RBOG 1995 Nr. 28
Voraussetzungen für die Berücksichtigung "früherer Vorbringen" nach §§ 65 Abs. 1, 144 Abs. 3 ZPO
§ 65 Abs. 1 aZPO (TG), § 144 Abs. 3 aZPO (TG)
1. Der peremtorisch vorgeladene Beklagte war zur Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschienen. Die Vorinstanz entschied nach den Regeln des Säumnisverfahrens über die Streitsache, d.h. sie stützte sich auf die Vorbringen der Klägerin und erachtete diese als unbestritten.
2. a) Kommt das Säumnisverfahren zur Anwendung, schreitet der Richter nach Erledigung aller übrigen Tagesgeschäfte frühestens nach Ablauf einer Stunde auf den einseitigen Vortrag der Gegenpartei zum Urteil, und zwar in der Weise, dass er deren tatsächliche Vorbringen als wahr annimmt und im übrigen nach Massgabe der bestehenden Gesetze seinen Entscheid fällt. Die früheren Vorbringen der ausgebliebenen Partei werden berücksichtigt (§ 65 Abs. 1 ZPO), dies im Gegensatz zu § 83 Abs. 1 aZPO, wonach bestrittene Vorbringen der säumigen Partei als zurückgezogen galten. Sind infolge Ausbleibens einer Partei von der Verhandlung tatsächliche Behauptungen der Gegenpartei unbestritten geblieben, ist darüber Beweis zu erheben, sofern erhebliche Zweifel an der Richtigkeit bestehen (§ 65 Abs. 2 ZPO); auch insofern ist die Regelung der Rechtsfolgen der Säumnis milder als in der aZPO. § 65 Abs. 2 ZPO gibt dem Gericht mithin eine Handhabe, um zu verhindern, dass der Kläger das Ausbleiben des Beklagten wider Treu und Glauben ausnützt, wenn er z.B. eine Sachdarstellung vorträgt, die seinen eigenen Akten widerspricht. Es wird dem Gericht damit ermöglicht, von der Verhandlungsmaxime abzuweichen und Beweise auch quasi von Amtes wegen zu erheben. Der Beklagte hat jedoch keinen Anspruch auf Durchführung eines Beweisverfahrens (Sträuli/Messmer, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 132 N 3).
Im Säumnisverfahren sind nach § 65 Abs. 1 ZPO die früheren Vorbringen der ausgebliebenen Partei demnach zu berücksichtigen; der Entscheid ist im übrigen aufgrund der Akten und der Vorbringen der erschienenen Gegenpartei zu fällen (RBOG 1931 Nr. 7). Dabei ist selbstredend nicht nur aufgrund der Akten der erschienenen, sondern auch der ausgebliebenen Partei zu entscheiden.
b) Als frühere Vorbringen im Sinn von § 65 Abs. 1 ZPO können nur solche Behauptungen, Bestreitungen, Einwendungen und Einreden gelten, die seitens der betroffenen Partei in einer prozessual richtigen Form eingebracht wurden. Gemeint sind damit die Vorbringen einer Partei - je nach ihrer prozessualen Stellung - in der Klagebegründung und Replik bzw. in der Klageantwort und Duplik. Bei einem Streitwert von über Fr. 8'000.-- haben dabei Klagebegründung und Klageantwort schriftlich zu erfolgen (§§ 138 ff. ZPO), in den übrigen Fällen mündlich in der Hauptverhandlung; Replik und Duplik erfolgen stets mündlich (§ 144 ZPO). Können Vorbringen einer Partei nicht der Klagebegründung, Klageantwort, Replik oder Duplik zugerechnet werden bzw. sind sie nicht in der jeweils prozessual richtigen Form - schriftlich oder mündlich - erfolgt, dürfen sie nicht als frühere Vorbringen im Sinn von § 65 Abs. 1 ZPO gelten.
c) Nach § 144 Abs. 3 ZPO können die Parteien vor ihren mündlichen Vorträgen allerdings schriftlich eine Zusammenstellung der erheblichen Tatsachen, Beweismittel und Bestreitungen einreichen. Bei dieser Bestimmung handelt es sich im wesentlichen um eine Präzisierung von § 172 Abs. 3 aZPO: Gemeint ist grundsätzlich nur die Möglichkeit der Parteien, in Prozessen mit mündlichen Vorträgen, deren Verfolgung und Protokollierung schwierig ist, dem Gericht und der Gegenpartei vor der Verhandlung eine schriftliche Zusammenstellung abzugeben, was eine Erleichterung für alle Beteiligten darstellt (Protokoll der 15. Sitzung der grossrätlichen Kommission zur Vorberatung der ZPO vom 10. April 1986, S. 355 f.); es unterliegt erheblichen Zweifeln, ob der gesetzlichen Vorschrift von § 144 Abs. 3 ZPO ein weitergehender Sinn zugerechnet werden darf. Entscheidend ist indessen ohnehin, dass es Sinn und Zweck des mündlichen Verfahrens bildet, dass der entsprechende Parteivortrag bzw. die entsprechenden Vorträge mündlich erfolgen; mithin entbindet - unabhängig von der Frage, ob und inwieweit ein solches Vorgehen überhaupt zulässig wäre - die Einreichung einer schriftlichen Zusammenstellung der erheblichen Tatsachen eine Partei nicht von der Pflicht, die Klage mündlich zu begründen bzw. zu beantworten (Entscheid der Rekurskommisson vom 17. Oktober 1994, ZB 94 18). Dies bedeutet, dass eine Partei im mündlichen Verfahren jedenfalls ohne weiteres auch dann als säumig zu betrachten ist, wenn sie dem Gericht vorgängig gestützt auf § 144 Abs. 3 ZPO eine Zusammenstellung der erheblichen Tatsachen einreichte.
