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TVR 2011 Nr. 23

Vorsorglicher Sicherungsentzug


Art. 16 d SVG, Art. 30 VZV


Die Anordnung eines (sofortigen) vorsorglichen Sicherungsentzuges ist im Fall eines „Strassenrowdys“ (Verfolgungsjagd auf Autobahn nach Discobesuch, Sachbeschädigung, Geschwindigkeitsübertretung, Lärmbelästigung, Führen eines Fahrzeuges trotz Führerausweisentzugs etc.) gerechtfertigt.


Mit Verfügung vom 3. März 2011 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau D, geboren am 14. August 1991, den Führerausweis vorsorglich, mit Wirkung ab Erhalt der Verfügung und auf unbestimmte Zeit. Zur Begründung führte das Strassenverkehrsamt aus, D sei am 21. Februar 2011 mit seinem Fiat Punto einer Polizeipatrouille aufgefallen, weil er mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen sei, den Motor hochgedreht und mehrfach einen Minikreisel befahren habe. Zudem sei er bereits am 19. Februar 2011 als Beifahrer an einer Verfolgungsjagd beteiligt gewesen. Ein definitiver Entscheid könne erst nach Vorliegen eines verkehrspsychologischen Gutachtens getroffen werden.
Die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen wies einen dagegen erhobenen Rekurs mit Entscheid vom 16. Mai 2011 ab. Ebenso wird eine von D eingereichte Beschwerde vom Verwaltungsgericht abgewiesen.

Aus den Erwägungen:

2. Streitig und zu prüfen ist, ob das Strassenverkehrsamt dem Beschwerdeführer zu Recht den Führerausweis aller Kategorien vorsorglich auf unbestimmte Zeit entzogen hat, weil ernsthafte Bedenken an der Fahreignung vorlagen.

2.1 Führerausweise sind zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG). Der Führerausweis wird einer Person wegen fehlender Fahreignung auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nicht ausreicht, ein Motorfahrzeug sicher zu führen, wenn sie an einer Sucht leidet, welche die Fahreignung ausschliesst, oder wenn sie aufgrund ihres bisherigen Verhaltens nicht Gewähr bietet, dass sie künftig im Verkehr die Regeln beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen wird (Art. 16d Abs. 1 SVG). Mit dem Begriff der Fahreignung werden die körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Individuums beschrieben, ein Fahrzeug im Strassenverkehr sicher lenken zu können (Weissenberger, Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz, Zürich/St. Gallen 2011, Art. 16d N. 2).

2.2 Der Führerausweis kann vor Abschluss eines Administrativverfahrens betreffend Sicherungsentzug vorsorglich entzogen werden, wenn ernsthafte Bedenken an der Fahreignung bestehen (Art. 30 VZV). Nach der bundesgerichtlichen Praxis erlauben angesichts des grossen Gefährdungspotentials des Autofahrens schon Anhaltspunkte, die den Lenker als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und ernsthafte Zweifel an seiner Fahreignung erwecken, einen solchen vorsorglichen Ausweisentzug. Der strikte Beweis für die Fahreignung ausschliessende Umstände ist nicht erforderlich. Können die notwendigen Abklärungen nicht rasch und abschliessend getroffen werden, soll der Ausweis schon vor dem Sachentscheid provisorisch entzogen werden können (BGE 125 II 492 E. 2b). Nachdem somit bereits das Vorliegen von Anhaltspunkten genügt, kann sich der Beschwerdeführer in diesem Verfahren nicht auf den im Strafprozess gültigen Grundsatz berufen, wonach „im Zweifel für den Angeklagten“ zu entscheiden ist.

2.3 Ein sofortiger vorsorglicher Entzug des Führerausweises ist zulässig, wenn ernsthafte Bedenken an der Fahreignung bestehen (Art. 30 i.V. mit Art. 108 Abs. 3 VZV). Das Strassenverkehrsamt hat eine Zwischenverfügung im Verfahren betreffend Sicherungsentzug gemäss Art. 16d SVG erlassen. Die Kosten für das angeordnete verkehrspsychologische Gutachten wurden zulässigerweise dem betroffenen Inhaber des Führerausweises auferlegt (Urteil des Bundesgerichts 1C_163/2007 vom 4. Juli 2007, E. 4). Zu prüfen ist im Folgenden, ob die Vorfälle vom 19. und 21. Februar 2011 einen vorsorglichen Führerausweisentzug rechtfertigten.

