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RBOG 1995 Nr. 50

"Zeugeneinvernahme" durch einen Rechtsanwalt


Art. 1 Zeugeneinvernahme


1. Der Angeklagte A war in einem Strafverfahren, in welchem er durch B schwer belastet worden war, wegen versuchten Diebstahls zu einer Gefängnisstrafe von zehn Monaten verurteilt worden. In Vertretung des A strebte Rechtsanwalt X eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens an. In diesem Zusammenhang wurde im Anwaltsbüro des X eine Befragung der B durchgeführt. X protokollierte die Aussagen von B und liess sie das Protokoll unterzeichnen.

2. a) Was im Kanton Thurgau als standeswidrig gilt, ergibt sich teilweise aus den Standesregeln, die als Ausdruck des Gewohnheitsrechts gelten können (Wolffers, Der Rechtsanwalt in der Schweiz, Zürich 1986, S. 116). Eine der Berufspflichten, an welche sich der Anwalt zu halten hat, ist in § 8 der Standesregeln enthalten: Muss der Rechtsanwalt ausnahmsweise Personen befragen, die in einem Rechtsstreit Zeugen sein können, so enthält er sich jeder Beeinflussung. Die Richtlinien des schweizerischen Anwaltsverbandes (Ziff. 9) äussern sich zur Kontaktaufnahme mit einem Zeugen oder einer Person, die als Zeuge in Frage kommt, folgendermassen: "Der Anwalt nimmt nur ausnahmsweise, und wenn dies zur Prozessvorbereitung unerlässlich ist, mit Personen, die als Zeugen im Prozess in Betracht fallen, Fühlung. Er vermeidet jeden Verdacht, sie zu beeinflussen." Inhaltlich stimmen diese beiden Bestimmungen überein. Ihre Einhaltung liegt im öffentlichen Interesse. Es handelt sich folglich nicht um blosse Standesregeln, die bei einer Verletzung keine staatlichen disziplinarischen Massnahmen zur Folge haben, sondern um berufsrechtliche Bestimmungen (vgl. Wolffers, S. 121 f. und S. 174).

b) Ein Rechtsanwalt darf somit nur ausnahmsweise Personen, denen allenfalls Zeugenqualität zukommt, einvernehmen. Die Bedenken gegen die Kontaktaufnahme des Parteivertreters mit Zeugen, deren Vernehmung zu erwarten ist, gehen auf den nach unserem Rechtssystem geltenden Grundsatz zurück, dass die Wahrheitsfindung sowohl im Straf- als auch im Zivilprozess - bei letzterem trotz der dort herrschenden Dispositionsmaxime - in der Hand des Gerichts liegt. Anders als im angelsächsischen Strafprozess ist daher in der Schweiz die Befragung von Zeugen grundsätzlich Aufgabe des Gerichts bzw. der Untersuchungsbehörde und eine private Befragung nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Wann die Kontaktaufnahme des Anwalts mit einem Zeugen zulässig ist, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. In jedem Fall müssen jedoch wichtige Gründe ein solches Vorgehen rechtfertigen. Eine Kontaktaufnahme kann ausnahmsweise sachlich geboten sein, wenn es bei der Vorbereitung eines Prozesses darum geht, die Prozesschancen zu beurteilen und abzuklären, ob der potentielle Zeuge zu einer bestimmten Tatsache überhaupt Aussagen machen kann (SGGVP 1994 Nr. 74). Der Anwalt wird allerdings stets überlegen müssen, ob die Befragung von Zeugen seinem Klienten nützt und ob nicht deren Aussagen dann vom Gericht von vornherein kritisch betrachtet werden. Erfahrungsgemäss pflegen ferner Zeugen, die vom Gericht über eine aussergerichtliche Besprechung mit dem Verteidiger befragt werden, das Gespräch zu bestreiten oder zu bagatellisieren (Lingenberg/Hummel/Zuck/Eich, Kommentar zu den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, 2.A., § 6 N 3). Sind Zeugen schliesslich in einer Beweismitteleingabe bereits angemeldet, ist ihre private Befragung unter allen Umständen unzulässig (§ 8 Satz 2 der thurgauischen Standesregeln; vgl. auch Wegmann, Handbuch über die Berufspflichten des Rechtsanwalts im Kanton Zürich, Zürich 1988, S. 62; Sterchi, Kommentar zum bernischen Fürsprecher-Gesetz, S. 168).

