TVR 2014 Nr. 42
Beweislast für den Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung bei vorsorglichem Sicherungsentzug
Art. 16 d SVG, Art. 17 Abs. 3 SVG
Liegt ein Gutachten im Recht, das die Fahreignung eines Lenkers verneint, so liegt es an ihm, den Nachweis für die Behebung des Fahreignungsmangels, der zum Entzug geführt hat, zu erbringen. Ein solcher Nachweis kann regelmässig nur durch ein positiv lautendes Gutachten erbracht werden.
Mit Verfügung vom 19. September 2013 wurde B der Führerausweis vorsorglich entzogen, weil er am 24. August 2013 und 6. September 2013 zwei massive Geschwindigkeitsüberschreitungen begangen hatte. Eine allfällige Wiedererteilung wurde von der Vorlage eines positiven verkehrspsychologischen Gutachtens abhängig gemacht. Dieser Entscheid ist in Rechtskraft erwachsen. Am 19. Februar 2014 stellte sich B der verlangten Untersuchung am IRM Zürich. Mit Gutachten vom 6. März 2014 verneinte die Expertin Bs Fahreignung. Die Expertin riet dazu, vor einem allfälligen Wiedererteilungsgesuch eine Psychotherapie von mindestens 10 Stunden, verteilt über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten, zu absolvieren. Mit Verfügung vom 11. Juni 2014 entzog das Strassenverkehrsamt des Kantons Thurgau B den Führerausweis aller Kategorien, Unterkategorien und Spezialkategorien mit Wirkung ab 20. September 2013 auf unbestimmte Zeit. Den hiergegen erhobenen Rekurs weist die Rekurskommission für Strassenverkehrssachen ab.
Aus den Erwägungen:
2. Die Vorinstanz hat gegenüber dem Rekurrenten mit der angefochtenen Verfügung vom 11. Juni 2014 einen definitiven Entzug des Führerausweises auf unbestimmte Zeit angeordnet. Die Wiedererteilung des Führerausweises wurde von der Vorlage eines positiven verkehrspsychologischen Gutachtens abhängig gemacht. Gestützt auf eine verkehrspsychologische Begutachtung der Intersection Forschung und Diagnostik Zürich empfahl die Vorinstanz dem Rekurrenten zudem eine Psychotherapie von mindestens 10 Stunden, verteilt über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten. Zuvor war dem Rekurrenten der Führerausweis am 19. September 2013 vorsorglich entzogen worden, nachdem er innert weniger Tage zwei Mal je eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung (39 über 80 km/h bzw. 30 über 50 km/h) begangen hatte. Der vorsorgliche Entzug ist vom Rekurrenten nicht angefochten worden.
Der Rekurrent bestreitet die Rechtmässigkeit der Verfügung vom 11. Juni 2014 und zieht insbesondere die Schlussfolgerungen des verkehrspsychologischen Gutachtens vom 6. März 2014 in Zweifel.
3.1 Nach Art. 16 Abs. 1 SVG sind Führerausweise zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen. Motorfahrzeugführer müssen über Fahreignung und Fahrkompetenz verfügen (Art. 14 Abs. 1 SVG). Wegen fehlender Fahreignung wird einer Person der Führerausweis auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nicht oder nicht mehr ausreicht, ein Fahrzeug sicher zu führen oder sie an einer Sucht leidet oder sie aufgrund ihres bisherigen Verhaltens nicht Gewähr bietet, dass sie künftig die Vorschriften beachten und auf die Mitmenschen Rücksicht nehmen wird (Art. 16d Abs. 1 lit. a, b und c SVG). Als Fahreignung im Sinne dieser Bestimmungen gilt dabei die allgemeine, zeitlich nicht umschriebene und nicht ereignisbezogene, physische und psychische Eignung zum sicheren Lenken eines Fahrzeuges im Strassenverkehr (vgl. Liniger, Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2003, S. 90, und Art. 14 Abs. 2 SVG). Mit dem Begriff der Fahreignung umschreiben alle betroffenen wissenschaftlichen Disziplinen (insbesondere Medizin, Psychologie und Jurisprudenz) die körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Individuums, ein Fahrzeug im Strassenverkehr sicher lenken zu können. Die Fahreignung muss grundsätzlich dauernd vorliegen (vgl. BGE 133 II 384 E. 3.1). Unter Art. 16d Abs. 1 SVG fallen alle medizinischen und psychischen Gründe, welche die Fahreignung ausschliessen. Die einzelnen Tatbestände des Katalogs von Art. 16d Abs. 1 SVG dürfen weder eng noch streng ausgelegt werden; geboten ist eine Gesamtbetrachtung des Einzelfalles im Hinblick auf die Fahreignung (vgl. BGE 133 II 384 E. 3.1, mit Verweisen). Nach dieser gesetzlichen Ordnung muss deshalb ein Sicherungsentzug zwingend in jedem Fall angeordnet werden, wenn die Fahreignung nicht mehr gegeben ist.
