RBOG 1996 Nr. 40
Dispensation des Angeklagten von der Hauptverhandlung; Eröffnung des Urteils
§ 147 aStPO (TG), § 162 aStPO (TG)
1. a) Der Angeklagte hat vor Gericht persönlich zu erscheinen (§ 147 Abs. 1 StPO). Auf rechtzeitiges Gesuch kann ihn der Präsident dieser Pflicht entheben, wenn er durch ärztlich bescheinigte Krankheit, weite Entfernung oder andere triftige Gründe verhindert und seine Anwesenheit für die gerichtliche Beurteilung entbehrlich ist (§ 147 Abs. 2 StPO).
b) Der Beschuldigte, welcher mit Erhebung der Anklage als Angeklagter bezeichnet wird, ist die Hauptperson in der Hauptverhandlung, mit welcher das Strafverfahren seinen Höhepunkt erreicht. Er hat an der Hauptverhandlung deshalb grundsätzlich persönlich teilzunehmen. Ihn trifft somit zwar keine Aussagepflicht, wohl aber die Pflicht, den Vorladungen Folge zu leisten und den Verhandlungen beizuwohnen (Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, S. 131; Hauser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2.A., S. 89; Gut, Grundsätze und Ablauf des ordentlichen erstinstanzlichen Verfahrens der Schaffhauser Strafprozessordnung, Diss. Zürich 1991, S. 229; Schmid, Strafprozessrecht, 2.A., N 831; Martin Schmid, Das Gerichtsverfahren im bündnerischen Strafprozess, Diss. Zürich 1989, S. 64 f.). Im Strafverfahren ist die Anwesenheit des Angeklagten aber auch grundsätzlich deshalb erforderlich, weil seine Aussage und der persönliche Eindruck über ihn für die Wahrheitsfindung und die Strafzumessung von grosser Bedeutung sind. Im weiteren kann dieser ohne persönliche Anwesenheit nur schwer alle seine Verteidigungsmöglichkeiten ausschöpfen. Insbesondere kann er vom urteilenden Gericht verlangen, persönlich angehört zu werden. Diese Ansprüche gehören zu den grundlegenden Anforderungen an einen rechtsstaatlichen Strafprozess und ergeben sich sowohl aus Art. 4 BV als auch aus Art. 6 Ziff. 1 i.V.m. Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK (RBOG 1992 Nr. 16 mit Hinweisen). Das Erscheinen ist aber nicht nur eine Pflicht des Angeklagten, sondern es beinhaltet gleichzeitig auch das Recht, bei Untersuchungshandlungen und an der Hauptverhandlung anwesend zu sein. Recht und Pflicht des Angeklagten zur Teilnahme an der Hauptverhandlung entsprechen den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs (Reinhard, Die Befragung des Beschuldigten im Strafprozess, Diss. Bern 1978, S. 46 f.; Staub, Kommentar zum Strafverfahren des Kantons Bern, Art. 235 N 5; Bänziger/Stolz/Kobler, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Appenzell A.Rh., Art. 161 N 1).
Anders als unter dem alten Thurgauer Strafprozess, welcher die Dispensation des Angeklagten vom persönlichen Erscheinen vor der Kriminalkammer und dem Geschworenengericht nicht zuliess (RBOG 1967 Nr. 38), kann der Angeklagte heute bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen grundsätzlich vor jeder Instanz von der Erscheinungspflicht entbunden werden. Andererseits weist bereits der Wortlaut von § 147 Abs. 2 StPO unzweideutig darauf hin, dass das Gericht auf die persönliche Anwesenheit des Angeklagten nicht gegen dessen Willen verzichten kann. Vielmehr bedarf es hiezu eines ausdrücklichen Gesuches.
