anwendbaren „Psycho-Praxis“ gemäss BGE 115 V 133, wobei die Adäquanzkriterien unter Ausschluss psychischer Aspekte zu prüfen sind; vgl. BGE 134 V 109 E. 2.1).

3.3 Bei der Beurteilung der Schwere des Unfalles ist an das objektiv fassbare Unfallereignis anzuknüpfen, wobei vom augenfälligen Geschehensablauf mit den sich dabei entwickelnden Kräften auszugehen ist (vgl. Urteile des Bundesgerichts 8C_965/2008 vom 5. Mai 2009, E. 4.3.1, sowie 8C_991 bzw. 8C_1038/2009 vom 6. Mai 2010, E. 7.1). Nicht massgebend sind die Folgen des Unfalles oder Begleitumstände, die nicht direkt dem Unfallgeschehen zugeordnet werden können. Derartigen, dem eigentlichen Unfallgeschehen nicht zuzuordnenden Faktoren ist gegebenenfalls bei den Adäquanzkriterien Rechnung zu tragen (vgl. Urteil des Bundesgerichts U 2/2007 vom 19. November 2007, E. 5.3.1, mit weiteren Hinweisen). Der Beschwerdeführer litt bereits vor dem Unfall an einem hochgradig atrophen Kiefer. Diese konstitutionelle/organische Prädisposition und die allenfalls dadurch bewirkte Verschärfung der Unfallfolgen sind für die Einstufung des Unfallereignisses selbst nicht massgebend, da hierfür eine objektive Betrachtungsweise anzuwenden ist. Bezüglich des Unfallablaufes enthalten die Akten nur wenige Anhaltspunkte. Fest steht, dass der Beschwerdeführer beim Tragen eines Computermonitors gestürzt ist und dabei am Monitor seinen Kiefer angeschlagen hat. Dieses Ereignis kann, wie die Beschwerdegegnerin zu Recht feststellt, höchstens als mittelschwerer Unfall im mittleren Bereich, allenfalls sogar im Grenzbereich zu den leichten Unfällen, qualifiziert werden. Von einem mittleren Unfall im Grenzbereich zu den schweren Unfällen kann dagegen keine Rede sein. Für die Bejahung der Adäquanz müssen somit mehrere Kriterien oder einzelne in ausgeprägter Weise erfüllt sein.

3.4 Die Prüfung dieser Adäquanzkriterien ergibt vorliegend folgendes Bild:

3.4.1 Nicht als erfüllt anzusehen ist das erste Kriterium der besonders dramatischen Begleitumstände oder der besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls, was auch vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht wird.

3.4.2 Der Beschwerdeführer hat sich einen komplizierten Kieferbruch zugezogen, bei welchem auch Nerven verletzt wurden. Der Beschwerdeführer litt bereits vor dem Unfall an einem hochgradig atrophen Unterkiefer. Wie sich dem Gutachten von Prof. Dr. N entnehmen lässt, können neuerliche Entzündungen im Unterkiefer mit Pseud-arthrose auch in Zukunft auftreten. Das Auftreten oder Aufflackern einer Osteomyelitis im Bereich des Unterkieferkorpus kann, so Prof. Dr. N, als Spätfolge der aufgetretenen beidseitigen Bruchspaltosteomyelitis entstehen. Auch wenn beim erlittenen Kieferbruch der atrophe Vorzustand in gewissem Masse mitspielte, ist von einer besonderen Art der Verletzung auszugehen. Derartige Verletzungen erscheinen auch durchaus geeignet, psychische Fehlentwicklungen auszulösen, handelt es sich doch beim betroffenen Mund-/Kieferapparat um einen relativ empfindlichen Bereich im Gesicht. Das Kriterium der „besonderen Art der erlittenen Verletzung“ ist vorliegend zumindest in leichter Weise als erfüllt zu betrachten.

3.4.3 Des Weiteren ist auch von einer ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung auszugehen. Prof. Dr. N hat in seinem Gutachten vom 21. September 2006 mehrfach darauf hingewiesen, dass die Behandlung insbesondere wegen des stark atrophen Unterkiefers schwierig und langwierig war und voraussichtlich auch sein wird. Gemäss Bericht von Dr. W und Dr. H, Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, in G, vom 6. August 2009 war eine stationäre Aufnahme für den 10. August 2009 geplant, um ein mikrovaskuläres Transplantat einzubringen zwecks Wiederherstellung der Kontinuität des Unterkieferknochens. Gemäss jenem Kurzbericht war die Dauer des stationären Aufenthalts damals noch nicht absehbar. Wie Prof. Dr. N in seinem Gutachten festhält, hätte bei ordnungsgemässer Versorgung am 11. Juli 2004 der Abheilungsprozess bereits Ende Juli 2004 derart gewesen sein sollen, dass auch eine ordnungsgemässe Nahrungsaufnahme möglich gewesen wäre. Da auch im August 2009 - mithin über fünf Jahre nach dem Unfall vom 10. Juli 2004 - noch ein operativer Eingriff geplant werden musste, erweist sich die Dauer der ärztlichen Behandlung als ungewöhnlich lange im Sinne dieses Kriteriums, welches damit als erfüllt zu betrachten ist.

