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TVR 2014 Nr. 32

Abklärungsstelle bei Verlaufsgutachten


Art. 43 ATSG, Art. 72 bis IVV


Die Vergabe von Verlaufsgutachtensaufträgen an die Gutachterstelle, welche bereits die primäre Begutachtung vorgenommen hat, ist auch zulässig, wenn diese erste Gutachterstelle nicht über die Plattform SuisseMED@P bestimmt wurde.


K hatte sich am 12. Dezember 2008 zum Bezug von IV-Leistungen für Erwachsene bei der IV-Stelle des Kantons Thurgau angemeldet. Am 11. November 2009 wurde sie im Auftrag der IV-Stelle des Kantons Thurgau im Ärztlichen Begutachtungsinstitut GmbH Basel (nachfolgend ABI) internistisch und psychiatrisch abgeklärt. Für leichte leidensadaptierte Tätigkeiten wurde auf eine 80%ige Arbeits- und Leistungsfähigkeit, vollschichtig realisierbar, geschlossen. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren wurde mit Verfügungen vom 26. März 2010 sowohl ein Anspruch auf eine Invalidenrente als auch ein Anspruch auf berufliche Massnahmen verneint. Die Verfügungen erwuchsen in Rechtskraft.
Am 3. April 2012 meldete sich K erneut zum Leistungsbezug. Angesichts diverser medizinischer Berichte von behandelnden Ärzten teilte die IV-Stelle K am 22. August 2012 mit, es sei eine polydisziplinäre medizinische Abklärung notwendig; mit der Untersuchung werde das ABI beauftragt. Die ABI-Fachärzte gelangten im Rahmen ihrer Begutachtung erneut zum Ergebnis, dass K für leidensadaptierte Tätigkeiten zu 80% arbeitsfähig sei. Mit Verfügungen vom 17. Dezember 2013 wies die IV-Stelle in der Folge sowohl das Leistungsbegehren betreffend berufliche Massnahmen als auch jenes betreffend Rente ab. Die dagegen von K erhobene Beschwerde weist das Versicherungsgericht ebenfalls ab.

Aus den Erwägungen:

4. In formeller Hinsicht rügt die Beschwerdeführerin, dass mit der Verlaufsbegutachtung nicht das ABI hätte beauftragt werden dürfen. Vielmehr hätte über die Plattform SuisseMED@P eine Gutachterstelle nach dem Zufallsprinzip bestimmt werden müssen.

