RBOG 1995 Nr. 40
Umfang der Substantiierungspflicht im Rechtsmittelverfahren
Auch für das thurgauische Recht gilt, dass die Berufungsinstanz gestützt auf § 233 Abs. 1 ZPO das Verfahren und den Entscheid der Vorinstanz im Rahmen der Berufungsanträge in ihrer Gesamtheit, d.h. sowohl hinsichtlich der Tatsachen als auch der Rechtsgründe, zu überprüfen hat. Sie hat mithin unter Vorbehalt von § 223 Abs. 3 ZPO zu entscheiden, ob die Berufungsanträge im Ergebnis begründet sind oder nicht, ohne Rücksicht darauf, wie der Berufungskläger seine Anträge begründete (Sträuli/Messmer, Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 269 N 3 und § 57 N 9; Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3.A., S. 507 Anm. 7). Letztlich geht es um die Pflicht des kantonalen Richters, das für den gegebenen Tatbestand massgebliche Bundesrecht von Amtes wegen und in vollem Umfang anzuwenden. Das bedeutet konkret, dass der Richter kraft Bundesrecht verpflichtet ist, sich von Amtes wegen auch mit einem von den Parteien nicht eingenommenen Rechtsstandpunkt zu befassen; er ist mithin an eine unvollständige oder irrige rechtliche Begründung seitens der Parteien nicht gebunden (BGE 107 II 122 mit Hinweisen). Dieser Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen bezieht sich indessen nicht auf die Feststellung des Sachverhalts. Wenn in RBOG 1992 Nr. 36 ausgeführt wird, im Rekursverfahren genüge die blosse Verweisung auf die gegenüber der Vorinstanz gemachten Darlegungen nicht, da sich die Rekursinstanz nur mit Vorbringen zu befassen habe, die im zweitinstanzlichen Verfahren wieder ausdrücklich in den Prozess eingebracht würden, ist diese Formulierung zwar zu rigoros: Erstinstanzliche Ausführungen der Parteien sind auch vor der zweiten Instanz insofern zu beachten, als sie Inhalt der Akten bilden; die Rekursinstanz hat sich in solchen Fällen lediglich mit dem näher auseinanderzusetzen, was von den Parteien als Streitpunkt substantiiert im Rechtsmittelverfahren dargelegt wurde. Wird aber eine bestimmte Tatsachenbehauptung ohne nähere Substantiierung in der ersten Instanz vorgetragen und von der Vorinstanz - wenn auch ohne nähere Begründung - ohne weiteres verworfen, so kann die Berufungsinstanz, wird die entsprechende Sachverhaltsdarstellung im Berufungsverfahren nicht wieder eingebracht oder wird darauf nicht beharrt, davon ausgehen, das entsprechende Vorbringen werde für das zweitinstanzliche Verfahren fallengelassen. Dieser Grundsatz muss mindestens in dem Fall gelten, in welchem die betroffene Partei anwaltlich vertreten war und nicht ein offensichtliches Versehen vorliegt.
Obergericht, 17. Oktober 1995, ZB 94 37