3.2 Der auf unbestimmte Zeit entzogene Ausweis kann bedingt und unter Auflagen wieder erteilt werden, wenn eine allfällige gesetzliche oder verfügte Sperrfrist abgelaufen ist und die betroffene Person die Behebung des Mangels nachweist, der die Fahreignung ausgeschlossen hat (Art. 17 Abs. 3 SVG). Der Sicherungsentzug greift damit tief in den Persönlichkeitsbereich des Betroffenen ein. Nach der Rechtsprechung ist daher in jedem Fall und von Amtes wegen eine genaue Abklärung der persönlichen Verhältnisse vorzunehmen. Das Ausmass der notwendigen behördlichen Nachforschungen, namentlich die Frage, ob ein medizinisches Gutachten eingeholt werden soll, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles und liegt im pflichtgemässen Ermessen der Entzugsbehörde (vgl. BGE 129 II 82 E. 2.2).
3.3 Wird eine verkehrsmedizinische Abklärung angeordnet, so ist der Führerausweis nach Art. 30 VZV im Prinzip vorsorglich zu entziehen (vgl. BGE 125 II 396). Vorliegend hat die Vorinstanz am 19. September 2013 einen solchen vorsorglichen Entzug verfügt. Diese Verfügung wurde vom Rekurrenten nicht angefochten und ist deshalb in Rechtskraft erwachsen. Darauf kann nicht zurückgekommen werden, auch wenn es durchaus als diskutabel erscheint, ob die zwei vom Rekurrenten innert kurzer Zeit begangenen Geschwindigkeitsüberschreitungen ausreichend ernsthafte Zweifel an der Fahreignung begründet haben. Der Rekurrent hat die Verfügung akzeptiert und sich nach rund 5 Monaten der verkehrspsychologischen Begutachtung gestellt. Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieses Gutachtens können deshalb auch im jetzigen Rekursverfahren verwertet werden.
4.1 Auszugehen ist vorliegend vom vorsorglichen Entzug des Führerausweises gemäss Verfügung vom 19. September 2013. Aufgrund der beiden erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen wurde dem Rekurrenten mit der Verfügung der Führerausweis im Sinne von Art. 30 VZV vorsorglich entzogen und die Wiedererteilung von der Vorlage eines positiven verkehrspsychologischen Gutachtens abhängig gemacht. Dieser Entscheid erwuchs in Rechtskraft. Demgemäss obliegt es gemäss Art. 17 Abs. 3 SVG dem Rekurrenten, den Nachweis für die Behebung des Fahreignungsmangels, der zum Entzug geführt hat, zu erbringen. Ein solcher Nachweis kann regelmässig nur durch ein positiv lautendes Gutachten erbracht werden. Die verkehrspsychologische Begutachtung vom 6. März 2014 des IRM Zürich kann diesen Nachweis nicht erbringen. Vielmehr verneinte das Gutachten zum aktuellen Zeitpunkt die charakterliche Fahreignung des Rekurrenten aus verkehrspsychologischer Sicht aufgrund des fehlenden echten Reflektionsprozesses.
