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TVR 2014 Nr. 30

Hilflosenentschädigung, lebenspraktische Begleitung


Art. 42 Abs. 3 IVG, Art. 38 IVV


Gestützt auf den im Rentenverfahren erstellten Haushaltabklärungsbericht sowie die medizinischen Unterlagen ist die Möglichkeit einer selbständigen Haushaltführung auch unter Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht im vorliegenden Fall zu verneinen, womit ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung ausgewiesen ist.


M erlitt 2010 einen Verkehrsunfall, wobei sie sich ein Polytrauma mit schwerem Schädelhirntrauma zuzog. Am 21. November 2011 meldete sie sich zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an. In der Folge holte die IV-Stelle medizinische Berichte ein und führte am 9. August 2012 eine Abklärung bei M zu Hause durch. Mit Verfügung vom 21. Mai 2013 verneinte sie einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung. Das Versicherungsgericht heisst die hiergegen erhobene Beschwerde teilweise gut und stellt fest, dass M mit Wirkung ab 1. Dezember 2011 Anspruch auf eine Entschädigung für eine Hilflosigkeit leichten Grads hat.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos sind, haben Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung (Art. 42 IVG). Es ist zu unterscheiden zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit. Als hilflos gilt eine Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Als hilflos gilt ebenfalls eine Person, welche zu Hause lebt und wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Ist nur die psychische Gesundheit beeinträchtigt, so muss für die Annahme einer Hilflosigkeit mindestens ein Anspruch auf eine Viertelsrente gegeben sein. Ist eine Person lediglich dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen, so liegt immer eine leichte Hilflosigkeit vor (Art. 42 Abs. 3 IVG).

2.3 Die lebenspraktische Begleitung wird in Art. 38 IVV geregelt. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung liegt ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heims lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit: a. ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbständig wohnen kann; b. für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist; oder c. ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren. Ist lediglich die psychische Gesundheit beeinträchtigt, so muss für die Annahme einer Hilflosigkeit gleichzeitig ein Anspruch auf mindestens eine Viertelsrente bestehen (Art. 38 Abs. 2 IVV). Zu berücksichtigen ist nur diejenige lebenspraktische Begleitung, die regelmässig und im Zusammenhang mit den in Abs. 1 erwähnten Situationen erforderlich ist. Nicht darunter fallen insbesondere Vertretungs- und Verwaltungstätigkeiten im Rahmen vormundschaftlicher Massnahmen nach Art. 398-419 ZGB (Art. 38 Abs. 3 IVV).
Die lebenspraktische Begleitung ist regelmässig, wenn sie über eine Periode von drei Monaten gerechnet im Durchschnitt mindestens zwei Stunden pro Woche benötigt wird (Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH] Rz. 8053; BGE 133 V 450 E. 6.2).Es entspricht der gesetzlichen Konzeption, dass die lebenspraktische Begleitung weder die Dritthilfe bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen noch die Pflege noch die Überwachung beinhaltet. Sie stellt vielmehr ein zusätzliches und eigenständiges Institut der Hilfe dar (BGE 133 V 450 E. 9 mit Hinweisen). Sofern zusätzlich zur lebenspraktischen Begleitung auch die Hilfe bei der Teilfunktion einer alltäglichen Lebensverrichtung benötigt wird, so darf die gleiche Hilfeleistung nur einmal - d.h. entweder als Hilfe bei der Teilfunktion der alltäglichen Lebensverrichtung oder als lebenspraktische Begleitung - berücksichtigt werden (KSIH Rz. 8048). Das Erfordernis der Hilfe bei der Kontaktpflege, um der Gefahr einer dauernden Isolation vorzubeugen, ist nur unter dem Titel lebenspraktische Begleitung zu berücksichtigen, nicht aber im Rahmen der Teilfunktion Pflege gesellschaftlicher Kontakte (KSIH Rz. 8024).

