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TVR 2012 Nr. 37

Hilfsmittel, Kostenübernahme für Handprothesen


Art. 24 Abs. 1 KLV, Art. 999 Anhang 2 KLV, Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG


Da die MiGeL auch nach Kündigung des SVOT-Tarifs (Tarif des Schweizer Verbands der Orthopädie-Techniker) auf diesen verweist, sind die dortigen Ansätze weiterhin massgebend, weshalb keine höheren Kosten vergütet werden können. Die Funktion des SVOT-Tarifs beschränkt sich darauf, die entsprechenden Kosten festzuhalten, stellt aber keine weiteren Einschränkungen in Bezug auf die zu vergütenden Prothesen der Extremitäten auf. Die Austauschbefugnis in Bezug auf i-Limb Handprothesen anstelle „normaler“ Unterarm- und Handgelenksprothesen wird im vorliegenden Fall bejaht, zumal eine beidseitige Prothesenversorgung notwendig ist.


L, Jahrgang 1940, erlitt eine Pneumokokken-Sepsis, in deren Folge eine Amputation beider Hände sowie eines Fusses notwendig war. Am 4. Januar 2011 liess sie der Krankenkasse Kostenvoranschläge für entsprechende Prothesen einreichen. Mit Schreiben vom 13. Januar 2011 garantierte die Krankenkasse die Kostenübernahme für die Unterschenkelprothese und Unterschenkelorthese gemäss Mittel- und Gegenständeliste (MiGeL) Positionen 23.03 und 24.03. In Bezug auf die beidseitig erforderliche Versorgung mit einer Unterarmprothese und einer Handgelenkprothese garantierte die Krankenkasse die Kostenübernahme ebenfalls gemäss MiGeL Position 24.03. Für Positionen, die nicht nach SVOT-Tarif gestellt worden waren, garantierte sie keine Kostengutsprache; hiervon betroffen waren eine Pulse Prothesenhand, small, eine Garantieverlängerung für das zweite Jahr ab Lieferdatum, eine Garantieverlängerung für das dritte Jahr ab Lieferdatum, ein Silikon Kosmetikhandschuh Set für Pulse Hand sowie Elektroden. Aufgrund einer telefonischen Nachfrage der Tochter von L holte die Krankenkasse zur abgelehnten Kostengutsprache die Stellungnahme ihres Vertrauensarztes ein, welcher die Ablehnungen aller Leistungen, welche nicht in der MiGeL oder im SVOT-Tarif aufgelistet seien, empfahl. Mit Schreiben vom 27. Januar 2011 hielt die Krankenkasse an der Kostengutsprache vom 13. Januar 2011 fest, was sie mit Verfügung vom 10. Februar 2011 bestätigte. Die von L am 10. März 2011 hiergegen erhobene Einsprache, wies sie mit Entscheid vom 6. September 2011 ab. Zuvor hatte sie L die Kostenübernahme der Unterarmprothese und der Handgelenksprothese gemäss MiGeL Position 24.03, „Vergütung nach Positionen des SVOT-Tarifes zu einem TP-Wert von CHF 1.80“, Totalbetrag Fr. 47'307.60, garantiert.
Mit Eingabe vom 10. Oktober 2011 liess L Beschwerde erheben und die Gewährung von zwei i-Limb Handprothesen beantragen. Eventualiter seien ihr zumindest diejenigen Kosten für die i-Limb Handprothesen zu vergüten, die ohnehin anfallen würden. Das Versicherungsgericht heisst die Beschwerde im Sinne des Eventualantrags gut.