3.4.4 In welchem Ausmass der Beschwerdeführer unter Dauerschmerzen litt und noch leidet, ist umstritten. Während von psychiatrischer Seite her als Schmerzursache eher die psychische, somatoforme Komponente in den Vordergrund gerückt wird, wird seitens der Kieferchirurgen davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer wegen des verletzten Nervs über längere Zeit unter erheblichen Schmerzen litt. Inwiefern das Kriterium der körperlichen Dauerschmerzen vorliegend erfüllt ist, kann allerdings dahingestellt bleiben, nachdem die Adäquanz bereits aufgrund anderer Kriterien zu bejahen ist.

3.4.5 Eine ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hat, erscheint vorliegend zweifellos als gegeben. Das Landeskrankenhaus O hat den Beschwerdeführer für die fehlerhafte Kieferbehandlung vom 10. bis 16. Juli 2004 mit einer Abfindung von Fr. 25'000.-- entschädigt. Dies wird nicht zuletzt durch die Feststellungen von Prof. Dr. N in seinem Gutachten vom 21. September 2006 erhärtet, indem dieser auf die zusätzlichen Schmerzen infolge von Entzündungen, Pseud­arthrose, weiterer Verletzungen des freiliegenden Nervs, erforderliche Zusatzoperationen, etc. verweist. Das Kriterium der ärztlichen Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hat, ist vorliegend ebenfalls klar erfüllt.

3.4.6 Vorliegend ist auch von einem schwierigen Heilungsverlauf auszugehen, der mit relativ erheblichen Komplikationen verbunden war. Dies ergibt sich nicht zuletzt ebenfalls aus der im Gutachten von Prof. Dr. N umschriebenen Krankheitsgeschichte, das den Verlauf lediglich bis im September 2006 wiedergibt. Nach der fehlerhaften Versorgung vom 11. Juli 2004 im Landeskrankenhaus O musste sich der Beschwerdeführer am 18. Februar 2005 und am 28. Oktober 2005 erneut je einem operativen Eingriff unterziehen. Eine ordnungsgemässe Heilung der Kieferprobleme konnte jedoch auch in der Folge offensichtlich nicht erreicht werden. Wie erwähnt, musste im August 2009 erneut ein stationärer Aufenthalt in der Universitätsklinik in G geplant werden. Damit ist auch das Kriterium des schwierigen Heilungsverlaufs mit erheblichen Komplikationen als erfüllt zu betrachten.

3.4.7 Nicht erfüllt ist dagegen das Kriterium „Grad und Dauer der physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit“. (…)

3.5 Insgesamt ergibt sich, dass mindestens die Kriterien „ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung“, „ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hat“ sowie „schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen“ in relativ ausgeprägter Weise erfüllt sind. Auch das Kriterium der „schweren oder besonderen Art der Verletzung“ mit ihrer erfahrungsgemässen Eignung, psychische Fehlentwicklungen auszulösen, scheint zumindest in leichter Weise erfüllt zu sein. Ob auch das Kriterium der körperlichen Dauerschmerzen erfüllt ist, erscheint fraglich, muss jedoch nicht näher geklärt werden. Sofern der in Frage stehende Unfall vom 10. Juli 2004 den mittelschweren Unfällen im mittleren Bereich zugeordnet wird, genügen bereits drei Kriterien, um die Adäquanz zu bejahen. Selbst wenn von einem mittelschweren Unfall im Grenzbereich zu den leichten ausgegangen würde, wäre mit den insgesamt vier - zum Teil ausgeprägt - erfüllten Kriterien die Adäquanz als gegeben zu erachten (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_897/2009 vom 29. Januar 2010, E. 4.5).

Entscheid vom 16. Juni 2010

Das Bundesgericht hat eine dagegen von der Suva erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 8C_622/2010 vom 3. Dezember 2010 abgewiesen. Dabei erachtete es ebenfalls vier der sieben Adäquanzkriterien als erfüllt, allerdings keines in besonders ausgeprägter Weise. Dies genüge, um einen adäquaten kausalen Zusammenhang zwischen den bestehenden psychischen Beschwerden und dem Sturz vom 10. Juli 2004 als erwiesen anzunehmen.

JavaScript errors detected

Please note, these errors can depend on your browser setup.

If this problem persists, please contact our support.