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RBOG 1994 Nr. 22

Kautionspflicht auch bei Rückstand mit einer Parteientschädigung an einen Dritten aus einem anderen Verfahren


§ 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO


1. Gemäss § 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO hat jene Partei, welche als Kläger oder Widerkläger auftritt oder die gegen einen erstinstanzlichen Entscheid ein Rechtsmittel ergreift, in allen Verfahren mit Ausnahme von Vaterschafts-, Ehescheidungs- und Entmündigungsprozessen für die mutmasslichen Kosten (amtliche Kosten und Prozessentschädigung) eine Kaution zu leisten, wenn sie mit rechtskräftigen Kosten oder Entschädigungen aus einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren im Rückstand ist. Gestützt auf diese Bestimmung verlangt der Rekurrent die Verpflichtung der Rekursgegnerin, die sich mit der Bezahlung einer Parteientschädigung an einen Dritten aus einem früheren Verfahren im Rückstand befindet, zur Leistung einer Kaution im Rahmen des zwischen den Parteien hängigen Verfahrens.

2. Es herrscht Einigkeit darüber, dass mit Bezug auf rückständige Gerichtskosten, welche dem Staat bezahlt werden müssen, unerheblich ist, wer damals Gegenpartei der nun allenfalls als kautionspflichtig zu erklärenden Partei war. Demgegenüber ist strittig, ob dies auch hinsichtlich rückständiger Parteientschädigungen gilt. Die Vorinstanz und die Rekursgegnerin vertreten in enger Auslegung von § 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO die Auffassung, die Nichtbezahlung von Parteikosten an einen beliebigen Dritten könne nicht als Kautionsgrund angerufen werden; Gläubiger der unbezahlten Parteikosten müsse der Kautionsgesuchsteller sein.

a) Schon § 101 lit. c der Bürgerlichen Prozessordnung vom 1. Mai 1867 (BPO) sah eine Kautionsauflage für jene Klageparteien vor, die "von frühern Prozessen her mit den ihnen obliegenden Zahlungen noch im Rückstande sich befinden." Mit der Zivilprozessordnung vom 29. April 1928 (aZPO) wurde diese Bestimmung durch § 97 Abs. 1 Ziff. 3 aZPO ersetzt, wonach jene Kläger und Widerkläger auf Verlangen der Gegenpartei eine Kaution zu stellen hatten, die "sich mit Zahlungen von Prozesskosten im Rückstande befinden." Gemäss RBOG 1935 Nr. 4 waren diese beiden Bestimmungen im gleichen Sinn auszulegen, nämlich dahingehend, dass die Zahlungen an die Gegenpartei aus Prozessentschädigung denjenigen an das Gericht aus amtlichen Kosten gleichgestellt seien. Der Entscheid aus dem Jahr 1935 wurde damit begründet, die Zivilprozessordnung habe die frühere Regelung übernommen; der Textänderung komme nur redaktionelle Bedeutung zu, was schon daraus hervorgehe, dass sie im Bericht der Gesetzgebungskommission gar nicht erwähnt worden sei. Die Praxis sei denn auch immer gleich geblieben. Es liege kein Grund vor, davon durch eine neue, restriktive Interpretation des Gesetzes, die seinem Werdegang widersprechen würde, abzugehen. Dass unter dem Begriff der Prozesskosten nach § 97 Abs. 1 Ziff. 3 aZPO Gerichtskosten und Parteientschädigungen verstanden wurden, ergibt sich auch aus der Literatur (Böckli, Zivilprozess-Ordnung für den Kanton Thurgau, § 97 N 5; Schneider, Der Ehrverletzungsprozess im thurgauischen Recht, Diss. Zürich 1977, S. 118).

Anhaltspunkte für eine differenzierte Anwendung der Kautionsbestimmungen auf einerseits rückständige Gerichtskosten und andererseits rückständige Prozessentschädigungen, wie sie von der Vorinstanz und der Rekursgegnerin gefordert wird, finden sich weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur zu § 101 BPO und § 97 aZPO. Daraus kann geschlossen werden, dass eine solche unterschiedliche Handhabung den unter der Herrschaft der Bürgerlichen Prozessordnung und der Zivilprozessordnung vom 29. April 1928 geltenden Kautionsvorschriften nicht entsprochen hätte.

