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TVR 2014 Nr. 11

Vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht, Voraussetzungen


§ 38 VSG, Art. 19 BV, Art. 62 BV


Im vorliegenden Fall erweist sich ein vorzeitiger Ausschluss aus der Regelschule als angemessen. Jedoch sind gleichzeitig - und vor einer gänzlichen vorzeitigen Entlassung aus der Schulpflicht - alternative Beschulungsmöglichkeiten bzw. eine Sonderschulbedürftigkeit zu prüfen.


S, geboren am 28. Mai 1998, trat im August 2011 in die Sekundarschule B ein. Nach Problemen in der Schule wurde S am 8. November 2012 der Sonderschule K zugewiesen. Der Kanton erteilte Kostengutsprache für die Zeit vom 5. November 2012 bis 31. Juli 2014. Noch im Herbst 2012 verliess S - aus unklaren Gründen - jedoch die Sonderschule und trat im Januar 2013 wieder in die Sekundarschule B ein.
Die Probleme hielten allerdings an, es kam insbesondere wieder zu zahlreichen Absenzen. Nach einem vorzeitig wieder abgebrochenen Time-out hielt sich S vom 12. Juli 2013 bis 17. September 2013 in der Psychiatrischen Klinik Clienia in Littenheid auf. Am 4. Oktober 2013 wurde zwischen S, seiner Mutter und den zuständigen Behördenvertretern eine Zusammenarbeitsvereinbarung abgeschlossen mit dem Inhalt, dass sich die Sekundarschule F bereit erklärte, S eine letzte Chance zu geben, die 8. Klasse zu wiederholen und anschliessend seine obligatorische Schulzeit regulär abschliessen zu können. Nach weiteren unentschuldigten Schulabsenzen teilte die Sekundarschule F am 14. November 2013 der Mutter von S mit, die Fortsetzung der Beschulung von S sei unter den gegebenen Voraussetzungen nicht mehr möglich. Sie werde das Inspektorat ersuchen, eine administrative Umteilung an die Sekundarschule B vornehmen zu lassen. Vereinbarungsgemäss werde der Schulleiter der Sekundarschulgemeinde B beim DEK die vorzeitige Ausschulung beantragen.
Mit Entscheid vom 6. Januar 2014 verfügte die Sekundarschulgemeinde B die vorübergehende Wegweisung von S. Eine Wiederaufnahme in B sei nicht möglich. Die Wegweisung gelte ab sofort. Gleichentags entschied das DEK auf Antrag der Sekundarschulgemeinde B, S werde per sofort vorzeitig aus der Schulpflicht entlassen. Dagegen gelangte S, vertreten durch seine Mutter, ans Verwaltungsgericht. Dieses heisst die Beschwerde unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids teilweise gut und stellte fest, dass S in der Regelklasse zwar nicht mehr tragbar sei, jedoch müsse vor der Entlassung aus der Schulpflicht (nochmals) die Sonderschulbedürftigkeit von S geprüft werden.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer zu Recht vorzeitig aus der Schulpflicht entlassen wurde. Art. 19 BV gewährleistet den Anspruch auf ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht. Dieses soziale Grundrecht verleiht einen individuellen subjektiven Anspruch auf eine staatliche Leistung, nämlich auf eine grundlegende Ausbildung. Es dient insbesondere der Verwirklichung der Chancengleichheit, indem in der Schweiz alle Menschen ein Mindestmass an Bildung erhalten, das nicht nur für ihre Entfaltung, sondern auch für die Wahrnehmung der Grundrechte unabdingbar ist (BGE 129 I 12 E. 4.1 unter Hinweis auf Rhinow, Die Bundesverfassung 2000, Basel 2000, S. 341; Meyer-Blaser/Gächter, Der Sozialstaatsgedanke, in: Thürer/Aubert/Müller [Hrsg.], Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2000, § 34 N. 32). Für das Schulwesen sind die Kantone zuständig (Art. 62 Abs. 1 BV). Sie müssen einen ausreichenden und unentgeltlichen Grundschulunterricht gewähren (Art. 19 und 62 Abs. 2 BV). Namentlich sorgen die Kantone für eine ausreichende Sonderschulung aller behinderten Kinder und Jugendlichen bis längstens zum vollendeten 20. Altersjahr (Art. 62 Abs. 3 BV).