Damit steht auch fest, dass solche Zusammenstellungen erheblicher Tatsachen, wenn eine Partei nicht zur Begründung der Klage zur Hauptverhandlung erscheint, im Rahmen des Säumnisverfahrens nicht als frühere Vorbringen im Sinn von § 65 Abs. 1 (letzter Satz) ZPO betrachtet werden können.
d) Daran ändert auch nichts, wenn eine solche schriftliche Sachdarstellung durch ebenfalls eingereichte Akten, aus welchen sich die behaupteten Tatsachen ergeben, begleitet wird. Anders zu entscheiden hiesse, den Parteien im mündlichen Verfahren Gelegenheit zu geben, eine schriftliche Klagebegründung oder -antwort einzureichen und der mündlichen Verhandlung fernzubleiben, ohne dass die Regeln des Säumnisverfahrens nach § 65 ZPO materielle Auswirkungen hätten. Die ZPO des Kantons Thurgau kennt indessen eine dem zürcherischen Verfahrensrecht analoge Regelung, gemäss welcher die Parteien fakultativ einen Schriftenwechsel verlangen können, eben gerade nicht (vgl. § 123 ZPO ZH).
Werden indessen von der säumigen Partei Akten ins Recht gelegt, hat der Richter aufgrund dieser Unterlagen zu prüfen, ob im Sinn von § 65 Abs. 2 ZPO erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Behauptungen der Gegenpartei entstehen. Von Bedeutung sind in solchen Fällen mithin die eingereichten Akten, nicht aber die schriftliche Zusammenstellung der erheblichen Tatsachen; nur ersteres führt zur allfälligen Durchführung eines Beweisverfahrens nach § 65 Abs. 2 ZPO.
3. Der Beklagte reichte der Vorinstanz vor der Hauptverhandlung neben zwei Aktenstücken eine Darstellung des Sachverhalts aus seiner Sicht ein, wonach er die geleistete Arbeit der Klägerin infolge Unbrauchbarkeit nicht akzeptiere; die transportierte Ware sei zu spät und in desolatem Zustand ausgeliefert worden. Es sei ein Schaden von über Fr. 10'000.-- entstanden. Da der Beklagte in der Folge zur Verhandlung nicht erschien, musste und durfte sich die Vorinstanz mit dieser Eingabe nicht näher befassen. Zu berücksichtigen waren hingegen die gleichzeitig ins Recht gelegten Akten. Auch wenn der Begründung des angefochtenen Urteils nicht zu entnehmen ist, dass und inwiefern die Vorinstanz diese Akten in ihren Entscheid miteinbezog, ändert dies am Ergebnis nichts: Die Klägerin hatte vor Vorinstanz ausgeführt, die eingeklagte Forderung betreffe lediglich die aufgelaufenen Zölle. Dass diese Behauptung nicht zutrifft, lässt sich den von den Parteien vor Vorinstanz ins Recht gelegten Akten nicht entnehmen. Zwar geht aus den Schreiben des Beklagten hervor, dass die Fracht offenbar verspätet und in "desolatem Zustand" ausgeliefert worden sei. Daraus ergeben sich indessen die rechtserheblichen Tatsachen nicht derart umfassend und klar, dass darüber ein Beweis abgenommen werden könnte oder müsste (Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 2. A., Kap. 10 N 55). Aus diesen Akten geht insbesondere nicht hervor, wann gemäss den getroffenen Abreden die Ware hätte eintreffen müssen, wann sie tatsächlich eintraf, inwiefern die Klägerin oder Drittpersonen eine Verantwortung trifft und in welchem Umfang ein Schaden entstand. Aufgrund der der Vorinstanz zur Verfügung stehenden Akten musste diese daher im Sinn von § 65 Abs. 2 ZPO keine erheblichen Zweifel an der Richtigkeit der Sachdarstellung der Klägerin haben. Zu Recht stützte sie sich folglich ohne weiteres Beweisverfahren auf deren Vorbringen und schützte die Klage.
Rekurskommission, 20. März 1995, ZB 95 11