c) Unmittelbar nach der persönlichen Schlusseinvernahme durch den Untersuchungsrichter am 13. Mai 1992 wurde der Beschwerdeführer in Ausschaffungshaft gesetzt, nachdem ihm zwei Tage zuvor bereits die Verfügung über seine Ausweisung aus der Schweiz ausgehändigt worden war. Am 14. Mai 1992 bestätigte der Beschwerdeführer ausserdem den Erhalt der Einreisesperre des Bundesamts für Ausländerfragen vom gleichen Tag. Am Morgen des Folgetags wurde er der Flughafenpolizei in Zürich-Kloten zugeführt und von dieser in ein Flugzeug in seine Heimat gesetzt. In den Strafakten findet sich keinerlei Hinweis dafür, dass der Beschwerdeführer zu irgendeinem Zeitpunkt darum ersucht hätte, vom persönlichen Erscheinen an der Hauptverhandlung vor Vorinstanz dispensiert zu werden. Insbesondere der Untersuchungsrichter unterliess in seiner Schlusseinvernahme vom 13. Mai 1992 in dieser Beziehung jedwelchen Hinweis, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Ausschaffung unmittelbar bevorstand. Der Beschwerdeführer wurde lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass er sich durch einen Anwalt freier Wahl vertreten lassen oder ein Gesuch um amtliche Verteidigung stellen könne. Im weiteren wurde ihm im Zusammenhang mit seinem PW die vom gleichen Tag datierte Beschlagnahmeverfügung ausgehändigt, gegen welche er eine Beschwerde in Aussicht stellte. Bei dieser Sachlage aber kann der Vermerk im Rubrum des Urteils der Vorinstanz, der Beschwerdeführer sei vom persönlichen Erscheinen dispensiert, nicht genügen. Vielmehr hätte es hiezu eines ausdrücklichen Dispensationsgesuchs bedurft. Ein solches findet sich aber nirgends. Die Akten lassen im Gegenteil vielmehr darauf schliessen, dass die Vorinstanz den Beschwerdeführer von der Pflicht, persönlich zur Hauptverhandlung zu erscheinen, möglicherweise deshalb entband, weil seine genaue Adresse in seiner Heimat gar nicht bekannt war. In diese Richtung deuten zumindest die Kostenrechnung des Bezirksamts vom 27. April 1993 und auch das orangefarbene Kopfblatt der Vorinstanz für das Aktendossier, auf denen jeweils wortwörtlich übereinstimmend festgehalten wurde, der Beschwerdeführer sei "z.Z. angeblich in der Türkei im Militär, Adresse nicht bekannt". Bei dieser Ausgangslage jedenfalls ist der Hinweis der Staatsanwaltschaft, vorliegend handle es sich um kein Kontumazialurteil, nicht zutreffend. Vielmehr erfolgte die Hauptverhandlung ohne die Anwesenheit des Beschwerdeführers, was nur dann zulässig gewesen wäre, wenn dieser unter Angabe eines der in § 147 Abs. 2 StPO genannten Gründe um Dispensation ersucht und die Vorinstanz diese auch tatsächlich bewilligt hätte.
2. a) Im Anschluss an die Hauptverhandlung eröffnet das Gericht den Parteien mündlich den Urteilsspruch mit einer kurzen Begründung, oder es verweist sie auf die schriftliche Urteilseröffnung (§ 162 Abs. 1 StPO). Den Parteien wird umgehend das schriftliche Urteilsdispositiv zugestellt (§ 162 Abs. 2 StPO). Ist die Adresse eines Verurteilten nicht bekannt oder ist die persönliche Zustellung aus anderen Gründen nicht möglich, so wird der wesentliche Inhalt des Urteilsspruchs im kantonalen Amtsblatt veröffentlicht (§ 163 Abs. 1 StPO).
b) Solange ein Urteil nicht zugestellt ist, handelt es sich um ein Nichturteil (un projet). Seine Unwirksamkeit ist von Amtes wegen zu beachten (BGE 122 I 97 ff.). Die Urteilszustellung ist zudem gemäss § 197 Abs. 1 StPO notwendige Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist. Eine ungültige Zustellung setzt den Fristenlauf nicht in Gang (Hauser, S. 121). Wohl ist nicht in jedem Fall notwendig, dass das Urteil auch eine schriftliche Begründung enthält. Vielmehr kann darauf mit Ausnahme der in § 50 Abs. 4 StPO genannten Tatbestände verzichtet werden, sofern eine schriftliche Begründung nicht innert 10 Tagen nach Zustellung des Urteilsdispositivs von einer Partei verlangt wird (§ 162 Abs. 3 StPO). Es entspricht allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien und insbesondere dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, dass die Entscheidgründe dem Betroffenen bekannt sein sollen. Denn ohne Kenntnis der für den Richter massgebenden Tatsachen und Rechtsnormen kann er sich oft kein Bild über die Tragweite des Urteils machen. Zudem kann er es nicht sachgemäss anfechten, denn weder er noch die angerufene Rechtsmittelinstanz vermögen es auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen (BGE 98 Ia 464 f.). Unbekümmert um die Frage eines allfälligen Weiterzugs sollte dem Betroffenen mit der Bekanntgabe der Urteilsgründe aber auch die Gelegenheit geboten werden, sich von der Richtigkeit des richterlichen Erkenntnisses zu überzeugen. Im Auge zu behalten ist schliesslich auch der resozialisierende Zweck der Strafe, wozu die Überzeugungsarbeit teilweise in der Urteilsbegründung geleistet werden kann (Steiner, Die Motivierungspflicht für Gerichtsurteile, in: SJZ 72, 1976, S. 122; Martin Schmid, S. 454). Damit der Verurteilte sich aber überhaupt mit den Überlegungen des Richters auseinandersetzen kann, muss ihm die Gelegenheit geboten werden, ein begründetes Urteil zu verlangen. Dies ist letztlich nur möglich, wenn ihm wenigstens das Dispositiv mit dem Hinweis auf sein Recht, innerhalb von 10 Tagen ein begründetes Urteil zu verlangen, rechtsgültig zugestellt wird.