Aus den Erwägungen:

3.2 Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Diese Leistungen umfassen unter anderem die ärztlich oder unter den vom Bundesrat bestimmten Voraussetzungen von Chiropraktoren oder Chiropraktorinnen verordneten Analysen, Arzneimittel und der Untersuchung oder Behandlung dienenden Mittel und Gegenstände (Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG). Als allgemeine Voraussetzung hält Art. 32 Abs. 1 KVG fest, dass die Leistungen nach den Art. 25 - 31 KVG wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen, wobei die Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein muss. Gemäss Art. 52 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 KVG erlässt das EDI Bestimmungen über die Leistungspflicht und den Umfang der Vergütung bei Mitteln und Gegenständen, die der Untersuchung oder Behandlung dienen. Das EDI hat gestützt auf diese Bestimmung die MiGeL erlassen. Weitere diesbezügliche Normen finden sich in den Art. 20 - 24 KLV.

3.3 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist die MiGeL abschliessend. Entsprechend ist für die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung neben der Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften zusätzlich verlangt, dass die fraglichen Mittel und Gegenstände in der MiGeL aufgeführt sind, andernfalls keine obligatorische Leistungspflicht besteht. Die in der MiGeL aufgeführten Mittel und Gegenstände dürfen höchstens zu dem Betrag vergütet werden, der in der Liste für die entsprechende Art von Mitteln und Gegenständen angegeben ist (Art. 24 Abs. 1 KLV). Bei einer im Einzelfall vorzunehmenden Prüfung, ob die Nichtaufnahme eines Gegenstands oder Mittels in die MiGeL vor Gesetz und Verfassung standhält, ist praxisgemäss höchste Zurückhaltung angezeigt (BGE 136 V 84 E. 2.2 mit Hinweisen).

4.
4.1 Vorliegend macht die Beschwerdeführerin keine Gesetzes- bzw. Verfassungswidrigkeit der MiGeL geltend. Vielmehr beruft sie sich im Wesentlichen darauf, dass die MiGeL selbst für Prothesen keinen Höchstvergütungsbetrag aufweise. In Bezug auf den SVOT-Tarif, auf den in der MiGeL verwiesen wird, hält die Beschwerdeführerin fest, der entsprechende Tarifvertrag sei gekündigt worden, so dass diesbezüglich ab 1. Juli 2011 von einem vertragslosen Zustand auszugehen sei.

4.2 Es trifft zu, dass die MiGeL für Prothesen der Extremitäten keinen Höchstbetrag nennt, sondern diesbezüglich auf den SVOT-Tarif verweist (Position 24.03.01.00.1 MiGeL). Wie die Beschwerdeführerin korrekt anmerkt, wurde der dem SVOT-Tarif zugrundeliegende Tarifvertrag per 30. Juni 2011 gekündigt. Nachdem die aktuali­sierte MiGeL jedoch nach wie vor auf den SVOT-Tarif verweist (vgl. Kommentierte Mittel- und Gegenständeliste vom 1. Januar 2012 S. 56, abrufbar unter http://www.bag.admin.ch/themen/krankenversicherung/00263/00264/04184/index.html?lang=de), sind die dort aufgeführten Höchstvergütungsbeträge trotz vertragslosen Zustands nach wie vor massgebend. Hiervon geht offensichtlich auch der Bundesrat aus, hat er doch im Rahmen der an ihn gerichteten Interpellation 11.3807 betreffend „Zeitgemässe und zweckmässige Prothesenversorgung“ am 9. Dezember 2011 festgehalten, der SVOT-Tarif stelle für die Krankenversicherung einen Höchst­vergütungsbetrag dar (http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx? gesch_id=20113807). 4.3 Vorliegend ist unbestritten, dass die von der Beschwerdeführerin beanspruchten i-Limb Handprothesen den Höchstvergütungsbetrag gemäss SVOT-Tarif überschreiten, womit eine entsprechende Kostenübernahme durch die Beschwerdegegnerin nach dem oben Gesagten nicht möglich ist.

5.
5.1 Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführerin gemäss ihrem Eventualantrag im Sinne einer Austauschbefugnis diejenigen Kosten vergütet werden können, welche ohnehin angefallen wären. Dies ist zu bejahen, wie nachfolgend dargelegt wird.