c) Bejaht man ausnahmsweise das Vorliegen wichtiger Gründe für eine private Befragung, muss Gewähr geboten werden, dass keine Beeinflussung des (möglichen) Zeugen stattfindet. Dabei reicht es nicht aus, dass sich der Rechtsanwalt "jeder Beeinflussung enthält" (§ 8 Satz 1 der thurgauischen Standesregeln); schon der Anschein einer Beeinflussung, sei dies durch unmittelbare Einwirkung auf den Inhalt der Zeugenaussage, sei es durch blosse Festlegung, die den Zeugen vor Gericht befangen machen könnte, ist zu vermeiden (SGGVP 1994 Nr. 74 mit Hinweisen).

Im Zusammenhang mit der Vermeidung der Beeinflussung eines Zeugen ist des weitern folgendes zu beachten: Anlässlich der von den zuständigen Behörden durchgeführten Einvernahme muss sich die befragte Person frei äussern können; sie darf sich nicht durch frühere, in privatem Rahmen gemachte Angaben gebunden fühlen. Es geht deshalb in der Regel nicht an, den Zeugen Protokolle über die private Einvernahme unterzeichnen zu lassen (Wegmann, S. 65 mit Anm. 48 [Hinweis auf die ausdrückliche Ausnahme in Ziff. 12 der Berner Standesregeln, wonach die Unterzeichnung von Protokollen zulässig ist, wenn eine vorsorgliche Beweisführung ausgeschlossen ist oder die Unterzeichnung sich im summarischen Verfahren oder in Verwaltungsstreitigkeiten als notwendig erweist]; vgl. auch § 6 Abs. 3 der Grundsätze des deutschen anwaltlichen Standesrechts, wonach die Unterzeichnung von Protokollen grundsätzlich erlaubt ist). § 8 der thurgauischen Standesregeln enthält das Verbot der Unterzeichnung von Protokollen zwar nicht ausdrücklich; es ergibt sich indessen ohne weiteres aus dem Grundsatz, dass die private Befragung unter keinen Umständen das Recht und die Pflicht des Zeugen auf freie Aussage schmälern darf.

3. Mit der Befragung von B bezweckte X, zu prüfen, ob das Wiederaufnahmebegehren seines Klienten A Aussicht auf Erfolg haben könnte. Ein sachlicher Grund für eine private Zeugenbefragung kann nun zwar tatsächlich darin liegen, dass der Rechtsanwalt Informationen über Tatsachen suchen muss, von denen das künftige rechtliche Vorgehen abhängt. Zu denken ist etwa an die Fragen, ob ein Prozess anzuheben, ein Rechtsmittel einzulegen oder zurückzuziehen, eine Behauptung aufzustellen, ein Beweisantrag zu stellen, eine Strafanzeige zu erheben und ganz allgemein eine für den materiellen Prozessausgang bedeutende Prozesshandlung vorzunehmen sei oder nicht. Die Befragung ist jedoch auch unter solchen Umständen nur dann sachlich motiviert, wenn kein weniger einschneidendes Mittel zum gleichen Ziel führt (Wegmann, S. 63 f.).

X konnte offenbar der Behauptung des A, die Personen, aufgrund deren Aussagen er verurteilt worden war, würden nunmehr von ihren damaligen Vorbringen Abstand nehmen, nicht ohne weiteres Glauben schenken. Dass sich X zwecks Vermeidung eines unnötigen Verfahrens mehr Informationen beschaffen wollte, kann ihm keineswegs zum Vorwurf gereichen. Es war ihm durchaus erlaubt, sich zu vergewissern, ob B dreieinhalb Jahre nach der Verurteilung des A unter Inkaufnahme eigener Nachteile von ihrer damaligen Sachverhaltsschilderung abrücken würde. Um dies festzustellen, hätte aber eine telefonische Kontaktnahme genügt; die Zeugin auf das Anwaltsbüro zu bestellen, war nicht notwendig: Bereits die Beantwortung der einzig relevanten Frage, nämlich derjenigen, ob B auf ihre früheren Aussagen zurückkomme, hätte X erlaubt, den Entscheid über das angemessene weitere rechtliche Vorgehen zu fällen.