3. - 4.1 (…)

4.2 Zu prüfen bleibt, ob die Beschwerdeführerin dauernd der lebenspraktischen Begleitung bedarf.

4.2.1 Die Beschwerdegegnerin hat den Bedarf an lebenspraktischer Begleitung unter Hinweis auf die Ausführungen im Abklärungsbericht vom 9. August 2012 verneint. Dort wurde zum selbständigen Wohnen im Wesentlichen festgehalten, der Haushalt werde vollständig von der Familie erledigt. Der Grund sei, dass die Beschwerdeführerin die Tätigkeiten nicht mehr richtig ausführe. Dass die Beschwerdeführerin ihren Mann beim Kochen anleite, zeige, dass sie die entsprechenden Handlungsabläufe kenne und nicht vergessen habe. Es sei ihr möglich, Bedürfnisse zu äussern; sie könne sich mitteilen. Es könne somit davon ausgegangen werden, dass sie Haushaltsarbeiten durchaus erkenne und erforderliche Hilfeleistungen auch selber organisieren könne. Es wäre ihr auch zumutbar, gewisse Haushaltsarbeiten selbständig durchzuführen. In Bezug auf die Begleitung bei ausserhäuslichen Verrichtungen und Kontakten wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Begleitung sei nicht aufgrund des Gesundheitsschadens notwendig geworden. Zur regelmässigen Anwesenheit einer Drittperson zur Verhinderung einer dauernden Isolation vor der Aussenwelt wurde vermerkt, die Beschwerdeführerin lebe mit dem Ehemann und der Tochter im selben Haushalt, womit nicht von einer sich bereits manifestierten Isolation ausgegangen werden könne.