Der Rekurrent wendet sich gegen die Schlussfolgerungen dieses Gutachtens.
4.2 Die Rekurskommission ermittelt den Sachverhalt und erhebt die Beweise von Amtes wegen durch Befragung von Beteiligten und Auskunftspersonen, durch Beizug von Urkunden, Amtsberichten oder Gutachten von Sachverständigen, durch Augenschein oder auf andere geeignete Weise (vgl. § 12 Abs. 1 VRG). Das Ergebnis der Untersuchung ist frei zu würdigen und das Recht ist von Amtes wegen anzuwenden, ohne an die Anträge der Beteiligten gebunden zu sein (vgl. § 16 und § 51 Abs. 1 VRG). Die freie Würdigung des Untersuchungsergebnisses erfährt insoweit eine Einschränkung, als Gutachten nur darauf hin geprüft werden, ob sie vollständig, klar sowie gehörig begründet, schlüssig und widerspruchsfrei sind. Zudem muss die das Gutachten abfassende Person über hinreichende Fachkenntnisse und die nötige Unbefangenheit verfügen. In einem Rechtsmittelverfahren ist von den Erkenntnissen und Bewertungen eines amtsärztlichen Gutachtens nur dann abzuweichen, wenn dieses offensichtliche Mängel wie Irrtümer, Lücken oder Widersprüche aufweist. Die zuständigen Behörden bleiben jedoch in der rechtlichen Würdigung frei (vgl. Kölz/Bosshart/Röhl, Kommentar zum VRG des Kantons Zürich, 2. Aufl., Zürich 1999, N. 7 zu § 78).
4.3 Der Rekurrent kritisiert das Gutachten der Intersection Forschung und Diagnostik, Zürich, in mehrfacher Hinsicht. Dabei fällt zunächst auf, dass der Rekurrent in der Rekurseingabe vom 1. Juli 2014 seine Rügen im Vergleich zu seiner Stellungnahme zu Handen der Vorinstanz vom 27. März 2014 nur noch verkürzt ausgeführt hat; insbesondere hat er auch nicht mehr direkt auf die Stellungnahme der Gutachter vom 12. Mai 2014 reagiert. Von Vorneherein keine Rolle spielen vorliegend die Rügen, soweit diese sich auf die langjährige Fahrpraxis oder die finanziellen Folgen inklusive derjenigen aus dem Strafverfahren beziehen. Bei einem Sicherungsentzugsverfahren geht es um die im Interesse der Verkehrssicherheit notwendige Fernhaltung von allenfalls ungeeigneten Motorfahrzeugführern vom Strassenverkehr. Bezugspunkt der Beurteilung ist damit einzig die Verkehrssicherheit. Zum Strassenverkehr sollen jene Personen nicht zugelassen werden, von denen anzunehmen ist, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur eine besondere Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer darstellen. Im konkreten Fall scheint der Rekurrent sodann zu verkennen, dass es gemäss Art. 17 Abs. 3 SVG ihm obliegt, den Nachweis des Wegfalls des Fahreignungsmangels zu erbringen, weil ein rechtskräftiger vorsorglicher Entzug des Führerausweises besteht. Selbst wenn vorliegend nicht oder nicht vollständig auf das Gutachten vom 6. März 2014 abgestellt werden könnte, würde dies demzufolge nicht automatisch zu einer Bejahung der Fahreignung des Rekurrenten führen.
