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TVR 2018 Nr. 40

Haftung der Militärversicherung bei Entgleisung eines Diabetes mellitus während des militärischen Wiederholungskurses


Art. 5 MVG


1. Auch wenn ein Diabetes mellitus während des Militärdienstes in Erscheinung getreten bzw. entgleist ist, bedeutet dies noch nicht, dass er auch während des Dienstes verursacht worden ist (E. 3.1).

2. Beim Diabetes mellitus handelt es sich um eine chronische Erkrankung, deren Verlauf durch eine Lebensumstellung modifiziert werden kann. Jede grössere körperliche Anstrengung kann einen Diabetes mellitus zum Entgleisen bringen. Die dem Diabetes zugrunde liegende Autoimmunerkrankung, welche die Insulin produzierenden Zellen definitiv zerstört und einen Diabetes bewirkt, wurde durch den Militärdienst jedoch nicht beeinflusst (E. 3.2).


A leistete im September 2014 seinen militärischen Wiederholungskurs (WK). Sein Hausarzt überwies ihn aufgrund körperlicher Beschwerden an das Kantonsspital in B, wo er vom 16. bis 19. September 2014 hospitalisiert war. Gestützt auf die Abklärungen im Spital C wurden ein Diabetes mellitus Typ I sowie multiple erythematöse Papeln im Stammbereich unklarer Äthiologie seit ca. Anfang September 2014 diagnostiziert. Die Suva, Abteilung Militärversicherung, anerkannte am 18. November 2014 ihre Leistungspflicht, wobei ein Vorbehalt zur Überprüfung der Leistungspflicht je nach Verlauf der Gesundheitsschädigung angebracht wurde. Es wurde insbesondere festgestellt, dass der während des Militärdienstes diagnostizierte Diabetes mellitus praktisch mit Sicherheit schon vorbestanden habe. Vorerst würden aber die Leistungen erbracht. Mit Verfügung vom 15. September 2016 wurde in der Folge die weitere Haftung bzw. Leistungspflicht der Militärversicherung für den Diabetes mellitus Typ I per sofort abgelehnt. Die dagegen erhobene Beschwerde weist das Verwaltungsgericht als Versicherungsgericht ab.

Aus den Erwägungen:

2.
2.1 Bei der Militärversicherung ist unter anderem versichert, wer im obligatorischen oder freiwilligen Militär- oder Zivilschutzdienst steht (Art. 1a Abs. 1 lit. a MVG). Die Militärversicherung haftet nach den Bestimmungen des MVG für alle Schädigungen der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit des Versicherten und für die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen solcher Schädigungen (Art. 4 Abs. 1 MVG). Die Militärversicherung erstreckt sich auf jede Gesundheitsschädigung, die während des Dienstes in Erscheinung tritt und gemeldet oder sonst wie festgestellt wird (Art. 5 Abs. 1 MVG).