4.1 Art. 72bis IVV bestimmt in Absatz 1, dass medizinische Gutachten, an denen drei und mehr Fachdisziplinen beteiligt sind, bei einer Gutachterstelle zu erfolgen haben, mit welcher das BSV eine Vereinbarung getroffen hat. Die Vergabe der Aufträge erfolgt gemäss Art. 72bis Abs. 2 IVV nach dem Zufallsprinzip. In Rz. 2078 1/14 des KSVI, gültig ab 1. Januar 2010, Stand 1. Ja­nuar 2014, wird festgehalten, Verlaufsgutachten könnten derselben Gutachterstelle in Auftrag gegeben werden, die bereits das erste polydisziplinäre Gutachten erstellt habe. Vorausgesetzt sei, dass der erste Auftrag über die Plattform SuisseMED@P vergeben worden sei. In dieser für das Versicherungsgericht nicht bindenden Verwaltungsweisung wird auf das Urteil des Bundesgerichts 8C_791/2012 vom 6. März 2013 verwiesen, mit welchem ein Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau bestätigt wurde. Dem Urteil kann aber gar nicht entnommen werden, dass Verlaufsgutachten nur dann bei derselben Gutachterstelle in Auftrag gegeben werden dürften, wenn das ursprüngliche polydisziplinäre Gutachten über die Plattform SuisseMED@P vergeben wurde. Effektiv wurde dort - genau wie im vorliegenden Verfahren - die frühere Begutachtungsstelle zur Erstellung eines Verlaufsgutachtens beigezogen, die schon vom Zeitablauf her ursprünglich gar nicht über die Plattform SuisseMED@P beauftragt worden war. Die Zulässigkeit der Vergabe von Verlaufsgutachtensaufträgen an die Gutachterstelle, welche bereits die primäre Begutachtung vorgenommen hat, ergibt sich aber durch Auslegung der einschlägigen Gesetzes- bzw. Verordnungsbestimmungen. Ausgangspunkt jeder Auslegung einer Norm bildet ihr Wortlaut. Vom daraus abgeleiteten Sinn ist abzuweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass der Gesetzgeber diesen nicht gewollt haben kann. Solche Gründe können sich insbesondere aus der Entstehungsgeschichte der Norm, aus ihrem Zweck oder aus dem Zusammenhang mit anderen Vorschriften ergeben. Insoweit wird vom historischen, teleologischen und systematischen Auslegungselement gesprochen. Bei der Auslegung einer Norm sind daher neben dem Wortlaut diese herkömmlichen Auslegungselemente zu berücksichtigen (BGE 134 III 277 E. 4; 133 III 265 E. 2.4 mit Hinweisen). Auszurichten ist die Auslegung auf die ratio legis. Der deutsche Wortlaut des Art. 72bis IVV stimmt mit demjenigen der französischen und italienischen Fassung überein. Aus Abs. 1 der Bestimmung geht hervor, dass unter „Aufträgen“ im Sinne von Abs. 2 der Bestimmung medizinische Gutachten zu verstehen sind, an denen drei oder mehr Fachdisziplinen beteiligt sind. Weder die grammatikalische noch die gesetzessystematische Auslegung differenzieren zwischen einer erstmaligen polydisziplinären Begutachtung und einem polydisziplinären Verlaufsgutachten. Sinn und Zweck von Art. 72bis IVV ergibt sich aus BGE 137 V 210. Das statuierte Zufallsprinzip soll die Unabhängigkeit der Gutachterstellen und deren Neutralität gewährleisten. Dieser Zweck verlangt nicht, dass polydisziplinäre Verlaufsgutachten zur Frage der Veränderung des Gesundheitszustandes ausnahmslos nach dem Zufallsprinzip zu vergeben wären. Mit Blick darauf, dass es sachgerecht erscheint und den Aufschlusswert einer Verlaufsbegutachtung erhöhen kann, wenn die seitherige gesundheitliche Entwicklung von den mit dem Fall schon vertrauten medizinischen Vorgutachtern abgeklärt und beurteilt wird (Urteil des Bundesgericht 9C_1032/2010 vom 1. September 2011 E. 4.1), erscheint Art. 72bis IVV lückenhaft. Das Interesse an der Bestimmung einer Gutachterstelle nach dem Zufallsprinzip muss bei Verlaufsgutachten hinter dem Interesse an einem möglichst aussagekräftigen Gutachten zurücktreten. Art. 72bis IVV muss daher so ausgelegt werden, dass selbst dann, wenn, wie hier der Fall, die Gutachterstelle, welche das erste polydisziplinäre Gutachten erstellt hat, noch nicht anhand der Plattform SuisseMED@P ausgewählt wurde (da diese im damaligen Zeitpunkt noch gar nicht existierte), auch unter Geltung von Art. 72bis IVV dieselbe Gutachterstelle für ein Verlaufsgutachten beigezogen werden kann.

4.2 Im Übrigen wurde der Beschwerdeführerin bereits am 22. August 2012 mitgeteilt, dass das ABI mit der Verlaufsbegutachtung beauftragt werde. Sie wurde darauf hingewiesen, dass sie triftige Einwendungen gegen die Art der Begutachtung, die vorgesehenen Fachdisziplinen sowie gegen die begutachtenden Personen bis 4. September 2012 bei der Beschwerdegegnerin schriftlich einreichen könne. Auf dieses Schreiben hat sie nicht reagiert. Auch noch im Einwandverfahren wurde die Auftragsvergabe an die primäre Gutachterstelle als Verlaufsgutachterstelle nicht beanstandet. Nach Treu und Glauben wäre die Beschwerdeführerin aber gehalten gewesen, die von ihr geltend gemachte Unzulässigkeit einer Begutachtung durch das ABI so früh als möglich vorzubringen.

4.3 Aus formellen Gründen ist dem ABI-Gutachten die Beweiskraft daher nicht abzusprechen.

Entscheid des Versicherungsgerichts VV.2014.21/E vom 23. April 2014

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