4.2.2 Die Ausführungen der Beschwerdegegnerin sind nicht restlos überzeugend. Zutreffend ist, dass sich bislang keine Isolation manifestiert hat (vgl. hierzu KSIH 8052, bestätigt im Urteil des Bundesgerichts 9C_543/2007 vom 28. April 2008 E. 5.2.2). Im Bereich des selbständigen Wohnens dient die lebenspraktische Begleitung der selbständigen Bewältigung des Alltags. Sie erstreckt sich insbesondere auf die Haushaltsarbeiten; diese gehören nämlich nicht zu den alltäglichen Lebensverrichtungen (BGE 130 V 450 E. 9). Sie liegt vor, wenn die betroffene Person auf Hilfe bei mindestens einer der folgenden Tätigkeiten angewiesen ist: Hilfe bei der Tagesstrukturierung; Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen (z. B. nachbarschaftliche Probleme, Fragen der Gesundheit, Ernährung und Hygiene, einfache administrative Tätigkeiten, etc.); Anleitung zur Erledigung des Haushalts sowie Überwachung/Kontrolle (KSIH Rz. 8050). Es erscheint fraglich, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich selbständig wohnen kann. Immerhin wurde ihr im Austrittsbericht der H-Klinik für die Tätigkeit als Hausfrau eine ca. 70%ige Arbeitsunfähigkeit mit reduzierter Leistungsfähigkeit attestiert. Dabei war ausgeführt worden, die kognitiven Defizite könnten im häuslichen Alltag zu Problemen in der Planung und Ausführung von selbständigen Haushaltstätigkeiten führen; in Bezug auf die Alltagsfertigkeiten Waschen, Kochen und Körperpflege war davon ausgegangen worden, dass die Beschwerdeführerin diese selbständig ausführen könne. Zwar ist gestützt auf die Akten anzunehmen, dass die Beschwerdeführerin effektiv weniger macht, als sie könnte, da sie von ihrer Familie diesbezüglich „überbehütet“ wird. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass es ihr möglich wäre, selbständig zu wohnen und insbesondere ihren Haushalt ohne jegliche Unterstützung zu führen. In diesem Zusammenhang erscheint es auch ungenügend, pauschal auf eine „Schadenminderungspflicht durch Angehörige“ hinzuweisen, wie dies im Assessment-Bericht der interdisziplinären Besprechung vom 30. April 2013 gemacht wurde. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (Urteil 9C_410/2009 vom 1. April 2010 E. 5.1 mit Hinweisen) ist die Frage, ob eine Dritthilfe notwendig ist, objektiv, nach dem Zustand der versicherten Person, zu beurteilen. Grundsätzlich unerheblich ist die Umgebung, in welcher sie sich aufhält (BGE 133 V 450 E. 5). Demgegenüber ist die tatsächlich erbrachte Mithilfe von Familienmitgliedern eine Frage der Schadenminderungspflicht, die erst in einem zweiten Schritt zu prüfen ist. Hier gilt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (Urteil 9C_410/2009 vom 1. April 2010 E. 5.5 mit Hinweisen) Folgendes: Die Auswirkungen des Gesundheitsschadens auf die Einsatzfähigkeit sind durch geeignete organisatorische Massnahmen und die Mithilfe der Familienangehörigen möglichst zu mildern. Diese Mithilfe geht zwar weiter als die ohne Gesundheitsschaden üblicherweise zu erwartende Unterstützung, jedoch darf den Familienangehörigen keine unverhältnismässige Belastung entstehen. Vielmehr ist bei der Mitarbeit von Familienangehörigen stets danach zu fragen, wie sich eine vernünftige Familiengemeinschaft einrichten würde, sofern keine Versicherungsleistungen zu erwarten wären. Vorliegend leisten der Ehemann und die Kinder der Beschwerdeführerin mehr, als von ihnen im Rahmen der Schadenminderungspflicht verlangt werden könnte, führen sie doch praktisch den gesamten Haushalt. Es stellt sich die Frage, in welchem Ausmass die Beschwerdeführerin in der Lage wäre, die Aufgaben im Haushalt zu übernehmen. In diesem Zusammenhang kann der Haushaltabklärungsbericht vom 5. September 2012, der anlässlich der Prüfung eines allfälligen Rentenanspruchs erstellt wurde, berücksichtigt werden. Dieser wurde im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren als plausibel erachtet. In diesem Bericht wurde - unter Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht in Form von Mithilfe durch Ehemann und Kinder - eine Einschränkung von 25,5% festgestellt. Die prozentual höchste Einschränkung wurde dabei im Bereich der Haushaltführung (Planung/Organisation/Arbeitseinteilung/Kontrolle) festgestellt. Hier wurde - unter Einbezug der zumutbaren Mithilfe durch Ehemann und Kinder - eine Einschränkung von 50% ermittelt. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Beschwerdeführerin auch bei Inanspruchnahme der zumutbaren Mithilfe ihrer Familienangehörigen nicht in der Lage ist, ihren Haushalt selbständig zu führen. Aufgrund ihrer kognitiven Defizite benötigt die Beschwerdeführerin insbesondere Anleitung zur Erledigung des Haushalts sowie Überwachung/Kontrolle. Dies deckt sich mit dem Ergebnis im Austrittsbericht der H-Klinik vom 26. April 2011. Eine wesentliche Verbesserung scheint seither nicht eingetreten zu sein. Denn gemäss Bericht vom 10. Dezember 2013 wurde weiterhin ein schweres, alltagsrelevantes kognitives Defizit in praktisch allen Bereichen (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, höhere Denkleistungen) festgestellt, das als mit den früheren Untersuchungsergebnissen vergleichbar erachtet wurde. Diese „hohen funktionellen Einschränkungen“ werden auch vom Regionalen Ärztlichen Dienst der Invalidenversicherung anerkannt. Insgesamt ist damit ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Umfang von mindestens zwei Stunden pro Woche ausgewiesen. Da die Haushaltsarbeit täglich anfällt, ist auch die geforderte Regelmässigkeit gegeben.

4.3 Zusammengefasst ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist und folglich einen Anspruch auf eine Entschädigung für eine Hilflosigkeit leichten Grades hat (Art. 37 Abs. 3 lit. d IVV). Fraglich ist, ob sie zudem in der alltäglichen Lebensverrichtung „Fortbewegung (im oder ausser Haus) und Kontaktaufnahme“ auf Hilfe angewiesen ist. Dies braucht jedoch nicht näher geprüft zu werden, da auch bei Bejahung dieser Frage kein Anspruch auf eine höhere Hilflosenentschädigung besteht.

Entscheid des Versicherungsgerichts VV.2013.209/E vom 6. August 2014

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