2.2 Für die während des Dienstes in Erscheinung getretenen und gemeldeten oder sonst wie festgestellten Gesundheitsschädigungen gilt das Kontemporalprinzip. Die Haftung ergibt sich unmittelbar aufgrund eines zeitlichen Kriteriums, nämlich daraus, dass die Gesundheitsschädigung während des Dienstes in Erscheinung getreten ist. Die Militärversicherung haftet unabhängig davon, ob die Schädigung durch dienstliche Einwirkungen verursacht worden ist oder nicht (Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000, Art. 5 Rz. 13). Diese gesetzliche Vermutung ist aber widerlegbar. Die Haftung entfällt, wenn und soweit die Militärversicherung den in Art. 5 Abs. 2 MVG umschriebenen Sicherheitsbeweis dafür erbringt, dass es an einem Zusammenhang zwischen Einwirkungen während des Dienstes und der Gesundheitsschädigung fehlt. Dabei umfasst der Entlastungsbeweis zwei Ebenen: Vorab kann die Militärversicherung den Beweis dafür erbringen, dass die Gesundheitsschädigung sicher vordienstlich ist oder sicher nicht während des Dienstes verursacht werden konnte (Art. 5 Abs. 2 lit. a MVG). Sodann kann sie den Beweis erbringen, dass die Gesundheitsschädigung sicher während des Dienstes weder verschlimmert noch in ihrem Ablauf beschleunigt worden ist (Art. 5 Abs. 2 lit. b MVG). Erbringt die Militärversicherung beide Beweise, so führt dies zur Haftungsbefreiung. Erbringt sie lediglich den Beweis nach lit. a, so haftet sie für die Verschlimmerung der Gesundheitsschädigung (Art. 5 Abs. 3 MVG; Maeschi, a.a.O., Art. 5 Rz. 17 ff.). Der Begriff der Sicherheit ist nicht absolut, sondern relativ zu verstehen. Er bedeutet mehr als hohe Wahrscheinlichkeit, nicht aber völlige Gewissheit. Der Sicherheitsbeweis kann sich direkt (aufgrund medizinischer Unterlagen aus der vordienstlichen Zeit) oder indirekt aufgrund von Indizien (beispielsweise aufgrund des Krankheitsverlaufes während des Dienstes) ergeben, sofern diese eindeutig sind (Maeschi, a.a.O., Art. 5 Rz. 20 ff.). Vordienstlich ist eine Gesundheitsschädigung, wenn sie bereits vor Beginn des Dienstes bestanden hat. Die Gesundheitsschädigung muss in irgendeiner Form in Erscheinung getreten oder ärztlich festgestellt worden sein (Maeschi, a.a.O., Art. 5 Rz. 25). Ein Diabetes mellitus beginnt mit dem Auftreten eines diabetischen Blutzuckerspiegels, wobei Blutuntersuchungen Rückschlüsse auf den Blutzuckerspiegel bis auf zwei Monate vor der Blutentnahme zulassen. Fehlen Blutzuckerwerte, beginnt die Erkrankung mit dem Auftreten typischer Symptome (abnormer Durst, häufiges Wasserlösen, Gewichtsverlust, starke Müdigkeit). Die Feststellung des Krankheitsbeginns ist insofern erschwert, als es sich dabei nicht um spezifische Symptome handelt (Maeschi, a.a.O., Art. 5 Rz. 28.5). Anstelle des Entlastungsbeweises der konkreten Vordienstlichkeit kann die Militärversicherung den Nachweis dafür erbringen, dass die Gesundheitsschädigung sicher nicht während des Dienstes verursacht werden konnte. Dies fällt vorab bei Erbkrankheiten und angeborenen Gesundheitsschädigungen in Betracht. Praktische Bedeutung kommt dem Entlastungsbeweis nach Art. 5 Abs. 2 lit. a MVG, zweiter Halbsatz, sodann dort zu, wo der konkrete Vordienstlichkeitsbeweis mangels entsprechender ärztlicher Angaben aus der Zeit vor dem Dienst oder aus anderen Gründen nicht erbracht werden kann. In solchen Fällen kann der auf allgemeinen medizinischen Erfahrungen (z.B. aufgrund von Inkubationszeiten) beruhende Beweis erbracht werden, dass die Gesundheitsschädigung sicher nicht während des Dienstes verursacht werden konnte (Maeschi, a.a.O., Art. 5 Rz. 34). Erbringt die Militärversicherung den Entlastungsbeweis nach Art. 5 Abs. 2 lit. a MVG, nicht dagegen denjenigen nach Art. 6 Abs. 2 lit. b MVG, so haftet sie für die Verschlimmerung der Gesundheitsschädigung. Die Verschlimmerung kann auslösender Natur sein, indem sie eine latente Gesundheitsschädigung in eine klinisch manifeste Form überführt, oder sie kann eine klinisch manifeste Gesundheitsschädigung ungünstig beeinflussen. Die Verschlimmerung selbst kann vorübergehend oder dauernd sein. Die Verschlimmerung ist behoben, wenn der Status quo ante (Gesundheitszustand, in welchem sich der Versicherte vor dem Dienst befunden hat) oder der Status quo sine (Gesundheitszustand, in welchem sich der Versicherte befinden würde, wenn er den Einwirkungen während des Dienstes nicht ausgesetzt gewesen wäre) erreicht ist (Maeschi, a.a.O., Art. 5 Rz. 39 ff.).

