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RBOG 1996 Nr. 38

Gegenüberstellung im Strafprozess: Bedeutung und Anforderungen


§§ 89 ff. StPO, § 95 StPO


1. Bereits vor Vorinstanz hatte die Berufungsklägerin die Art der Gegenüberstellung gerügt.

2. Ziel einer Gegenüberstellung, das heisst einer Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, ist es, die Frage zu prüfen, ob eine Person eine bestimmte Tat begangen hat oder nicht. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Zeuge in seinem Gedächtnis ein Abbild des Täters bei Begehung der fraglichen Tat speicherte. Ist die Gedächtnisrepräsentation des beobachteten Täters mit der in einer Gegenüberstellung präsentierten Person identisch, dient dies als Beweis dafür, dass diese Person tatsächlich die Tat beging. Identifizierungsaussagen werden indessen nicht nur durch den Gedächtnisinhalt, sondern auch durch eine Reihe anderer Faktoren beeinflusst. Die Identifizierung eines Tatverdächtigen durch einen Zeugen ist nur dann ein schlüssiges Beweismittel, wenn das Wiedererkennen allein auf die Aehnlichkeit der in der Gegenüberstellung wahrgenommenen Person mit der Gedächtnisrepräsentation dieser Person beim Zeugen zurückgeführt werden kann, und wenn diese Gedächtnisrepräsentation in der Tatsituation angelegt wurde. Der Verdächtigte darf sich daher nicht durch irgendwelche wie auch immer gearteten Besonderheiten von den Alternativpersonen in der Gegenüberstellungsgruppe abheben (Köhnken/Sporer, Identifizierung von Tatverdächtigen durch Augenzeugen, Stuttgart 1990, S. 157; Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozess, Lübeck 1992, S. 343 ff.; Kette, Rechtspsychologie, Wien 1987, S. 193 f.). Eine Falschidentifizierung kann - neben zufälligen Irrtümern - auch auf einem systematischen Fehler beruhen, welcher vorliegt, wenn bestimmte Merkmale des Gegenüberstellungsverfahrens oder der Zusammensetzung der Gegenüberstellungsgruppe die Wahl des Zeugen auch dann auf den Verdächtigten lenken würden, wenn er tatsächlich nicht der Täter wäre (Köhnken/Sporer, S. 158 ff.). Je geringer die Zahl der gegenübergestellten Personen ist, umso höher ist das Risiko, dass der Verdächtigte mehr oder weniger zufällig als Täter bezeichnet wird; besteht die Gruppe einschliesslich des Verdächtigten aus vier Personen, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass der Verdächtigte rein zufällig als Täter bezeichnet wird, 25 % (Köhnken/Sporer, S. 159; Odenthal, Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, 2.A., S. 40). Zu einer Gegenüberstellung sollten daher mindestens fünf bis acht Vergleichspersonen herangezogen werden (Odenthal, S. 40 und Anm. 85). Zudem sollten der Zusammensetzung der Gruppe von Alternativpersonen keine Anzeichen entnommen werden können, die auf den Verdächtigten hindeuten. Die Vergleichspersonen müssen mithin für den Zeugen vollwertige Wahlalternativen darstellen (Grösse, Gewicht, Körperbau, Alter, Frisur, Haarfarbe, Art, Rasse). Auch ist zu beachten, dass die Vergleichspersonen und auch der die Gegenüberstellung leitende Beamte Reaktionen zeigen können, die dem Zeugen Hinweise liefern; Abhilfe schafft hier nur das (freilich organisatorisch schwierige) Vorgehen, Leiter und Vergleichspersonen über die Identität des Verdächtigten völlig im Unklaren zu lassen (vgl. Eisenberg, Persönliche Beweismittel in der StPO, München 1993, N 903 f.; Schmitt, S. 344 Anm. 207). Zudem orientieren sich Zeugen bei ihren Vergleichen und Ähnlichkeitsbeurteilungen oftmals an höchst subjektiven Eindrücken. Ein Zeuge muss deshalb zunächst danach befragt werden, welche Merkmale ihm an der wahrgenommenen Person besonders aufgefallen sind, und welche subjektiven Eindrücke er von der Person hatte (Köhnken/Sporer, S. 161 ff., 164; Odenthal, S. 32 ff.; Schmitt, S. 344; Arntzen, Vernehmungspsychologie, 2.A., S. 60). Schliesslich muss jede Gegenüberstellung dokumentiert werden, damit das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung den Beweiswert der Gegenüberstellung beurteilen kann. Hiezu gehört mindestens ein Foto von allen Varianten der Gegenüberstellungsgruppe, eine wörtliche Protokollierung der Instruktionen, die den Zeugen gegeben wurden, eine Protokollierung der von den Zeugen vor der Identifizierung gegebenen Täterbeschreibung, eine Protokollierung der Aussagen aller Zeugen und eine Protokollierung auch der Gegenüberstellungen, in denen der Verdächtigte nicht identifiziert wurde (Köhnken/Sporer, S. 177; Schmitt, S. 345.; vgl. zum Ganzen: Meurer/Sporer, Zum Beweiswert von Personenidentifizierungen, Neuere empirische Befunde, Marburg 1990, mit weiteren Hinweisen auf S. 6 Anm. 26).

3. a) Die im vorliegenden Fall durchgeführte Gegenüberstellung leidet in mehrfacher Hinsicht an gravierenden Mängeln: Die Vorführungsgruppe wurde lediglich aus der Berufungsklägerin und drei Vergleichspersonen gebildet. Zwei Vergleichspersonen waren acht Jahre, eine 14 Jahre älter als die Berufungsklägerin. Vor der Gegenüberstellung wurden beide Zeugen nicht nach einer Täterbeschreibung gefragt; vielmehr erfolgte zuerst die Gegenüberstellung und erst daran anschliessend die Befragung. Die Gegenüberstellung wurde nicht beziehungsweise völlig unzulänglich dokumentiert. Es wurde erst rund zehn Monate danach ein Rapport sowie eine Fotodokumentation erstellt; ob die dort enthaltenen Fotografien dem Aussehen der Vergleichspersonen zum Zeitpunkt der Gegenüberstellung entsprechen, ist nicht mehr feststellbar. Eine Aufnahme der Berufungsklägerin zum Zeitpunkt der Gegenüberstellung fehlt, ebenso eine fotografische Dokumentation bezüglich der Anordnung der Gruppe während der Gegenüberstellung.

b) Angesichts dieser gravierenden Mängel ist die in der Strafuntersuchung vorgenommene Gegenüberstellung zuungunsten der Berufungsklägerin nicht verwertbar. Die von einem Zeugen vorgenommene Identifizierung der Berufungsklägerin stellt damit kein sie belastendes Beweismittel dar.

Obergericht, 6. Februar 1996, SB 95 49


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