X wollte sich indessen einen persönlichen Eindruck von der Zeugin verschaffen. Nun mag zwar durchaus zutreffen, dass es Situationen gibt, in welchen die faktische Begegnung mit dem Zeugen unumgänglich ist, um sich ein Bild über dessen Glaubwürdigkeit zu machen; abgesehen davon, dass hiezu vorliegend kein Anlass bestand, hätte sich aber auch in einem solchen Fall die Befragung auf das Minimum beschränken müssen. Die Informationen des A gegenüber X gipfelten darin, B habe falsch ausgesagt und sei bereit, ihre früheren Angaben zu korrigieren. Nur dieser Teilaspekt hätte Gegenstand eines persönlichen Gesprächs zwischen X und der Zeugin sein dürfen; den Einzelheiten nachzugehen, war nicht Aufgabe des Verteidigers. Dieser weist jedoch selbst darauf hin, B habe detaillierte Aussagen gemacht. Diese Tatsache veranlasste X denn auch, ein Protokoll zu führen und dieses schliesslich unterzeichnen zu lassen. Diese Intensität der Befragung war indessen sachlich nicht gerechtfertigt; den konkreten Verhältnissen, die Motivation der Zeugin für ihr früheres und ihr nunmehriges Verhalten eingeschlossen, im einzelnen nachzugehen, war unter den gegebenen Umständen den Untersuchungsbehörden oder dem Gericht vorbehalten. Beweise abzunehmen und zu sichern darf eben gerade nicht Grund oder Ergebnis der privaten Befragung sein; letztere ist nur zwecks Beurteilung der Prozesslage gestattet (Wegmann, S. 62). Der vorliegende Fall zeigt im übrigen, wie gross die Gefahr sein kann, dass ein Zeuge - auch unbewusst - beeinflusst wird: In den Räumlichkeiten des Anwaltsbüros nahm B offensichtlich ganz klar Abstand von ihren früheren Aussagen und erklärte das Gegenteil, weshalb es dann auch zur Anzeige gegen sie wegen falscher Anschuldigung und Irreführung der Rechtspflege kam; anlässlich der späteren offiziellen Befragung durch das Gericht konnte hingegen keine Rede mehr davon sein, B sei festen Willens, A nunmehr zu entlasten.

Dass schliesslich keinerlei Grund bestand, das Protokoll von der Zeugin unterzeichnen zu lassen, bedarf keiner weiteren Ausführungen. X nagelte mit diesem Vorgehen B in unzulässiger Weise, und ohne dass hiezu ein Anlass bestanden hätte, fest, was einer untolerierbaren Beeinflussung gleichkommt.

4. X kann der Vorwurf, eine nicht nur überflüssige, sondern unstatthafte private Befragung durchgeführt zu haben, nicht erspart werden. Durch sein Vorgehen gefährdete er Beweise; er nahm - wenn auch sicherlich nicht absichtlich - in Kauf, die Zeugin zu beeinflussen. Anlass, B in allen Einzelheiten zu befragen, hatte er nicht. Eine einzige gezielte Frage hätte genügt, um in Erfahrung zu bringen, ob B zumindest gesprächsweise bestätigen würde, sie habe im früheren Strafverfahren Falschaussagen gemacht. Alle anderen Vorkehren hätte X alsdann den zuständigen Behörden überlassen müssen. Deren Aufgabe wäre es auch gewesen, B unter Hinweis auf ihre Wahrheitspflichten und allfällige strafrechtliche Konsequenzen im Widerhandlungsfall regelkonform einzuvernehmen und das auf diese Art erwirkte Protokoll sodann von ihr unterzeichnen zu lassen. Die Nichtbeachtung dieser Grundsätze stellt angesichts der Folgen, die daraus resultieren können, keinen bloss unbedeutenden Verstoss gegen die Berufspflichten dar und muss deshalb im Sinn einer Diszipinarstrafe mit einer Busse von Fr. 100.-- geahndet werden.

Obergericht, 6. Juli 1995, RA 95 53


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