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RBOG 1996 Nr. 7

Werkeigentümer- bzw. Verschuldenshaftung bei einem Bockgerüst: Ausschluss bei grobem Selbstverschulden des Geschädigten


Art. 41 Abs. 1 OR, Art. 58 Abs. 1 OR


1. Für die Renovation eines altes Schulhauses errichtete die Berufungsbeklagte ein Bockgerüst. Beim Versuch, eine Türe zu vermessen, stürzte der Berufungskläger vom Gerüst und zog sich schwere Verletzungen zu. Für die daraus resultierenden Folgekosten forderte er von der Berufungsbeklagten Schadenersatz. Das Bezirksgericht wies die Klage ohne Durchführung eines Beweisverfahrens ab und ging davon aus, der von der Berufungsbeklagten gesetzte Kausalzusammenhang sei durch das grobe Selbstverschulden des Berufungsklägers unterbrochen worden. Die Frage, ob ein Bockgerüst als Werk im Sinn des Gesetzes zu bezeichnen sei, könne offengelassen werden. Bejaht wurde hingegen grundsätzlich der Eintritt eines Schadens, die Widerrechtlichkeit sowie der Kausalzusammenhang zwischen der Mangelhaftigkeit des Gerüsts und dem eingetretenen Schaden.

2. Nach Art. 58 Abs. 1 OR hat der Eigentümer eines Gebäudes oder eines anderen Werks den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen (Werkeigentümerhaftung). Wer einem anderen widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, wird nach Art. 41 Abs. 1 OR zum Ersatz verpflichtet (Verschuldenshaftung). Voraussetzung sowohl für die Verschuldenshaftung als auch für die als Kausalhaftung ausgestaltete Werkeigentümerhaftung ist neben dem Vorliegen eines Schadens und der Widerrechtlichkeit der Kausalzusammenhang zwischen schädigendem Ereignis und Schaden (vgl. Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, AT, Bd. I, 5.A., § 1 N 145 ff.). Bei der Verschuldenshaftung nach Art. 41 OR kommt neben diesen Voraussetzungen ein Verschulden des Schädigers hinzu (Oftinger/Stark, § 1 N 149). Sowohl bei der allgemeinen Verschuldenshaftung als auch bei der Werkeigentümerhaftung schliesst grobes Selbstverschulden des Geschädigten die Haftung des Werkeigentümers bzw. des "Schädigers" aus (Oftinger/Stark, § 3 N 151 ff., § 5 N 137; Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, BT, Bd. II/1, 4.A., § 19 N 96; Keller, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 5.A., S. 109, 191).

a) Der Kausalzusammenhang kann in Form von Selbstverschulden durch Grobfahrlässigkeit "unterbrochen" werden. Grob fahrlässig handelt, wer jene elementarsten Vorsichtsgebote unbeachtet lässt, die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte (BGE 118 V 306, 115 II 287; Keller, S. 109; Oftinger/Stark, AT, Bd. I, § 5 N 107 und Anm. 121). Im Normalfall vermag das Verschulden des Opfers selbst den adäquaten Zusammenhang zwischen Schaden und Verhalten des Schädigers nicht zu unterbrechen (Brehm, Berner Kommentar, Art. 41 OR N 134 mit Hinweisen). Schweres Selbstverschulden des Geschädigten führt hingegen zur "Unterbrechung" des adäquaten Kausalzusammenhangs, es sei denn, es müsse sogar mit einer solchen Grobfahrlässigkeit des Geschädigten gerechnet werden, wie dies im Strassenverkehr der Fall sein kann. Das schwere Selbstverschulden weist jedoch nur dann die den Kausalzusammenhang "unterbrechende" Intensität auf, wenn den Schadensverursacher selbst nicht auch ein schweres Verschulden trifft. Es muss ein Missverhältnis zwischen dem Verschulden der Beteiligten bestehen. Die "Unterbrechung" des Kausalzusammenhangs ist ebenfalls gegeben, wenn der Geschädigte die Möglichkeit hätte, die Schädigung zu vermeiden, sie jedoch bewusst hinnimmt (Brehm, Art. 41 OR N 139). Entscheidend ist mithin die Intensität der beiden Kausalzusammenhänge; erscheint der eine Kausalzusammenhang bei wertender Betrachtung als derart intensiv, dass er den anderen gleichsam verdrängt und als unbedeutend erscheinen lässt, wird eine "Unterbrechung" des anderen angenommen (BGE 116 II 524 mit Hinweisen; Oftinger/Stark, AT, Bd. I, § 3 N 153).

b) Nach Sachdarstellung des Berufungsklägers fehlten beim fraglichen Bockgerüst zwei der vier Dielen. Die Vorinstanz ging davon aus, das Gerüst habe offensichtlich an einem Mangel gelitten, welcher unbestrittenermassen auf das Verhalten der Berufungsbeklagten zurückzuführen sei. Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Erfahrung könne durch einen teilweisen Abbau eines Bockgerüsts bzw. einen nicht vollständigen Aufbau ein Sturz begünstigt werden. Ausgehend von der (nicht erstellten) Annahme, der Sturz sei allein auf das Verhalten der Berufungsbeklagten zurückzuführen, bestehe zwischen dem Verhalten der Berufungsbeklagten, dem Mangel am Gerüst und dem Körperschaden des Berufungsklägers ein Kausalzusammenhang.