In der neuen Bestimmung von § 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO findet sich - jedenfalls dem Wortlaut nach - eine derartige Differenzierung ebenfalls nicht. Sie könnte deshalb nur dann vorgenommen werden, wenn sie gleichwohl dem Willen des Gesetzgebers entspräche oder aus zwingenden Gründen erforderlich wäre.

b) In den Gesetzesmaterialien sind keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung der neuen Zivilprozessordnung vom 6. Juli 1988 eine von der bisherigen Rechtslage abweichende Regelung treffen wollte. Vielmehr wurde in § 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO anstelle des auslegungsbedürftigen Begriffs der "Prozesskosten" nach § 97 Abs. 1 Ziff. 3 aZPO der Passus mit den "Kosten oder Entschädigungen aus einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren" eingefügt, ohne den Rückstand mit Prozessentschädigungen nur dann als Kautionsgrund gelten zu lassen, wenn eine solche Entschädigung gegenüber dem Kautionsgesuchsteller geschuldet ist.

Die Rekursgegnerin stützt ihre Auffassung denn auch nicht auf den Wortlaut dieser Gesetzesbestimmung, sondern in erster Linie auf die Systematik der Kautionsgründe nach § 77 Abs. 1 ZPO ab. Der blosse Rückstand könne nicht genügen, wenn der Gesetzgeber gleichzeitig in Ziff. 2 die fruchtlose Betreibung und in Ziff. 3 die sonstige Zahlungsunfähigkeit als Kautionsgründe vorsehe; der Rückstand mit der Bezahlung von Kosten oder Entschädigungen müsse daher ein qualifizierter sein. Diese Argumentation übersieht, dass schon in der Bürgerlichen Prozessordnung und in der Zivilprozessordnung vom 29. April 1928 der Rückstand mit Prozesskosten neben den übrigen Kautionsgründen einen selbständigen und zusätzlichen Kautionsgrund bildete. Dies hat sich mit der neuen Formulierung in § 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO nicht geändert. Auch eine systematische Auslegung dieser Vorschrift führt damit nicht zu einem den Wortlaut einschränkenden Ergebnis; ein diesbezüglicher Wille des Gesetzgebers ist nicht ersichtlich.

c) Die Rekursgegnerin stützt sich zur Begründung ihres Standpunkts auch noch auf den Schutzzweck der Kautionsvorschriften. Sie rügt, es sei nicht einzusehen, weshalb die Kosten und Parteientschädigungen, deren ausstehende Bezahlung einen Kautionsgrund bildet, eines höheren Schutzes bedürften. Mit einer Kautionsleistung werden indessen nicht die rückständigen Prozesskosten, sondern die zukünftigen Kosten, die aus einem laufenden Verfahren resultieren, sichergestellt. § 77 ZPO ist, was seine Wirkungen betrifft, in die Zukunft gerichtet: Der Staat mit seinen Gerichtsbehörden und die in einen Prozess verwickelte Gegenpartei sollen vor einem durch die Prozessführung der kautionspflichtigen Partei verursachten Schaden geschützt werden. Dieser Schutzzweck erfordert keine nach dem Wortlaut von § 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO nicht vorgesehene Einschränkung auf rückständige Parteientschädigungen, die aus einem Verfahren zwischen denselben Parteien resultieren. Das Gegenteil ist der Fall: Die in das neue, laufende Verfahren involvierte Gegenpartei soll davor geschützt werden, das gleiche Schicksal zu erleiden wie jener Dritte, dem gegenüber die kautionspflichtige Partei die aus dem früheren Prozess herrührende Entschädigung (noch) nicht bezahlt hat.

Zwingende sachliche Gründe für die von der Vorinstanz vorgenommene und von der Rekursgegnerin auch im Rekursverfahren geforderte einschränkende Auslegung des Kautionsgrunds des Rückstands mit der Bezahlung von Parteientschädigungen liegen mithin nicht vor.

d) Daran vermag auch die Tatsache, dass andere kantonale Prozessordnungen eine ähnliche Regelung wie jene in § 77 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO nicht kennen, nichts zu ändern. Wie sich aus den bisherigen Erwägungen ergibt, ist diese Regelung nämlich sachlich gerechtfertigt. Zudem steht sie höherrangigem Bundesrecht nicht entgegen.

Rekurskommission, 2. Mai 1994, ZR 94 44


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