TVR 2011 Nr. 18
Entschädigungspflicht bei materieller Enteignung nach Auszonung
1. Für Zonenpläne, die nach dem Inkrafttreten des RPG erlassen worden sind, gilt grundsätzlich die Vermutung, dass sie inhaltlich und formal dem RPG entsprechen. Allerdings sind entschädigungslose Nichteinzonungen nicht auszuschliessen, falls auch unter neuem Recht erlassene, aber dem Bundesrecht krass widersprechende Nutzungsordnungen revidiert würden. Gemeint sind damit jedoch lediglich solche Nutzungsordnungen, die nicht nur geringfügig, sondern stark überdimensionierte Bauzonen aufweisen (E. 2.2).
2. Hinsichtlich der Realisierungswahrscheinlichkeit stellt das Bundesgericht nicht allzu hohe Anforderungen, weil grundsätzlich die Gemeinden erschliessungspflichtig sind und dem Eigentümer die fehlende oder ungenügende Erschliessung nicht pauschal entgegengehalten werden kann (E.3).
P ist Eigentümer der am östlichen Ortsrand von T liegenden Parzelle Nr. 443 der Politischen Gemeinde L (nachfolgend: PG L). Gemäss damals rechtsgültigem und mit RRB Nr. XX genehmigtem Zonenplan lag ein rund 30 m tiefer und 80 m langer Streifen dieser Parzelle entlang der Dorfstrasse in der Dorfzone. Nach dem auf den 1. Januar 1995 erfolgten Zusammenschluss der Ortsgemeinden L, N, T und I zur PG L wurde die Ortsplanung überarbeitet. Während der Auflage des revidierten Zonenplans erhob P Einsprache gegen die Zuweisung einer Teilfläche von ca. 936 m2 der Parzelle Nr. 443 von der Dorfzone in die Landwirtschaftszone. Die Einsprache wurde abgewiesen und die Gemeindeversammlung L stimmte der revidierten Ortsplanung zu. Das DBU wies den dagegen erhobenen Rekurs ab. Dieser Entscheid erwuchs in Rechtskraft.
In der Folge gelangte P an die Enteignungskommission des Kantons Thurgau und verlangte, für die materielle Enteignung entschädigt zu werden. Die Klage wurde im Wesentlichen gutgeheissen. Dagegen reichte die PG L beim Verwaltungsgericht Beschwerde ein, das diese abweist.
Aus den Erwägungen:
2.
2.1 Nachdem P nach wie vor vollumfänglicher Eigentümer der Parzelle Nr. 443 bleibt, jedoch zumindest teilweise in seinen Nutzungsmöglichkeiten eingeschränkt wird (Zuweisung eines Teils der Parzelle Nr. 443 von der Dorfzone in die Landwirtschaftszone), geht es vorliegend um die Frage, ob diese Einschränkung eine entschädigungspflichtige materielle Enteignung darstellt. Eine materielle Enteignung im Sinne von Art. 26 Abs. 2 BV und Art. 5 Abs. 2 RPG liegt vor, wenn dem Eigentümer der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch einer Sache untersagt oder in einer Weise eingeschränkt wird, die besonders schwer wiegt, weil den betroffenen Personen eine wesentliche aus dem Eigentum fliessende Befugnis entzogen wird. Geht der Eingriff weniger weit, so wird gleichwohl eine materielle Enteignung angenommen, falls einzelne Personen so betroffen werden, dass ihr Opfer gegenüber der Allgemeinheit unzumutbar erscheint und es mit der Rechtsgleichheit nicht vereinbar wäre, wenn hierfür keine Entschädigung geleistet wird (TVR 2006 Nr. 24, E. 2a). In beiden Fällen ist die Möglichkeit einer künftigen Nutzung der Sache indessen nur zu berücksichtigen, wenn im massgebenden Zeitpunkt anzunehmen war, sie lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft verwirklichen. Unter besserer Nutzung eines Grundstücks ist in der Regel die Möglichkeit zu einer Überbauung zu verstehen (BGE 131 II 733 E. 2, 123 II 481 E. 6a).
