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TVR 2018 Nr. 27

Beurteilung von Immissionen durch Kuhglocken; DBU als zuständige Rekursinstanz


Art. 1 Abs. 2 lit. e LSV, § 25 USGV, § 43 Ziff. 3 VRG, Art. 684 ZGB


1. Der öffentlich-rechtliche Immissionsschutz gegen Kuhglockenlärm kann unabhängig vom privatrechtlichen nach Art. 684 ZGB selbständig geltend gemacht werden (E. 2).

2. Zuständig für die immissionsrechtliche Beurteilung von durch Kühe auf der Weide verursachtem Kuhglockenlärm ist die Politische Gemeinde. Den Rekurs gegen den Entscheid der Gemeinde beurteilt das DBU (E. 3).


G ist Eigentümer der Liegenschaft Nr. XX, Grundbuch W. Diese Liegenschaft befindet sich gemäss gültigem Zonenplan der Politischen Gemeinde W in der Wohnzone W2. Südlich der Liegenschaft Nr. XX befindet sich die Liegenschaft Nr. YY und westlich davon, getrennt durch die L-Strasse, die Liegenschaft Nr. ZZ. Beide Liegenschaften befinden sich in der Landwirtschaftszone und im Eigentum von J. G beschwerte sich ab Juli 2017 mehrfach telefonisch und via elektronischer Nachricht über Lärmimmissionen verursacht durch Kuhglocken an den auf den Liegenschaften Nrn. YY und ZZ weidenden Kühen von J. In einem ersten Entscheid der Politischen Gemeinde W wurde festgehalten, gemäss den Abklärungen mit dem AWA sei die Angelegenheit Sache der Gemeinde, da Glocken betriebsunabhängig seien. Es liege bereits ein vergleichbarer Entscheid des Gemeinderates aus dem Jahr 2003 vor, welcher nach wie vor rechtskräftig sei (dieser sieht ein temporäres Weideverbot über die Nacht und an Sonn- und Feiertagen vor). Es werde daher entschieden, dass der rechtskräftige Entscheid „Teilverbot Weiden mit Geläut“ von 2003 bestehen bleibe und nicht erweitert werde. Gegen diesen Entscheid erhob G gemäss der Rechtsmittelbelehrung auf dem Entscheid beim DIV Rekurs. Dieses entschied am 3. Oktober 2017, dass der angefochtene Entscheid der Politischen Gemeinde W vom 21. August 2017 wegen sachlicher Unzuständigkeit der Vorinstanz aufgehoben und der Rekurs als gegenstandslos geworden abgeschrieben werde. Gegen diesen Entscheid erhob G beim Verwaltungsgericht Beschwerde. Dieses hebt den angefochtenen Entscheid auf und überweist die Angelegenheit an das DBU zur Durchführung eines Rekursverfahrens.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Die Vorinstanz hob den Entscheid der verfahrensbeteiligten Gemeinde auf mit der Begründung, bereits eine grammatikalische Auslegung der Lärmschutzvorschriften der Umweltschutzgesetzgebung ergebe, dass diese nicht auf Geräusche zugeschnitten sei, die von Tieren ausgingen. Lärm, der durch Kuhglocken verursacht werde, sei dem Tierlärm zuzurechnen. Die LSV sei auf Tierlärm jedoch nicht anwendbar. Für die Lärmbelastung durch Kuhglocken würden denn in der LSV auch keine Grenzwerte festgelegt werden. Eine Weide mit Kühen mit Kuhglocken stelle auch keine Anlage, Baute oder Maschine dar, die beim Betrieb Lärmimmissionen erzeuge. Das Bundesgericht habe sich bis heute erst ein einziges Mal mit einem Fall zu befassen gehabt, in welchem von Kuhglocken ausgehender Lärm zu beurteilen gewesen sei. Der Fall sei im Lichte von Art. 684 ZGB beurteilt worden. Daraus ergebe sich, dass gegen Kuhglockengeläut ausgehend von einer Wiese der zivilrechtliche und nicht der verwaltungsrechtliche Weg zu beschreiten sei.

