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RBOG 1996 Nr. 41

Ein Mangel bei der Eröffnung eines Urteils ist im Berufungsverfahren heilbar


§ 162 StPO, § 199 StPO


1. Der Berufungskläger macht geltend, das angefochtene Strafurteil sei nichtig, weil es mangelhaft eröffnet worden sei. Bei der mündlichen Eröffnung des Urteils anschliessend an die Hauptverhandlung sei der Berufungskläger nicht wegen grober, sondern nur wegen einfacher Verkehrsregelverletzung verurteilt worden. Die Vorinstanz habe diesen Urteilsspruch in der Folge aber abgeändert und ihn im schriftlich begründeten Urteil auch der groben Verletzung von Verkehrsregeln für schuldig befunden.

2. a) Im Anschluss an die Hauptverhandlung eröffnet das Gericht den Parteien mündlich den Urteilsspruch mit einer kurzen Begründung, oder es verweist sie auf die schriftliche Urteilseröffnung (§ 162 Abs. 1 StPO). Den Parteien wird umgehend das schriftliche Urteilsdispositiv zugestellt (§ 162 Abs. 2 StPO). Mit Ausnahme der Fälle gemäss § 50 Abs. 4 StPO kann das Gericht nach § 162 Abs. 3 StPO auf die schriftliche Begründung des Urteils verzichten, sofern diese nicht innert zehn Tagen nach Zustellung des Urteilsdispositivs von einer Partei verlangt wird.

Nach dem klaren Wortlaut von § 162 Abs. 1 StPO erfolgt die Eröffnung des Urteilsspruchs entweder mündlich oder schriftlich. Bei mündlicher Eröffnung ist den Parteien umgehend ein schriftliches Urteilsdispositiv zuzustellen (§ 162 Abs. 2 StPO), worauf abgesehen von den Fällen gemäss § 50 Abs. 4 StPO auf eine schriftliche Begründung verzichtet werden kann (§ 162 Abs. 3 StPO). Es stellt sich daher tatsächlich die Frage, ob der Richter auf ein mündlich eröffnetes Urteil zurückkommen und es in einer späteren Beratung abändern kann (verneinend: SJZ 78, 1982, S. 47 f. Nr. 10; Hauser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2.A., S. 124). Jedenfalls widerspricht das Vorgehen der Vorinstanz dem auch im Strafprozess massgebenden Grundsatz von Treu und Glauben.

b) Entgegen der Auffassung des Berufungsklägers ist der angefochtene Entscheid indessen nicht nichtig in dem Sinn, dass er aufzuheben und die Streitsache an die Vorinstanz zurückzuweisen wäre. Das Verfahren ist lediglich zu wiederholen, wenn der Mangel für die Beurteilung wesentlich und seine Behebung im Berufungsverfahren nicht möglich ist (§ 199 Abs. 3 StPO). Da die Berufungsinstanz mit voller Kognition einen neuen Entscheid fällt, welcher das angefochtene Urteil ersetzt (§ 210 Abs. 1 StPO), kann ein allfälliger Mangel bei der Eröffnung des Urteils im Berufungsverfahren geheilt werden. Dies gilt umsomehr, als keinerlei Anhaltspunkte vorliegen, dass die Vorinstanz bei ihrer zweiten, von der ersten im Ergebnis abweichenden Beratung nicht ordentlich besetzt gewesen wäre. Überdies geht es im vorliegenden Strafverfahren um Rechtsfragen, und dem angefochtenen Entscheid lassen sich sowohl die Gründe für den ursprünglichen Urteilsspruch (keine Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung) als auch für den abgeänderten Schuldspruch entnehmen. Insofern verhält sich der vorliegende Fall anders als der in SJZ 78, 1982, S. 47 f. geschilderte. Schliesslich gibt Art. 6 Abs. 1 EMRK lediglich Anspruch auf eine einmalige Beurteilung der Sache durch ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes und mit voller Überprüfungsbefugnis ausgestattetes Gericht (Poledna, Praxis zur Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 91 Nr. 331) und nicht auf zwei Instanzen.

Rekurskommission, 2. Oktober 1995/22. Januar 1996, SB 95 23


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