2.3.1 Der Beschwerdeführer hat den Führerausweis für die Kategorie B erst vor wenigen Monaten, am 8. Dezember 2010, erworben. Nur rund zwei Monate nach Erwerb des Führerausweises war der Beschwerdeführer in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 2011 in eine Wildwest-Aktion auf der Autobahn verwickelt. Nach einer Schlägerei in einer Konstanzer Disco nahm der Beschwerdeführer mit sieben Kollegen in drei Fahrzeugen die Verfolgung eines „Gegners“ auf. Auf der Autobahn A7 brachten sie den „gegnerischen“ Audi A3 ausgangs Kreuzlingen gemeinsam zum Stillstand, wobei die Fahrzeuge teilweise auf der Fahrbahn abgestellt wurden. Der Beschwerdeführer war bei dieser Aktion Beifahrer seines von einem Kollegen gelenkten Fiat Puntos und schlug mit blosser Faust die Seitenscheibe des Audi A3 ein, um an den Fahrzeugschlüssel des „Gegners“ zu gelangen. Dem Beschwerdeführer ist es aber „nicht gelungen“, den A3-Lenker zu schlagen, weil dieser flüchten konnte. So schilderte der Beschwerdeführer die Geschehnisse vom 19. Februar 2011 gegenüber der Polizei. Der Beteiligte T bestätigte diese Sachdarstellung.

2.3.2 Wie die Vorinstanz zu Recht festgehalten hat, ist es unbehelflich, wenn der Beschwerdeführer nachträglich seine Rolle in dieser Verfolgungsjagd herunterspielen will. Entgegen den Behauptungen des Beschwerdeführers zeugt es keinesfalls von Verantwortungsbewusstsein, dass er zwar an der Verfolgungsjagd teilnahm, dabei aber einen Kollegen sein Auto fahren liess. Die Teilnahme an dieser Aktion zeugt von erheblicher Unvernunft, das Einschlagen einer Autoscheibe mit blosser Hand zudem von ausserordentlicher Aggressivität. Der Beschwerdeführer ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass dieser nächtliche Vorfall mehr als nur eine Verurteilung wegen Sachbeschädigung nach sich ziehen könnte. Eine Anklage wegen mittäterschaftlicher Nötigung und grober Verkehrsverletzung liesse sich durchaus rechtfertigen. Nicht zuletzt durch die Blockierung der Autobahn morgens um ca. 04:00 Uhr wurde eine sehr gefährliche Situation hervorgerufen. Diese Aktion zeugt von einer besonderen Skrupellosigkeit und rechtfertigt schon für sich allein den verfügten vorläufigen Sicherungsentzug.

2.3.3 Der Beschwerdeführer hat überdies in der polizeilichen Einvernahme zugegeben, dass er in derselben Nacht respektive morgens um 05:15 Uhr mit seinem Auto an den Wohnort zurückfuhr, nachdem er noch um 02:30 Uhr innerhalb von wenigen Minuten eine erhebliche Menge Wodka getrunken hatte (vgl. dessen unterschiedliche Angaben in den Befragungen: Mengenangabe zuerst „ca. 5 Gläser“ Wodka Redbull, danach Reduktion auf die Hälfte). Ein Atemlufttest, der ca. morgens um 10:00 Uhr stattfand, ergab immer noch einen Wert von 0,1 Promille. Der nun behauptete Nachtrunk wurde in der Befragung der ersten Stunde noch nicht geltend gemacht; es handelt sich dabei klarerweise um eine Schutzbehauptung. Nach dem Gesagten ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer am 19. Februar 2011 in angetrunkenem Zustand gefahren ist (Art. 91 SVG). Auch dies ist ein Anhaltspunkt, der Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers weckt.