4.4 Das Gutachten vom 6. März 2014 verneint zusammenfassend die Fahreignung des Rekurrenten insbesondere mit der Begründung, dass der Rekurrent aktuell noch zu wenig Risikobewusstsein und Fehlereinsicht habe. Er anerkenne zwar, dass er Fehler und Gesetzesübertretungen gemacht habe, bagatellisiere jedoch die Bedeutsamkeit der Delikte. Er habe sich noch zu wenig differenziert mit den Delikten auseinandergesetzt und die Deliktschwere nicht richtig einordnen können. Deshalb könne er auch keine adäquaten Kompensationsstrategien ableiten. Zu diesem Schluss gelangten die Gutachter u. a. auch nach der Durchführung mehrerer Leistungs- und Persönlichkeitstests. (…) Bereits diese Hinweise stehen nach Ansicht der Rekurskommission einer uneingeschränkten Bejahung der Fahreignung des Rekurrenten entgegen; sie wären sogar als Indiz für vertieftere verkehrsmedizinische und/oder verkehrspsychologische Untersuchungen zu werten. Es erstaunt denn die Rekurskommission auch, dass im Gutachten keine weiteren diesbezüglichen Erörterungen zu finden sind.
Bei den weiteren Tests (VIP, VPT2, FRF) erreichte der Rekurrent zahlreiche Prozentränge innerhalb der Norm und damit unkritische Ergebnisse; es fallen aber auch Prozentränge oberhalb oder unterhalb der Norm auf, also ein Prozentrang ≥ 75 oder ≤ 25 (Orientierung an sozialer Erwünschtheit: PR 94, emotionales Autofahren PR 80, soziale Anpassung PR 86, Selbstkontrolle PR 25, Selbstreflektion PR 22). Bei diesen Testreihen handelt es sich um standardisierte Persönlichkeitstests (vgl. dazu Bächli-Biétry, Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2003, S. 55 ff., zu den Methoden insbesondere S. 74 ff.), die speziell auf das Fahrverhalten ausgerichtet sind.
Die vom Rekurrenten vorgetragenen Rügen zu den Schlussfolgerungen sind letztlich nicht dazu geeignet, die Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit des Gutachtens zu widerlegen. Seine Ausführungen dazu sind entweder sehr allgemein gehalten oder auf formale Aspekte beschränkt (beispielsweise zu den Zeitangaben) oder gar aktenwidrig oder unverständlich. Aus den Angaben des Rekurrenten anlässlich der Untersuchung ergibt sich aus Sicht der Rekurskommission doch deutlich die Haltung, dass dem Rekurrenten das Einhalten von Verkehrsregeln nicht so bedeutsam erscheint, sofern dies mit den eigenen Interessen, wie beispielsweise dem Einhalten eines Termins, kollidiert. Die massive Geschwindigkeitsüberschreitung von immerhin 39 km/h netto hat er sich offenbar erlaubt, weil er es „als mit den Verhältnissen“ für vereinbar hielt. Der Rekurrent scheint allgemein die Haltung einzunehmen, dass er die Verkehrsregeln nach seinen persönlichen Anschauungen als richtig interpretieren darf; insbesondere behält er sich die Entscheidung darüber vor, ob er diese aufgrund der konkreten Situation zu beachten gedenkt oder nicht. Diese Haltung überrascht auch vor dem Hintergrund, als der Rekurrent nach eigenen Angaben im Aussendienst tätig ist und den Führerausweis zu beruflichen Zwecken benötigt. Spätestens nach der im Jahre 2012 erfolgten Verwarnung, ebenfalls wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung, musste ihm klar sein, dass weitere Unachtsamkeiten zum Verlust des Führerausweises führen könnten. Insgesamt vermögen die vorgebrachten Rügen die Ergebnisse des Gutachtens nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Abgesehen davon liegt es am Rekurrenten, den Nachweis seiner Fahreignung zu belegen (vgl. oben Erwägung 4.1). Die eigenen Interpretationen des Rekurrenten zum Gutachten, der die kritischen Punkte weitestgehend ausblendet oder mit der langjährigen Fahrpraxis zu widerlegen versucht, vermögen diesen Nachweis nicht zu erbringen. Damit ist immer noch auf die Situation gemäss Verfügung vom 19. September 2013 abzustellen, wonach es Zweifel an der Fahreignung des Rekurrenten gibt, die nicht widerlegt sind. Der Rekurs ist demzufolge unbegründet und abzuweisen.
Entscheid der Rekurskommission für Strassenverkehrssachen Nr. 72/14 vom 22. August / 18. September 2014