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TVR 2018 Nr. 31

Kostentragung trotz Obsiegens, Verursacherprinzip; Kürzung der Parteientschädigung


Art. 61 lit. g ATSG, Art. 69 Abs. 1bis IVG, § 78 Abs. 1 VRG


1. Wenn es der Beschwerdeführerin zumutbar gewesen wäre, die eingetretene Veränderung im Gesundheitszustand im laufenden Verwaltungsverfahren mitzuteilen, und sich damit das Beschwerdeverfahren bei zutreffender Würdigung der Sachlage durch den Versicherungsträger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hätte vermeiden lassen, sind der Beschwerdeführerin die Verfahrenskosten trotz ihres Obsiegens aufzuerlegen (E. 5.1).

2. Der Beschwerdeführerin ist trotz Obsiegens nur eine um die Hälfte gekürzte Parteientschädigung zuzusprechen, nachdem sie massgebende Angaben und Beweismittel erst im Beschwerdeverfahren vorgebracht und damit den prozessualen Aufwand beeinflusst hat (E. 5.2).


A erhielt mit Verfügung vom 22. Mai 2001 der IV-Stelle des Kantons Thurgau eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100% zugesprochen. Im Rahmen einer Revision holte die IV-Stelle die beruflichen und medizinischen Unterlagen, darunter zwei Gutachten der Gutachterstelle B vom 10. Januar 2017 und vom 6. Februar 2018, ein und stellte A mit Vorbescheid vom 7. März 2018 in Aussicht, die Invalidenrente aufzuheben. Dagegen liess A am 23. April 2018 Einwand erheben. Mit Verfügung vom 18. Juni 2018 verneinte die IV-Stelle den weiteren Anspruch von A auf eine Invalidenrente. Dagegen gelangte A am 20. Juli 2018 beschwerdeweise an das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht. Zur Begründung brachte sie insbesondere vor, nach der letzten Begutachtung infolge einer Schwindelattacke am 27. März 2018 gestürzt zu sein. Dabei habe sie sich eine intraartikuläre Radiusfraktur rechts zugezogen und es seien weitere Abklärungen angezeigt. Das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache an die IV-Stelle zur weiteren Abklärung zurück.

Aus den Erwägungen:

4. (Feststellung, dass sich aus ärztlichen Berichten, die von der Beschwerdeführerin erst im Rahmen des Beschwerdeverfahrens eingereicht wurden, Hinweise auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes noch vor dem Verfügungszeitpunkt ergeben und die Sache an die Beschwerdegegnerin zu weiteren Abklärungen zurückzuweisen sei; Hinweise auf Urteile des Bundesgerichts 9C_175/2018 vom 16. April 2018 E. 3.3.2 und 8C_451/2010 vom 11. November 2010)

5.
5.1 Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kommt eine Rückweisung zu weiteren Abklärungen oder Erhebungen einer vollständigen Gutheissung der Beschwerde gleich. Nach § 77 VRG sind die Kosten des Beschwerdeverfahrens in der Regel durch den Unterliegenden zu tragen. Allerdings gehen die Kosten gemäss § 78 Abs. 1 VRG zulasten eines Beteiligten, soweit er sie durch Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften, durch nachträgliche Begehren oder Geltendmachung wichtiger Tatsachen oder Beweismittel, die er schon früher hätte vorbringen können, oder durch ungehöriges Verhalten verursacht hat. Dabei handelt es sich um die gesetzliche Verankerung des Verursacherprinzips (Fedi/Meyer/Müller, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Thurgau, Basel 2014, § 78 N. 1). Vorliegend ist es bereits am 27. März 2018 zum Sturz der Beschwerdeführerin und der dadurch zugezogenen intraartikulären Radiusfraktur rechts gekommen. Der entsprechende ambulante Bericht des Kantonsspitals C datiert denn auch vom 27. März 2018. Nachdem die angefochtene Verfügung am 18. Juni 2018 erging, wäre es der Beschwerdeführerin in zeitlicher Hinsicht somit ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, der Beschwerdegegnerin die eingetretene Veränderung im Gesundheitszustand im laufenden Verwaltungsverfahren mitzuteilen bzw. den entsprechenden Bericht einzureichen, zumal sie erst am 23. April 2018 - und damit knapp einen Monat nach dem ambulanten Spitalaufenthalt - Einwand erheben liess. Weder im Einwand noch im Zeitraum bis zum Verfügungserlass vom 18. Juni 2018 brachte die Beschwerdeführerin jedoch vor, dass es zu einer Veränderung im Gesundheitszustand gekommen sei, obwohl sie unter dem Aspekt der allgemeinen Mitwirkungspflicht sowie des Grundsatzes von Treu und Glauben dazu gehalten gewesen wäre. Des Weiteren war es der Beschwerdeführerin zumutbar, zu erkennen, dass die eingetretenen Umstände betreffend ihre Gesundheit wesentlich für die Beschwerdegegnerin sein könnten, nachdem sie bereits im Zeitpunkt der Erhebung des Einwandes rechtlich vertreten war. Die Beschwerdegegnerin hätte vor Verfügungserlass die neuen Informationen zur Kenntnis nehmen und die Abklärungen von sich aus ergänzen können. Damit hätte sich das vorliegende Beschwerdeverfahren bei zutreffender Würdigung der Sachlage durch die Beschwerdegegnerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vermeiden lassen. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als gerechtfertigt und in Anwendung des massgebenden kantonalen Rechts (vgl. dazu das Urteil des Bundesgerichts 8C_568/2010 vom 3. Dezember 2010 E. 4.2) sachgerecht, die Kosten des vorliegenden Verfahrens, welche auf Fr. 700.-- festgelegt werden, in Anwendung von § 78 Abs. 1 VRG - ungeachtet ihres Obsiegens - der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (vgl. dazu TVR 2008 Nr. 11) und mit dem geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 700.-- zu verrechnen.

5.2 Die Beschwerdeführerin hat Anspruch auf Ersatz ihrer Parteikosten (Art. 61 lit. g ATSG). Die Parteientschädigung wird ohne Rücksicht auf den Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses bemessen. (…) Zu prüfen ist, ob das in E. 5.1 geschilderte Verhalten der Beschwerdeführerin, massgebende Angaben und Beweismittel erst im Beschwerdeverfahren vorzubringen, den prozessualen Aufwand beeinflusst hat (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_568/2010 vom 3. Dezember 2010 E. 4.1). Dies ist zu bejahen; denn wenn die Beschwerdeführerin die von ihr nun aufgrund des Ereignisses vom 27. März 2018 geltend gemachte Verschlechterung des Gesundheitszustandes schon im Rahmen des Vorbescheidverfahrens vorgebracht hätte, hätte die Beschwerdegegnerin diesbezüglich Abklärungen treffen und darauf beruhend ihren Entscheid fällen können, so dass dies nicht erstmalig im Rahmen des Beschwerdeverfahrens hätte stattfinden müssen (vgl. dazu Métral, in: Commentaire romand, Dupont/Moser-Szeless [Hrsg.], Loi sur la partie générale des assurances sociales, Basel 2018, Art. 61 Rz. 24 mit Verweis auf BGE 124 V 285 E. 4b). Vor diesem Hintergrund erscheint eine um die Hälfte reduzierte ausseramtliche Entschädigung (…) als angemessen.

Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht VV.2018.178/E vom 31. Oktober 2018

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