2.2 Einschränkungen in ein Grundrecht können nur vorgenommen werden, wenn eine genügende gesetzliche Grundlage dazu vorliegt, wenn sie im öffentlichen Interesse liegen und wenn sie verhältnismässig sind, wobei der Kerngehalt der Grundrechte unantastbar ist (Art. 36 BV). Art. 36 BV ist im Wesentlichen auf Freiheitsrechte zugeschnitten, das heisst auf diejenigen Grundrechte, die sich auf die Ausübung gewisser menschlicher Fähigkeiten beziehen, deren Schutzbereich und Inhalt sich aus ihnen selber ergeben; nicht konzipiert ist die Eingriffsregelung insbesondere für Grundrechte sozialen Charakters. Bei diesen Grundrechten, die Ansprüche auf positive Leistungen des Staates begründen, wie dem Recht auf Existenzsicherung, stellt der Staat keine Schranken auf, sondern nennt die Voraussetzungen, unter denen ein anerkanntes Recht ausgeübt werden kann (BGE 129 I 12 E. 6.2 unter Hinweis auf die Botschaft des Bundesrates über eine neue Bundesverfassung vom 20. November 1996, BBl 1997 I 194 f.). Die Grenze der Sozialrechte liegt namentlich in der Leistungsfähigkeit des Staates. Für ihre Einschränkung kann Art. 36 BV sinngemäss hinzugezogen werden, wobei auch eine Abwägung zwischen dem betroffenen öffentlichen Interesse und den Individualinteressen vorzunehmen ist.

2.3 Die Verfassung des Kantons Thurgau äussert sich in §§ 70 und 71 zum Schulwesen bzw. zu den Schulen. Demgemäss unterstützen Kanton und Schulgemeinden die Eltern bei der Bildung und Erziehung der Kinder (§ 70 Abs. 1 KV). Die Volksschule ist obligatorisch (§ 70 Abs. 2 KV). Der Besuch öffentlicher Schulen ist für Kantonseinwohner unentgeltlich (§ 71 Abs. 2 KV).

2.4 Gemäss § 38 VSG dauert die Schulpflicht an der Primar- und Sekundarschule neun Jahre (§ 38 Abs. 1 VSG). Wenn triftige Gründe vorliegen, kann das Departement die vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht bewilligen (§ 38 Abs. 2 VSG).

3.
3.1 und 3.2 (…)

3.3 (Feststellung diverser Verstösse des Beschwerdeführers in Form von unentschuldigtem Fernbleiben in der Schule F)Das Verhalten des Beschwerdeführers stellt aus Sicht des Gerichts denn auch durchaus einen triftigen Grund dar, welcher grundsätzlich einen Schulausschluss rechtfertigen kann. Wenngleich der von der Vorinstanz angeordnete Schulausschluss den Beschwerdeführer zweifelsohne mit grosser Härte trifft, muss in einem Fall wie dem vorliegenden, wo ein Schüler trotz wiederholtem Einräumen von letzten Möglichkeiten und schliesslich einer allerletzten Chance die Disziplinarordnung, zu welcher insbesondere auch die Präsenz im Unterricht gehört, nicht einhält, eine vorzeitige Entlassung aus der Schulpflicht als ultima ratio grundsätzlich möglich sein. Dies zumal die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Regelschule mit Bezug auf den Beschwerdeführer offensichtlich erreicht sind: Weder die Chance eines Klassenwechsels in B, bei welchem ein zweiter Lehrer eine Betreuungsfunktion übernahm, noch die weitere Chance eines Schulabschlusses in F konnte der Beschwerdeführer umsetzen.