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt eine - grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmende - Nichteinzonung vor, wenn eine Liegenschaft bei der erstmaligen Schaffung einer raumplanerischen Grundordnung, welche den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Anforderungen entspricht, keiner Bauzone zugewiesen wird. Dies gilt nicht nur bei der Revision altrechtlicher, vor Inkrafttreten des RPG (1. Januar 1980) erlassener Zonenpläne, sondern auch bei der Anpassung von Zonenplänen, die zwar unter der Herrschaft des RPG in Kraft getreten sind, aber materiell nicht auf die bundesrechtlichen Planungsgrundsätze ausgerichtet waren. Eine - grundsätzlich entschädigungspflichtige - Auszonung wird dagegen angenommen, wenn ein Grundstück durch einen bundesrechtskonformen Nutzungsplan der Bauzone zugeteilt worden war und aufgrund einer Zonenplanrevision der Nichtbauzone zugeteilt wird (BGE 131 II 728 E. 2.3, 122 II 326 E. 5c).Eine Nutzungsordnung entspricht dann den materiellen Anforderungen des RPG, wenn sie die strikte Abgrenzung von Bau- und Nichtbaugebiet nach den Kriterien von Art. 15 und Art. 1 bis 3 RPG vornimmt. Ist dem so, so sind in der Regel Redimensionierungen als Auszonungen und nicht als Nichteinzonungen zu qualifizieren, namentlich wenn die Bauzonen an sich sachgerecht bemessen wurden, sich die Dimensionierungen indessen erst hinterher beispielsweise wegen der demographischen Entwicklung und wegen neuer Verdichtungs- bzw. Umnutzungsmöglichkeiten als zu gross erweisen (Waldmann/Hänni, Raumplanungsgesetz, Bern 2006, N. 56 zu Art. 5; TVR 2006 Nr. 24, E. 2b).
2.2
2.2.1 Die Ortsplanung der Ortsgemeinde T von 1992, die die aus dem Jahre 1979 stammende, aus Zonenplan und Baureglement bestehende Nutzungsordnung ablöste, wurde vom Regierungsrat genehmigt. Im Genehmigungsentscheid wurde ausgeführt, heikel sei das an der Ostseite des exponierten, fernab vom Dorf T im Weiler G liegende, ausgeschiedene Baugebiet. Das dortige Baugebiet könne „nicht ohne Bedenken gerade noch“ genehmigt werden, da es gestaltungsplanpflichtig erklärt worden sei. In T, wo im alten Zonenplan noch vorhandene Bauentwicklungsgebiete eliminiert worden seien, erschienen der Baugebietsumfang, die gewählten Zonenarten und deren Abgrenzungen als zweckmässig.Mit Entscheid RRB Nr. 77 vom 18. September 2008 genehmigte das DBU die Teilrevision der Nutzungsordnung, die sich wegen der Zusammenlegung der verschiedenen Ortsgemeinden und weil die Planungen der Ortsgemeinden zwischen 12 und 27 Jahre alt waren, aufgedrängt hatte. Bereits im Jahre 1996 war ein einheitliches Baureglement und im Jahr 2003 eine gemeinsame Richtplanung „Siedlung und Verkehr“ in Kraft getreten. Bei der Dimensionierung der Bauzonen habe - gemäss RRB Nr. 77 - neben den kommunalen Wachstumszielen nach Ziff. 1.1. des kantonalen Richtplans (KRP) eine grosse Rolle gespielt, dass alle Ortsteile der PG L als „Dörfer und Weiler ohne zentrale Funktion“ gälten. Die Bauzonen seien deshalb auf eine zurückhaltende bauliche Entwicklung ausgerichtet worden, die Erneuerung der Dörfer werde zukünftig von innen her erfolgen. Das Baugebiet umfasse 56,3 ha und sei verglichen mit der früheren Planung um 8,7 ha erweitert worden. Die ausgeschiedenen Bauzonen seien grosszügig dimensioniert. Aufgrund der lockeren Siedlungsstruktur und in Anbetracht, dass einige Neueinzonungen überbaute Gebiete beträfen, könnten sie aber verantwortet werden, zumal die Gemeinde die Bauzone mit einigen kleineren Umzonungen punktuell auch verkleinert habe.