2.2 Soweit die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid unter Verweis auf BGE 101 II 248 ausführte, dass gegen Kuhglockengeläut nur der zivilrechtliche und nicht der verwaltungsrechtliche Weg zu beschreiten sei, ist diese Auffassung offensichtlich unrichtig. Wie das Verwaltungsgericht bereits in TVR 1986 Nr. 27 festgestellt hatte, bilden privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Immissionsschutz zwei selbständige voneinander unabhängige Rechtsgebiete. Der Inhalt des privatrechtlichen Einwirkungsschutzes wird durch Art. 684 ZGB bestimmt. Demgegenüber beruht der öffentlich-rechtliche Immissionsschutz auf öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Bundes, der Kantone und der Gemeinden. Im Gegensatz zum nach einheitlichen Kriterien geregelten privatrechtlichen Immissionsschutz ist der öffentlich-rechtliche auf mehrere Rechtsgebiete aufgeteilt, die sich gegenseitig ergänzen, aber nicht immer von gleichen Prinzipien und Zielsetzungen geleitet sind (TVR 1986 Nr. 27, E. 2a). Diese Auffassung bestätigte das Bundesgericht auf Beschwerde hin und verwies auf die Richtigkeit der Ausführungen des Verwaltungsgerichts, der planungsrechtliche Immissionsschutz des öffentlichen Rechts könne neben dem privatrechtlichen Immissionsschutz auch bei bestehenden Anlagen und Betrieben und nicht nur im Zusammenhang mit einem Baubewilligungsverfahren unabhängig durchgesetzt werden (vgl. hierzu E. 3a des Urteils des Bundesgerichts vom 2. Juli 1986, abgedruckt am Ende von TVR 1986 Nr. 27). Der öffentlich-rechtliche Immissionsschutz kann somit unabhängig vom privatrechtlichen nach Art. 684 ZGB selbständig geltend gemacht werden.

2.3 Zwar ist die Auffassung der Vorinstanz richtig, dass die LSV keine expliziten Regelungen gegen Kuhglockenlärm enthält. Hingegen ist ihre Auffassung, dass diese Verordnung auf Kuhglockenlärm nicht anwendbar sein soll, unzutreffend. Art. 1 Abs. 1 LSV hält fest, dass diese Verordnung vor schädlichem und lästigem Lärm schützen soll. Die LSV regelt unter anderem auch den Schallschutz gegen Aussenlärm - und zwar jegliche Art von Lärm - an bestehenden Gebäuden mit lärmempfindlichen Räumen (Art. 1 Abs. 2 lit. e LSV). Lärmempfindliche Räume sind Räume in Wohnungen, ausgenommen Küchen ohne Wohnanteil, Sanitärräume und Abstellräume (Art. 2 Abs. 6 lit. a LSV). Die Vorinstanz behauptet nicht, dass das Gebäude des Beschwerdeführers keine lärmempfindlichen Räume enthält. Somit ist die Anwendbarkeit der LSV auf den vorliegenden Fall zweifelsfrei gegeben. Dies ergibt sich etwa auch aus einem Entscheid des Zürcher Verwaltungsgerichts VB.2015.00509 oder einem Entscheid des Zürcher Baurekursgerichts BEZ 2016 Nr. 21 und ebenso aus einem Entscheid der Gerichts- und Verwaltungsbehörden des Kantons Schwyz VGE III 2008 13 vom 2. April 2008, welche auf Kuhglockengeläut ohne weiteres die Vorschriften des USG und der LSV zur Anwendung bringen. Im Hinblick auf die Lärmimmissionen stellen Kuhglocken Geräte im Sinne des USG dar (vgl. BAFU, Beurteilung von Alltagslärm, Bern 2014, N. 3.6). Der angefochtene Entscheid der Vor­instanz, welcher den Entscheid der verfahrensbeteiligten Gemeinde aufhob mit der Begründung, auf Kuhglockenlärm seien das USG und die LSV nicht anwendbar und es könne einzig der zivilrechtliche Weg beschritten werden, ist daher aufzuheben. Zu prüfen ist allerdings, ob - wie der Beschwerdeführer beantragt - die Sache an das AWA zu einem erstinstanzlichen Entscheid zu überweisen ist, oder ob, wie die Vor­instanz und der Beschwerdeführer eventualiter ausführen, die Sache zuständigkeitshalber dem DBU zur Behandlung des Rekurses zuzuweisen ist.