3.4 Ein vorzeitiger Ausschluss des Beschwerdeführers aus der Regelschule erscheint mithin in diesem konkreten Fall gerechtfertigt. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, weshalb die Vorinstanz davon absah, eine alternative Beschulung des Beschwerdeführers in einer Sonderschule zu prüfen. Noch am 2. November 2012 hatte der für den Beschwerdeführer zuständige Schulpsychologe auf Sonderschulbedürftigkeit erkannt und aufgrund der schwerwiegenden Verhaltensstörungen bzw. einer Anpassungsstörung mit oppositionellem Verhalten für die Dauer von 1,5 Jahren eine Sonderbeschulung beantragt. In der Folge wurde der Beschwerdeführer für die Zeit vom 5. November 2012 bis 31. Juli 2014 der Sonderschule K zugewiesen. Die Gründe, weshalb er aus dieser Schule ausschied, legte keine Partei dar. Die Vorinstanz war mit Schreiben vom 27. Januar 2014 aufgefordert worden, sämtliche Akten zuzustellen. Entsprechend muss davon ausgegangen werden, die Hintergründe dieses Austritts aus der Sonderschule seien nicht dokumentiert. Ein Entscheid, der Beschwerdeführer sei nicht mehr sonderschulbedürftig, wurde offenbar nie gefällt. Im Recht liegt lediglich ein E-Mail-Schreiben des zuständigen Schulpsychologen an den Beistand des Beschwerdeführers, in welchem auch ein Satz enthalten ist, wonach beim Beschwerdeführer derzeit kein Sonderschulstatus vorliege. Derselbe Schulpsychologe hielt in seiner Stellungnahme an die Vorinstanz fest, die Schulabsenzen seien durch die zeitweise äusserst angespannte Familiensituation mitbedingt gewesen. Diese Schwierigkeiten hätten trotz intensiver einzel- und familientherapeutischer Massnahmen nicht entscheidend verändert werden können. Auch die jahrelangen medizinisch-therapeutischen Massnahmen inklusive stationärem Aufenthalt in der Klinik hätten nicht zu einer anhaltenden Unterrichtspräsenz beitragen können. Auch durch hoch intensive Unterstützung sei der Beschwerdeführer nicht zu einer regelmässigen Unterrichtsteilnahme zu bewegen gewesen. Eine erneute Reintegration in die Volksschule sei nicht nachvollziehbar. Aus Sicht des Gerichts hat sich damit - ungeachtet des Klinikaufenthaltes des Beschwerdeführers vom 12. Juli 2013 bis 17. September 2013 - an den Gründen, welche zur Qualifikation des Beschwerdeführers als Sonderschüler geführt haben, kaum etwas geändert. Die Ärzte der Clienia Littenheid AG, welche den Beschwerdeführer während seines dortigen Aufenthaltes von rund zwei Monaten beobachtet hatten, hielten in ihrem Bericht vom 4. November 2013 denn auch fest, wenn die Wiederaufnahme der Regelschule scheitere, sei die Unterbringung in einem sozialpädagogischen Rahmen mit klaren Strukturen dringend indiziert. Entsprechend ist aber nicht nachvollziehbar, weshalb davon abgesehen wurde, die erneute Beschulung des Beschwerdeführers als (interner) Sonderschüler zu prüfen. Vielmehr ist der Duplik der Vorinstanz vom 8. April 2014 zu entnehmen, dass eine (erneute) Qualifizierung des Beschwerdeführers als Sonderschüler mit entsprechender Einweisung in eine Sonderschule von den Eltern des Beschwerdeführers wohl nicht akzeptiert würde. Dies ist aber kein Grund, um von entsprechenden Abklärungen abzusehen und dem Beschwerdeführer die Beschulung in einer Sonderschule zu versagen. Würde trotz festgehaltenem Bedarf für eine Sonderschulung in einem Internat von den Erziehungsberechtigten keine solche Platzierung veranlasst, wäre gemäss § 13 Abs. 1 SonderschulV die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zu informieren.

4. Eine generelle vorzeitige Entlassung des Beschwerdeführers aus der Schulpflicht ist bei dieser Sachlage nicht zulässig. Der Beschwerdeführer ist in der Regelklasse nicht mehr tragbar. Die Vorinstanz bzw. das Amt für Volksschule hat aber die Sonderschulbedürftigkeit des Beschwerdeführers nochmals zu überprüfen und - für den Fall, dass auf einen Sonderschulbedarf zu schliessen ist - geeignete Massnahmen in die Wege zu leiten, wobei aufgrund der aktenkundigen Verhaltensauffälligkeiten des Beschwerdeführers im emotionalen und sozialen Bereich wohl nur eine interne Sonderbeschulung Thema sein kann.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2014.12/E vom 4. Juni 2014

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