c) Sowohl die Kantonspolizei als auch das Bezirksamt führten den Beschwerdeführer während der gesamten Strafuntersuchung als an derselben Adresse in A wohnhaft auf. In seinem Schlussbericht an die Staatsanwaltschaft vom 26. April 1993 vermerkte das Bezirksamt zu Recht, der Beschwerdeführer sei an der letzten Adresse "whft. gewesen", nachdem dieser knapp ein Jahr zuvor in seine Heimat ausgeschafft worden war. Wie bereits die Akteneröffnung vom 12. März 1993 gemäss § 78 StPO erfolgten sämtliche Zustellungen an die in B wohnhafte Schwester des Beschwerdeführers. Im weiteren gingen die Zustellung der Anklageschrift gemäss § 143 StPO durch die Staatsanwaltschaft genauso wie die Vorladung zur Hauptverhandlung vom 2. September 1993 und schliesslich das Urteil vom 1./15. Oktober 1993 an die Adresse der Schwester. Unzutreffend sind in diesem Zusammenhang jedenfalls die Ausführungen der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe seine Schwester als Zustelladresse bezeichnet. Wohl hätte gestützt auf § 87 Abs. 2 StPO ohne weiteres die Möglichkeit bestanden, den Beschwerdeführer vor seiner Ausschaffung zur Mitteilung des bevorstehenden Wohnortswechsels zu verpflichten. Diesem wäre es dannzumal unbenommen gewesen, ein Zustelldomizil in der Schweiz zu bezeichnen. Zuzustimmen ist der Argumentation der Staatsanwaltschaft, dass es hiezu nicht notwendigerweise eines hier zugelassenen Rechtsanwalts bedurft hätte. Dies steht hier allerdings auch nicht in Frage. Entscheidend bleibt vielmehr, dass der Beschwerdeführer selbst weder seine Schwester noch eine andere Person als Zustelldomizil in der Schweiz bezeichnet hatte. Für die gegenteilige Argumentation der Vorinstanz findet sich jedenfalls in den Akten kein Hinweis. Etwas anderes lässt sich auch nicht aus der polizeilichen Befragung der Schwester des Beschwerdeführers vom 10. Juni 1996 herleiten. Wohl räumte diese ein, sie sei damals einverstanden gewesen, für eilige Korrespondenzen an ihren Bruder als Kontaktperson zu walten. Indessen sei dieses Vorgehen mit ihrem Bruder nicht abgesprochen gewesen. Nach dessen Ausschaffung in die Heimat im Mai 1992 habe sie denn auch die meisten an ihn adressierten Briefe weggeworfen, obwohl sie deren Inhalt nicht habe lesen können. Das Urteil sei ihr zugestellt worden und in der Folge einige Monate bei ihr zu Hause herumgelegen, bevor sie es ebenfalls weggeworfen habe. Ihrem Bruder habe sie später telefonisch von der Ankunft des Urteils Kenntnis gegeben, ihm gleichzeitig aber auch gesagt, sie habe den Inhalt nicht lesen können. Unter diesen Umständen aber hat die Zustellung des Urteils der Vorinstanz klar als nicht erfolgt zu gelten.
3. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Strafverfahren vor Vorinstanz an mehreren formellen Mängeln leidet. So fehlt es zum einen an den notwendigen Voraussetzungen für eine gültige Dispensation. Zum andern erfolgte auch nie eine gültige Zustellung des Urteils, womit dieses überhaupt nicht in Rechtskraft erwachsen konnte. Offen bleiben kann bei dieser Sachlage die Frage, ob mangels Zustelladresse in der Schweiz überhaupt eine gültige Vorladung zur Hauptverhandlung erfolgte, nachdem auch die Vorinstanz nicht geltend macht, der Beschwerdeführer sei unentschuldigt ferngeblieben. Das Urteil der Vorinstanz ist somit wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs nichtig und deshalb aufzuheben. Das Strafverfahren ist an dem Punkt wieder aufzunehmen, an welchem es sich im Moment der Ausschaffung des Beschwerdeführers am 15. Mai 1992 befand.
Rekurskommission, 2. September 1996, SW 96 5