5.2 Austauschbefugnis bedeutet, dass die versicherte Person auf der Grundlage und nach Massgabe des Gesetzes mit einer Geldzahlung zu entschädigen ist, wenn sie aus schützenswerten Gründen von einem gesetzlichen Leistungsanspruch keinen Gebrauch macht und stattdessen einen funktionell gleichen Behelf zur Erreichung desselben gesetzlichen Ziels wählt. Der Kerngehalt der Austauschbefugnis liegt darin, dass es grundsätzlich ohne Bedeutung ist, auf welchem Weg oder durch welches Mittel das gesetzliche Ziel angestrebt wird. Die Austauschbefugnis kann grundsätzlich auch in der obligatorischen Krankenversicherung zur Anwendung gelangen; sie darf jedoch nicht dazu führen, Pflichtleistungen durch Nichtpflichtleistungen zu ersetzen, und zwar auch dann nicht, wenn die Nichtpflichtleistungen billiger wären als die Pflichtleistungen (BGE 131 V 107 E. 3.2.1 f.).

5.3 Zur Diskussion stehen vorliegend die Kosten für die beiden i-Limb Handprothesen. In Position 24.03.01.00.1 der MiGeL werden als vergütungsfähige Hilfsmittel „Prothesen der Extremitäten, inklusive notwendige Anpassungen und Prothesenzubehör (Prothesenstrümpfe usw.)“ genannt. Der Verweis auf den SVOT-Tarif erfolgt hierbei einzig im Hinblick auf den zu vergütenden Höchstbetrag. Die einzige Funktion des SVOT-Tarifs liegt somit darin, die entsprechenden Kosten festzuhalten, nicht jedoch weitere Einschränkungen in Bezug auf die zu vergütenden Prothesen der Extremitäten aufzustellen. Die von der Beschwerdeführerin beanspruchten i-Limb Handprothesen stellen offenkundig und unbestrittenermassen Prothesen der Extremitäten im Sinne von Position 24.03.01.00.1 der MiGeL dar. Entsprechend handelt es sich bei diesen Prothesen um Pflichtleistungen. Entgegen den (sinngemässen) Vorbringen der Beschwerdegegnerin geht es also nicht darum, Pflichtleistungen durch Nichtpflichtleistungen zu ersetzen. Die Kostenvergütung im Sinne der Austauschbefugnis (als Beitrag an die i-Limb Handprothesen) anstelle der Kostengutsprache für die Unterarm- und Handgelenksprothesen gemäss Kostenvoranschlag vom 6. Mai 2011 erscheint angesichts der gegebenen Umstände auch schützenswert im Sinne der in E. 5.2 wiedergegebenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Wie eingangs erwähnt, scheint die gesetzliche Ordnung auf den Fall ausgerichtet zu sein, dass eine versicherte Person „lediglich“ auf eine (Hand)Prothese angewiesen ist, weshalb die in der MiGeL und im SVOT-Tarif vorgesehenen Leistungen den Anforderungen an eine angemessene Versorgung in der Regel genügen. Die Beschwerdeführerin ist jedoch auf zwei Prothesen angewiesen, was in sämtlichen Lebensbereichen zu unverhältnismässig höheren Einschränkungen führt. Es ist daher nachvollziehbar, dass sie eine über die vom Gesetzgeber vorgesehene hinausgehende Prothesenversorgung wünscht, um die (zusätzlichen) Einschränkungen zu minimieren. Auch wenn die Beschwerdegegnerin als obligatorische Krankenversicherung die hierfür entstehenden Mehrkosten, wie oben dargelegt, nicht zu übernehmen hat, so erscheint es doch angemessen, der Beschwerdeführerin die gesetzlich vorgesehenen Kosten zu vergüten, um ihr so die Anschaffung der beanspruchten i-Limb Prothesen zu erleichtern. Vor diesem Hintergrund ist der Eventualantrag der Beschwerdeführerin gutzuheissen.

Entscheid vom 1. Februar 2012

Das Bundesgericht hat eine gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit Urteil 9C_216/2012 vom 18. Dezember abgewiesen.

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