2.2.2 Die Vorinstanz führte hierzu aus, die aus dem Jahr 1992 stammende Ortsplanung der Ortsgemeinde T sei bundesrechtskonform gewesen. Sie sei einzig wegen des auf den 1. Januar 1995 erfolgten Zusammenschlusses der ehemaligen Ortsgemeinden L, I, T und N zur Politischen Gemeinde L durchgeführt worden. Deshalb sei die fragliche Zuweisung einer Teilfläche in die Landwirtschaftszone als Auszonung zu qualifizieren. Im Vorprüfungsbericht des Amtes für Raumplanung zum Richtplan „Siedlung und Verkehr“ vom 27. Juni 2002, der die ganze Parzelle Nr. 443 (anders als die nördliche Parzelle Nr. 447) aus dem Richtplangebiet entlassen hatte, wird festgestellt, das Siedlungsgebiet sei für eine Gemeinde ohne zentrale Funktion überdimensioniert, weshalb die PG L im Zuge der anstehenden Zonenplanrevision die Bauzonen(grösse) überprüfen müsse. Im Bericht zur Zonenplanrevision vom Februar 2008 wird dargelegt, der östliche Siedlungsrand von T sei geprüft worden. Die Bauzone sei im Sinne der Richtplanung teilweise reduziert worden: Das Gebiet nördlich der Strasse sei Bestandteil eines Landwirtschaftsbetriebs und stehe für eine Überbauung nicht zur Verfügung, das Gebiet südlich sei kanalisationsmässig nicht erschlossen, in unmittelbarer Nähe lägen keine Werkleitungen. Auch sei die bisherige Bebauungschance nicht wahrgenommen worden. Zudem könne mit der Zurücknahme der Bauzone eine gestalterische „Torwirkung“ am Dorfeingang erreicht und damit verhindert werden, dass die Siedlung auf einer Seite der Strasse ausufere. Ferner gehöre die Parzelle Nr. 443 nicht zu den attraktiven Wohnlagen.
2.2.3 Die genannten Planungsberichte weisen darauf hin, dass es sich bei der Zonenplanrevision 2008 und den darin enthaltenen Reduktionen der Bauzonenfläche entgegen der Meinung der Beschwerdeführerin um Anpassungen an wesentlich geänderte Verhältnisse im Sinne von Art. 21 Abs. 1 RPG handelt. Darauf deuten namentlich die auf den 1. Januar 1995 neu gebildete Gemeindestruktur, der neue, in den Jahren 2006 bis 2009 erarbeitete kantonale Richtplan, vor allem der Teilrichtplan „Siedlung und Verkehr“, die neuen gesetzlichen Vorschriften des RPG, der dazugehörigen Verordnung sowie der kantonalen Baugesetze und die seit der Ortsplanung 1992 eingetretene tatsächliche Bevölkerungsentwicklung hin. Sowohl die Ausgangslage als auch die seitherige Entwicklung sind genügend dokumentiert, weshalb die Einvernahme von Zeugen diesbezüglich unterbleiben kann. Für Zonenpläne, die nach dem Inkrafttreten des RPG erlassen worden sind, gilt grundsätzlich die Vermutung, dass sie inhaltlich und formal dem RPG entsprechen. Allerdings sind entschädigungslose Nichteinzonungen nicht auszuschliessen, falls auch unter neuem Recht erlassene, aber dem Bundesrecht krass widersprechende Nutzungsordnungen revidiert würden (Bühlmann/Jäger im VLP-ASPAN, Raum und Umwelt, Nr. 6/2010). Gemeint sind damit jedoch lediglich solche Nutzungsordnungen, die nicht nur geringfügig, sondern stark überdimensionierte Bauzonen aufwiesen. Das war aber im Fall der aus dem Jahr 1992 stammenden Ortsplanung für die Ortsgemeinde T nicht zutreffend. Es ist daher festzustellen, dass die Zonenplanrevision 2008, mit der eine Teilfläche von Parzelle Nr. 443 der Landwirtschaftszone zugewiesen wurde, eine Auszonung darstellt.
3.