3.
3.1 Vorliegend ist unbestritten ist, dass die Gesundheitsschädigung während des Militärdienstes in Erscheinung getreten ist (Art. 5 Abs. 1 MVG), bzw. dass der Diabetes zu diesem Zeitpunkt entgleist ist. Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass der Diabetes mellitus an sich auch während des Dienstes verursacht worden ist (Art. 5 Abs. 2 lit. a MVG). So besteht beim Beschwerdeführer eine positive Familienanamnese, nachdem auch seine Schwester unter einem Diabetes mellitus Typ I leidet. Zudem lag der am 16. September 2014 gemessene HbA1c-Wert bei 10,8% und der Beschwerdeführer selber sprach bereits von Wadenkrämpfen am 3. oder 4. Tag des WKs. Zum HbA1c-Wert führte Dr. D aus, dass ein Wert über 6,5% das Vorhandensein eines Diabetes in den vergangenen acht bis zwölf Wochen und damit die sichere Vordienstlichkeit belege. Gründe, weshalb bezüglich dieser medizinischen Erfahrungswerte nicht auf die Einschätzung von Dr. D abgestellt werden dürfte, liegen keine vor. Zudem liegen keinerlei medizinische Unterlagen im Recht, die Zweifel an der Einschätzung von Dr. D aufkommen lassen würden. Es ist folglich mangels entsprechender ärztlicher Angaben aus der Zeit vor dem WK aufgrund der medizinischen Erfahrungen bezüglich der HbA1c-Werte und des vorliegenden zeitlichen Zusammenhangs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Gesundheitsschädigung in Form eines Diabetes mellitus Typ I bereits vor Beginn des Militärdienstes bestanden hat, auch wenn sie erst während des Dienstes in Erscheinung getreten ist, bzw. dass der Diabetes an sich und insbesondere auch die diesem zugrunde liegende Autoimmunerkrankung nicht während des WKs ab 1. September 2014 verursacht werden konnten.

3.2 Zu prüfen ist im Weiteren, ob sich die Gesundheitsschädigung des Beschwerdeführers während des WKs verschlimmert hat bzw. ob sie in ihrem Ablauf beschleunigt worden ist (Art. 5 Abs. 2 lit. b MVG). Wie bereits ausgeführt wurde, kann eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes gemäss Art. 5 Abs. 2 lit. b MVG auslösender Natur sein. So wurde beim Beschwerdeführer der Diabetes mellitus Typ I offenbar erstmals während des WKs symptomatisch. Insofern hat denn auch die Beschwerdegegnerin zu Recht ihre Leistungspflicht zur Behebung der Verschlimmerung bejaht. Beim Diabetes mellitus handelt es sich jedoch um eine chronische Erkrankung, deren Verlauf durch eine Lebensumstellung modifiziert werden kann, aber nur leicht. Wie Dr. D dazu schlüssig ausführte, ist es eine Tatsache, dass trotz aller Bemühungen diabetische Spätfolgen unausweichlich sind. Im Verlauf der Jahre kommt es zu diabetischen Folgeschäden an den grossen und kleinen Gefässen, an den Augen, den Nieren und an den Nerven. Der Beschwerdeführer konnte mit Hilfe von Insulin gut eingestellt werden. Seine Arbeitsfähigkeit ist nicht eingeschränkt und die Leistungsfähigkeit ist auf hohem Niveau stabil gegeben. Die während des WKs ausgelöste Entgleisung des Diabetes konnte somit medikamentös erfolgreich behoben werden (vgl. dazu auch Entscheid des Bundesgerichts M 11/04 vom 19. Mai 2005). Ohne den absolvierten WK wäre längerfristig nicht von einem diesbezüglich anderen Verlauf der gesundheitlichen Beeinträchtigung auszugehen, zumal jede grössere körperliche Anstrengung einen Diabetes zum Entgleisen bringen kann. Die dem Diabetes zugrunde liegende Autoimmunerkrankung, welche die Insulin produzierenden Zellen definitiv zerstört und einen Diabetes bewirkt, wurde durch den Militärdienst nicht beeinflusst. Folglich ist jedoch davon auszugehen, dass sich der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Leistungseinstellung per 15. September 2016 (also zwei Jahre nach dem Auftreten der massgeblichen Symptome bzw. der erstmaligen Entgleisung des Diabetes) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in etwa gleich präsentierte, wie wenn er nicht den Einwirkungen des Militärdienstes ausgesetzt gewesen wäre, was Dr. D aus medizinischer Sicht schlüssig ausführte. Somit ist per 15. September 2016 jedoch von einem Status quo sine auszugehen und die Beschwerdegegnerin hat ihre weitergehende Leistungspflicht ab 15. September 2016 folglich zu Recht verneint.

Entscheid des Verwaltungsgerichts als Versicherungsgericht VV.2018.50/E vom 27. Juni 2018

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