2.3.4 Nur zwei Tage später, am 21. Februar 2011, fiel der Beschwerdeführer mit seinem Fahrzeug einer Polizeipatrouille an der Schützenstrasse in Kreuzlingen auf, weil er in einer Tempo-30-Zone mit überhöhter Geschwindigkeit und lautem Motor ein Wohngebiet durchfuhr. Die Vorinstanz hat zu Recht festgehalten, dass dieses von mehreren Auskunftspersonen beobachtete Verhalten offensichtlich unzulässig war. Was der Beschwerdeführer als „guten Motorensound“ empfinden mag („Ich fahre gerne im niederen Gang auf hohen Touren“), ist von Gesetzes wegen als vermeidbare Lärmbelästigung zu unterlassen (vgl. Art. 42 SVG i.V. mit Art. 33 lit. b und c VRV). Der Beschwerdeführer bestreitet sodann, zu schnell gefahren zu sein. Nach den Beobachtungen der Polizei war er aber „deutlich schneller als alle anderen Verkehrsteilnehmer“ unterwegs. Die Vorinstanz hat daraus zu Recht den Schluss auf eine überhöhte Geschwindigkeit gezogen. Die Ausführungen des Beschwerdeführers zum angeblichen Fehlverhalten der Polizei sind unbehelflich und können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Beschwerdeführer mit seinem erneut aggressiven Fahrverhalten einen weiteren Anhaltspunkt herbeigeführt hat, der erhebliche Zweifel an seiner Fahreignung hervorruft.

2.4 Das Strassenverkehrsamt hat dem Beschwerdeführer den Führerausweis am 3. März 2011 zu Recht gestützt auf Art. 30 VZV vorsorglich entzogen. Nach den gravierenden Vorfällen vom 19. und 21. Februar 2011 lagen klarerweise genügend Anhaltspunkte vor, die erhebliche Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers begründeten. Dass der Beschwerdeführer bereits am 8. März 2011 wieder auffällig wurde (Führen eines Motorfahrzeugs trotz entzogenem Führerausweis, Art. 95 Ziff. 2 SVG; Wegwerfen von Abfall aus dem Auto, § 30 Abs. 3 Gesetz über die Abfallbewirtschaftung vom 4. Juli 2007), ist grundsätzlich nicht entscheidrelevant. Dieser Vorfall bestätigt aber die bereits zum Verfügungszeitpunkt vorliegenden erheblichen Zweifel an der Fahreignung des Beschwerdeführers. Weshalb der Beschwerdeführer trotz Entzug gefahren ist, ist von untergeordneter Bedeutung. Selbst wenn man der Behauptung des Beschwerdeführers Glauben schenkte, dass es sich um einen Irrtum gehandelt habe, so handelte der Beschwerdeführer zweifellos fahrlässig, als er die Verfügung selber „nur überflog“ und der falschen Auskunft seines Vaters vertraute, er dürfe noch fünf Tage lang fahren. Das Führen eines Motorfahrzeugs trotz Führerausweisentzug ist auch bei fahrlässiger Begehung strafbar (BGE 117 IV 302).

3. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass angesichts der innert wenigen Tagen mehrfach demonstrierten aggressiven, rücksichtslosen und gefährlichen Fahr- und Verhaltensweise des Beschwerdeführers hinreichend Anhaltspunkte vorlagen, welche den Beschwerdeführer als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen liessen und erhebliche Zweifel an dessen Fahreignung herbeiführten. Es bestehen ernsthafte Bedenken, dass der Beschwerdeführer auch in Zukunft rücksichtslos fahren wird. Zur genauen Abklärung und zum definitiven Entscheid über den Sicherungsentzug ist eine verkehrspsychologische Untersuchung unumgänglich. Die Verfügung eines vorsorglichen Sicherungsentzugs war im Interesse der übrigen Verkehrsteilnehmer geboten und notwendig. Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen.

Entscheid vom 14. September 2011

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