TVR 2011 Nr. 1
Sachliche Zuständigkeit; Rückforderung von zu Unrecht gewährten Steuererleichterungen
Art. 29 a BV, § 54 KV, § 4 StG, § 23 VRG, Art. 23 Abs. 2 StHG
1. Das Verwaltungsgericht ist zuständig zur Beurteilung von Beschwerden gegen Beschlüsse des Regierungsrates, mit denen gewährte Steuererleichterungen wegen nicht erfüllter Auflagen nachgefordert werden (E. 1.1).
2. § 23 VRG bildet eine genügende gesetzliche Grundlage, um die gewährten Steuererleichterungen wieder aufzuheben und die nicht bezahlten Steuern nachträglich zu erheben (E. 2).
Die D AG siedelte per 1. März 2001 in R, TG, an. In Anwendung von § 4 StG gewährte der Regierungsrat des Kantons Thurgau mit Beschluss RRB Nr. 436 vom 21. Mai 2002 der D AG Steuererleichterungen für die nächsten fünf Jahre. In Ziff. 3 des Dispositivs wurde zudem Folgendes festgehalten: „Verlegt die Gesellschaft während der Dauer der Steuererleichterung oder innert zwei Jahren nach deren Ablauf ihren Sitz, die tatsächliche Verwaltung oder einen wesentlichen Teil ihres Betriebes aus dem Kanton Thurgau, kann der Regierungsrat vorsehen, einen Teil der durch den vorliegenden Entscheid nicht erhobenen Steuern nachzubeziehen.“ Mit RRB Nr. 370 vom 3. Mai 2005 wurden die Steuererleichterungen für die Jahre 2006 bis 2010 erneut gewährt. Auch in diesem Beschluss wurde der Vorbehalt gemacht, dass der Regierungsrat einen Teil der nicht erhobenen Steuern nachbeziehen könne, wenn der Sitz während der Dauer der Steuererleichterung oder innert zwei Jahren nach deren Ablauf verlegt werde.
Per 1. April 2011 verlegte die D AG ihren Betrieb und den Sitz nach F, Kanton Zürich. Mit RRB Nr. 214 vom 22. März 2011 hob der Regierungsrat des Kantons Thurgau die gewährten Steuererleichterungen wieder auf. Zudem wurde beschlossen, die in Folge der gewährten Steuererleichterung nicht erhobenen Steuern für die Geschäftsjahre 2001 bis 2008 nach zu beziehen. Gegen diesen Beschluss erhob die D AG Beschwerde beim Verwaltungsgericht, das diese teilweise gutheisst.
Aus den Erwägungen:
1.
1.1 Das kantonale Recht sieht das Verwaltungsgericht als Beschwerdeinstanz gegen Entscheide des Regierungsrates grundsätzlich nur in wenigen, hier nicht gegebenen Ausnahmen vor (vgl. z. B. § 54 Abs. 2 VRG). Art. 29a BV hält jedoch fest, dass jede Person bei Rechtsstreitigkeiten Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde hat. Allerdings können Bund und Kantone durch das Gesetz die richterliche Beurteilung in Ausnahmefällen ausschliessen. Wie die Vorinstanz zutreffend dargelegt hat, besteht eine solche Ausnahme im kantonalen Recht für den vorliegenden Fall nicht. Da der Entscheid des Regierungsrates offensichtlich nicht durch eine Behörde überprüft werden kann, die er selbst gewählt hat, muss vorliegend § 54 KV zur Anwendung gelangen, wonach das Verwaltungsgericht letztinstanzlich die Verwaltungsrechtspflege ausübt, soweit nicht das Gesetz eine Sache in die endgültige Zuständigkeit des Grossen Rates, des Regierungsrates, eines seiner Departemente oder einer anderen Behörde legt. Da zudem Art. 86 Abs. 2 BGG ausdrücklich als Vorinstanz für eine Beschwerde ans Bundesgericht ein kantonales oberes Gericht vorsieht, fällt zur Beurteilung der vorliegenden Frage einzig das Verwaltungsgericht in Betracht, was denn auch von keinem der Beteiligten bestritten wird. Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts zur Beurteilung der vorliegenden Beschwerde ist daher gegeben.
1.2 (…)
2.
2.1 Laut Art. 23 Abs. 2 StHG können die Kantone auf dem Wege der Gesetzgebung für Unternehmen, die neu eröffnet werden und dem wirtschaftlichen Interesse des Kantons dienen, für das Gründungsjahr und die neun folgenden Jahre Steuererleichterungen vorsehen. Eine wesentliche Änderung der betrieblichen Tätigkeit kann einer Neugründung gleichgestellt werden. Der Kanton Thurgau hat in den §§ 4 und 4a StG von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, Steuererleichterungen zu gewähren. Im wirtschaftlichen Interesse des Kantons kann der Regierungsrat Unternehmen durch Steuererleichterungen fördern, und zwar für den Rest des Jahres, in dem der Geschäftsbetrieb eröffnet wird, sowie für neun folgende Jahre. Eine wesentliche Änderung der betrieblichen Tätigkeit steht einer Neueröffnung gleich (§ 4 StG). 2.2 Das VRG regelt unter anderem das Verfahren vor den Verwaltungsbehörden des Kantons (§ 1 Abs. 1 Ziff. 1 VRG). Es ist auf alle Verwaltungsverfahren anwendbar, soweit nicht andere Gesetze besondere Vorschriften aufstellen.