3.1 Unter besserer Nutzung eines Grundstückes ist in der Regel die Möglichkeit einer Überbauung zu verstehen (BGE 131 II 730 E. 2). Nach der Rechtsprechung zur materiellen Enteignung muss die Frage, ob im Moment, in dem die Beschränkung in Kraft tritt, die vorgesehene künftige Nutzung in naher Zukunft mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten war, namentlich anhand juristischer Kriterien beurteilt werden. In diesem Zusammenhang hat das Bundesgericht erwogen, dass die Verwirklichung eines Bauvorhabens lediglich noch davon abhängig sein dürfe, ob die Überbauung „aus eigener Kraft“ des Grundeigentümers realisierbar sei und dass dies grundsätzlich nicht der Fall sei, wenn noch eine Änderung des rechtlichen Status des Grundstücks notwendig sei, wie beispielsweise eine Zonenplanänderung, die Genehmigung eines speziellen Nutzungsplans, eines Erschliessungsplans oder einer Neuparzellierung, um die betreffenden Grundstücke tatsächlich überbaubar zu machen (Pra 95/2006 Nr. 4 E. 2.4.1).
3.2 Hinsichtlich der Realisierungswahrscheinlichkeit stellt das Bundesgericht also nicht allzu hohe Anforderungen, weil grundsätzlich die Gemeinden erschliessungspflichtig sind und dem Eigentümer die fehlende oder ungenügende Erschliessung nicht mehr pauschal entgegengehalten werden kann. Gegen die Realisierungswahrscheinlichkeit sprechen Erfordernisse wie eine Ausnahmebewilligung, eine Zonenplanänderung, ein Erschliessungs-, Überbauungs- oder Gestaltungsplan, eine Baulandumlegung oder weitergehende Erschliessungsarbeiten. Demnach ist zu prüfen, ob auf der ausgezonten Teilfläche der Parzelle Nr. 443 eine Überbauung hätte realisiert werden können oder ob ein allfälliges Baugesuch wegen fehlender Baureife im juristischen Sinne hätte abgewiesen werden müssen.
Die Erschliessungsverhältnisse der Parzelle Nr. 443 präsentieren sich wie folgt: Die ausgezonte Teilfläche von Parzelle Nr. 443 ist verkehrsmässig voll erschlossen. Im Norden führt die ausgebaute kommunale Dorfstrasse vorbei, im Süden verläuft entlang der Parzellengrenze ein Flurweg, der bis auf die Höhe der ebenfalls dem Verfahrensbeteiligten gehörenden Parzelle Nr. 442 vermarkt ist. Die kapazitätsmässig ausreichende Wasserleitung liegt im Körper der Dorfstrasse, von wo sie mit einem Querschlag die Parzelle Nr. 443 erschliessen kann. Auf der Stallparzelle Nr. 442, die ebenfalls dem Verfahrensbeteiligten gehört, befindet sich die im Gefälle von Norden nach Süden laufende Kanalisation. Auf der Höhe der nördlichen Fassade des Schweinestalls wurde ein Kontrollschacht gesetzt. Von dort kann die Parzelle Nr. 443 mit einem etwa 75 m langen Hausanschluss erschlossen werden. Rund 50 m nordwestlich der Parzelle Nr. 443 steht auf einem Grundstückspickel (Parzelle Nr. 419) zwischen der Dorf- und der Oberdorfstrasse die EW-Verteilerkabine. Von dort wird bereits die Parzelle Nr. 333 mit elektrischer Energie versorgt. Die Führung einer zusätzlichen Hausanschlussleitung auf die Parzelle Nr. 443 ist ohne weiteres möglich und kann baulich mit einer Verkabelung und mit einem Strassenquerschlag auf Höhe der Parzelle Nr. 443 realisiert werden. An dieser schon am 13. Oktober 2008 bestehenden Erschliessungssituation der ausgezonten Teilfläche der Parzelle Nr. 443 hat sich seither nichts mehr geändert. Die Parzelle hätte also ohne Gestaltungsplan mit einfachen baulichen und technischen Massnahmen mit elektrischer Energie versorgt und an die Kanalisation angeschlossen werden können. Daran ändern auch die von der Beschwerdeführerin eingereichten Kostenschätzungen nichts, an deren Höhe das Verwaltungsgericht doch einige Zweifel hegt. Es ist festzustellen, dass im massgeblichen Zeitpunkt der Enteignung eine bessere bauliche Grundstücksnutzung in naher Zukunft möglich gewesen wäre, wäre es nicht zur Auszonung gekommen.
Entscheid vom 30. März 2011