3.
3.1 (…)

3.2 Die massgebenden Bestimmungen, wer im Kanton Thurgau für den Vollzug des Lärmschutzes verantwortlich ist, finden sich in den §§ 22 ff. USGV. § 22 USGV bestimmt in allgemeiner Art, dass sich die Zuständigkeit für den Vollzug der LSV nach der Art der Anlage richtet. § 24 USGV präzisiert, dass Vollzugsbehörden für alle ortsfesten Anlagen der Industrie, des Gewerbes und der Landwirtschaft sowie für Schiessanlagen das AWA sei. Vollzugsbehörde für die übrigen Anlagen ist laut § 25 USGV die Politische Gemeinde.

3.3 Was die USGV unter einer ortsfesten Anlage versteht, wird darin nicht definiert. Offensichtlich lehnt sich aber die USGV in § 22 ff. an die Begriffe des USG und der LSV an. Laut Art. 2 Abs. 1 LSV sind ortsfeste Anlagen im Sinne von Art. 25 USG Bauten, Verkehrsanlagen, haustechnische Anlagen und andere nicht bewegliche Einrichtungen, die beim Betrieb Aussenlärm erzeugen. Dazu gehören insbesondere Strassen, Eisenbahnanlagen, Flugplätze, andere Anlagen der Industrie, des Gewerbes und der Landwirtschaft, Schiessanlagen sowie fest eingerichtete Militärschiess- und Übungsplätze. Demgegenüber fallen bewegliche Anlagen wie Geräte, Maschinen, Fahrzeuge, Schiffe und Luftfahrzeuge grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich von Art. 25 USG (Wolf, Kommentar zum Umweltschutzgesetz [Mai 2000], 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2003, Art. 25 N. 28). Kuhglocken sind zweifelsfrei keine ortsfesten Anlagen, weshalb der dadurch verursachte Lärm nicht unter § 24 USGV fällt. Vielmehr ist auf sie § 25 USGV anwendbar, wonach die Politische Gemeinde Vollzugsbehörde für die übrigen Anlagen ist. Die Vorinstanz weist in ihrer Vernehmlassung zu Recht darauf hin, dass das AWA im Bereich der Lärmbekämpfung bei ortsfesten Anlagen mit Belastungsgrenzwerten zuständig sei. In diesen Fällen verfüge diese Behörde mit ihrem technischen Know-how über das erforderliche Wissen und die nötigen Hilfsmittel für den Vollzug der Lärmschutzvorschriften der Umweltschutzgesetzgebung. Als kantonale Behörde habe das AWA darauf zu achten, dass bei solchem Gewerbelärm die Lärmschutzvorschriften mit Belastungsgrenzwerten im ganzen Kanton einheitlich und rechtsgleich angewendet würden. Für Kuhglocken fehlen Belastungswerte. Wo Belastungsgrenzwerte fehlen, beurteilt die Vollzugsbehörde die Lärmimmissionen nach Art. 15 USG, wonach die Immissionsgrenzwerte für Lärm und Erschütterung so festzulegen sind, dass sie nach dem Stand der Wissenschaft oder der Erfahrung Immissionen unterhalb dieser Werte die Bevölkerung in ihrem Wohlbefinden nicht erheblich stören. Deshalb bedarf es - wie die Vorinstanz ebenfalls zu Recht ausführte - für die Beurteilung von Kuhglockengeläut Kenntnisse der exakten Beschaffenheit der Grundstücke sowie des Ortsgebrauchs. Im Urteil 1C_83/2016, 1C_409/2016 vom 13. Dezember 2017 hat das Bundesgericht mit Bezug auf Glockengeläut einerseits auf Studien bezüglich des Ruhebedürfnisses der Bevölkerung, andererseits aber auch auf die konkreten Verhältnisse und insbesondere die Traditionen in der betroffenen Gemeinde abgestellt. Diesbezüglich sind die kommunalen Behörden vor Ort zweifelsfrei besser geeignet, die konkreten Umstände abzuklären und eine Interessenabwägung vorzunehmen. Daran ändert auch das vom DBU herausgegebene Merkblatt nichts, gemäss welchem Kuhglockengeläut laut § 24 USGV durch das AWA zu beurteilen sei. Die Vorinstanz bestreitet ohnehin, dass dieses Merkblatt in Absprache mit ihr zustande gekommen sei. Gemäss den unwidersprochen gebliebenen Ausführungen im Entscheid der verfahrensbeteiligten Gemeinde vom 21. August 2017 hält sich auch das AWA selbst nicht für zuständig. Tatsächlich ist hier § 25 USGV massgebend, wonach die Politische Gemeinde für solche Fälle Vollzugsbehörde ist. Eine Rückweisung der Angelegenheit an das AWA ist daher ausgeschlossen.