2.2.1 Laut § 23 Abs. 1 VRG kann ein Entscheid durch die Behörde, die ihn gefällt hat, oder durch die Aufsichtsbehörde, geändert oder widerrufen werden, sofern wichtige öffentliche Interessen dies erfordern oder sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben. Geeignet, einen Widerruf zu rechtfertigen, sind beispielsweise neue wesentliche Tatsachen und Beweismittel, eine neue Rechtslage, offensichtliche Unrichtigkeit des Verwaltungsaktes, Nichtigkeit oder ein ausdrücklicher Widerrufsvorbehalt (TVR 2008 Nr. 7, E. 2c; Haubensak/Litschgi/Stähelin, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Frauenfeld 1984, § 23 Nr. 4). Vorbehalten bleiben Entscheide, die gemäss ausdrücklicher Vorschrift oder aufgrund der Natur der Sache nicht zurückgenommen werden können. Nicht rückgängig gemacht werden können beispielsweise Verfügungen betreffend Bevorschussung von Kinderunterhaltsbeiträgen insoweit, als Leistungen bereits erbracht worden sind (TVR 2001 Nr. 32, E. 3a).
2.2.2 Ist eine Verfügung verbunden mit einer zusätzlichen Verpflichtung zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen, spricht man von einer Auflage. Von der Bedingung unterscheidet sie sich dadurch, dass die Rechtswirksamkeit der Verfügung nicht davon abhängt, ob die Auflage erfüllt wird oder nicht. Die Verfügung ist auch gültig, wenn die Auflage nicht erfüllt wird. Die Auflage ist - ebenfalls im Gegensatz zur Bedingung - selbständig erzwingbar: Wird der Auflage nicht nachgelebt, so berührt dies zwar nicht die Gültigkeit der Verfügung, doch kann das Gemeinwesen mit hoheitlichem Zwang die Auflage durchsetzen. In diesem Rahmen kann die Nichterfüllung einer Auflage auch einen Grund für den Widerruf einer Verfügung (z. B. Entzug einer Bewilligung) darstellen (Häfelin/Müller/Ullmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2006, N. 913 f.).
2.2.3 Sowohl im RRB Nr. 436 vom 21. Mai 2002, im RRB Nr. 370 vom 3. Mai 2005 als auch im RRB Nr. 860 vom 27. Oktober 2009 wurde als Auflage festgehalten, für den Fall, dass die Gesellschaft während der Dauer der Steuererleichterung oder innert zwei Jahren nach deren Ablauf ihren Sitz, die tatsächliche Verwaltung oder einen wesentlichen Teil ihres Betriebs aus dem Kanton Thurgau verlege, könne der Regierungsrat vorsehen, einen Teil der durch den vorliegenden Entscheid nicht erhobenen Steuern nachzubeziehen.
2.3 Mit § 23 Abs. 1 VRG ist eine genügende gesetzliche Grundlage für den Widerruf von Entscheiden des Beschwerdegegners betreffend Steuererleichterungen vorhanden. Wie bereits dargelegt, bildet das Nichterfüllen einer Auflage einen Grund für eine Wiedererwägung. Es war daher zulässig, die Steuererleichterungen zu widerrufen und die nicht bezogenen Steuern ganz oder teilweise nachzufordern. Die nachträgliche Aufhebung der Steuererleichterungen und Nachforderung der Steuern stellt weder eine Verletzung des Rückwirkungsverbots noch des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes dar (Greter, in: Zweifel/Athanas [Hrsg.], Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht, Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden, 2. Aufl., Basel 2002, Art. 5 N. 8). (…)
2.4 Als Zwischenergebnis ist festzustellen, dass der Beschwerdegegner in zulässiger Art und Weise den Vorbehalt angebracht hat, einen Teil der nicht erhobenen Steuern nachzubeziehen, sollte die Beschwerdeführerin während der Dauer der Steuererleichterung oder innert zwei Jahren nach deren Ablauf ihren Sitz aus dem Kantons Thurgau verlegen. Für die Beschwerdeführerin war erkennbar, dass die Steuererleichterung nur mit der Auflage gewährt wurde, dass sie während der Dauer der Steuererleichterung oder innert zwei Jahren nach deren Ablauf nicht ihren Sitz aus dem Kanton Thurgau verlegt. Sie kann sich daher nicht auf ein überwiegendes Rechtssicherheitsinteresse an der Aufrechterhaltung der Steuererleichterung berufen. Die Anordnung im RRB Nr. 214 vom 22. März 2011, dass die Steuern nachzubeziehen sind, ist daher grundsätzlich zulässig.
Entscheid vom 9. November 2011