3.4
3.4.1 Damit stellt sich noch die Frage, wer den Rekurs des Beschwerdeführers zu beurteilen hat. Auf dem Entscheid der verfahrensbeteiligten Gemeinde wird als Rechtsmittelbehörde die Vorinstanz angegeben. Näher begründet wird dies allerdings nicht. Die Vorinstanz hielt hierzu in ihrem Entscheid in E. 2 fest, da der Bereich des Umweltschutzes zum Aufgabengebiet des DBU gehöre, seien Entscheide der dem DBU angegliederten Ämter und der Politischen Gemeinde, die in Anwendung der Umweltschutzgesetzgebung ergingen, mit Rekurs beim DBU anfechtbar. Dem stimmt auch der Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift in der Begründung seiner Eventualanträge zu. Wenn Glockenlärm als durch eine „übrige Anlage“ im Sinne des Umweltschutzgesetzes verursacht betrachtet werde, hätte das DBU über den Rekurs entscheiden müssen. Weiter verweist der Beschwerdeführer darauf, dass die Vorinstanz unter diesen Umständen gestützt auf § 5 Abs. 3 VRG verpflichtet gewesen wäre, den Rekurs an das DBU weiterzuleiten.

3.4.2 Laut § 43 Abs. 1 VRG werden Rekurse durch das zuständige Departement beurteilt. Die Zuständigkeit des jeweiligen Departements ergibt sich aus der Spezialgesetzgebung und den dazugehörigen Ausführungsbestimmungen des Regierungsrates. Lässt sich diesen nichts entnehmen, ist dasjenige Departement zuständig, in dessen generellen Amtsbereich die Sache fällt (Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Basel 2014, § 43 N. 2). Laut § 1 Abs. 1 USGV vollzieht das AfU das USG sowie die darauf basierenden Verordnungen des Bundes und des Kantons, soweit keine abweichenden Vorschriften bestehen. Das AfU untersteht gemäss Anhang 2 des Reglements des Regierungsrates (RB 172.1) dem DBU. Der Umweltbereich fällt somit in den Zuständigkeitsbereich des DBU. Dieses hätte somit den Rekurs beurteilen müssen. In Anwendung von § 5 Abs. 2 i. V. mit § 53 und § 62 VRG ist daher die vorliegende Streitsache dem DBU zur Beurteilung des Rekurses zuzuweisen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts VG.2017.165/E vom 11. April 2018

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