Ob das Bockgerüst als solches indessen mangelhaft war, erscheint bereits aufgrund der Vorbringen des Berufungsklägers fraglich. Dieser führte selbst aus, es sei nichts Aussergewöhnliches, dass sich nur zwei Dielen auf dem Bockgerüst befunden hätten. Gemäss Sachverhaltsdarstellung der Berufungsbeklagten habe einer ihrer Hilfsarbeiter zwei Dielen vom Bockgerüst weggenommen. Dabei habe sich eine der übrig gebliebenen Dielen leicht über die andere geschoben, so dass das Brett abgekippt sei, als der Berufungskläger darauf gestanden sei. Selbst wenn von dieser Version ausgegangen wird, ist eine Haftung der Berufungsbeklagten aus folgenden Gründen zu verneinen:

aa) Ein Bockgerüst stellt entgegen einem Hauptgerüst ein blosses Provisorium dar, welches in erster Linie dem Handwerker dient, welcher es erstellte. Ein Bockgerüst ist nicht Teil des Hauptgerüstes. Es fällt schon deshalb mangels erreichbarer Stabilität nicht unter die Verordnung über die Verhütung von Unfällen bei Bauarbeiten (SR 832.311.141). Vielmehr stellt ein Bockgerüst ein Provisorium dar, welches mit kleinem Aufwand rasch verschoben werden kann. Die Dielen werden lediglich auf die Böcke gelegt und - im Gegensatz beispielsweise zu einem Fassadengerüst - nicht fixiert; sie können demnach ohne weiteres verschoben oder weggenommen werden. Wie bereits die von den Parteien ins Recht gelegten Fotografien belegen, ist ein solches Bockgerüst nur relativ stabil. Es erscheint daher generell fraglich, ob die Auffassung des Berufungsklägers zutrifft, er bzw. jeder Dritte habe sich jederzeit auf die Betriebssicherheit des fraglichen Bockgerüsts verlassen dürfen. Nicht nur der Bauerfahrene, sondern auch der Laie wird in der Regel aufgrund allgemeiner Erfahrung nicht von der Stabilität, sondern eher von der Instabilität eines solchen Gerüsts ausgehen und dessen Stabilität daher vor dem Besteigen prüfen.

bb) Dies gilt insbesondere dann, wenn das Bockgerüst - wie im vorliegenden Fall - nicht ohne weiteres zugänglich ist. Der Berufungskläger macht selbst geltend, das Bockgerüst sei höher als 2 m gewesen. Es konnte somit ohne zusätzliche Hilfe, etwa einer Leiter, gar nicht bestiegen werden. Es ist unbestritten, dass zum Zeitpunkt, als der Berufungskläger das Bockgerüst bestieg, keine Leiter am Gerüst angelehnt oder eine andere Hilfe vorhanden war, die das Besteigen des Gerüsts ohne weiteres möglich gemacht hätte. Vielmehr musste der Berufungskläger zuerst eine Leiter holen und diese an das Gerüst anlehnen, bevor er es betreten konnte. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Leiter rund 20 m entfernt vom Gerüst deponiert war oder sich lediglich "gleich um die Ecke", rund 2 m vom Bockgerüst entfernt, befunden hatte. Tatsache ist, dass jedenfalls keine Leiter an das Gerüst angelehnt oder direkt beim Gerüst deponiert war. Mithin war das Bockgerüst weder für den Berufungskläger noch für Dritte jederzeit frei zugänglich. Offensichtlich nahm die Berufungsbeklagte denn auch an, dass niemand mehr das Gerüst benutzen würde, wie aus der von den Parteien unterzeichneten Darstellung des Unfallhergangs hervorgeht. Es kommt hinzu, dass beim fraglichen Bockgerüst zwei der insgesamt vier Dielen fehlten, weil sie zuvor von einem Hilfsarbeiter der Berufungsbeklagten weggenommen worden waren. Auch wenn möglicherweise auf anderen Baustellen - wie dies der Berufungskläger behauptet - bei den fraglichen Bockgerüsten lediglich zwei Dielen verwendet wurden, steht aufgrund der von der Berufungsbeklagten bestätigten - und gemäss eigenen Angaben für den Berufungskläger verbindlichen - Darstellung des Unfallhergangs fest, dass das fragliche Bockgerüst auf der Unfallstelle jedenfalls bis kurz vor dem Unfall mit vier Dielen belegt war.

cc) Wenn somit vom fraglichen Bockgerüst bereits die Hälfte der vorher verwendeten Dielen entfernt war und keine Leiter an das Bockgerüst angelehnt war, durfte der Berufungskläger angesichts dieser Umstände gerade nicht von der Betriebssicherheit des Bockgerüsts ausgehen. Vielmehr musste er annehmen, dass derjenige, welcher das Bockgerüst aufgestellt hatte, nicht wollte, dass jemand das Gerüst bestieg, denn das Entfernen der Leiter ist das naheliegendste und sicherste Mittel, um das Besteigen des Bockgerüsts zu verhindern. Es kommt der Errichtung einer Abschrankung gleich, mit welcher das Betreten einer Baustelle verhindert werden soll. Wie beim Umgehen, Überklettern oder Entfernen der Baustellenabschrankung erfolgt das Erklimmen eines Gerüsts mit einer extra herbeigeholten Leiter auf eigene Gefahr, und derjenige, der die gesetzte Schranke missachtet, hat selbst alle Vorkehren zu treffen, um den möglicherweise lauernden Gefahren zu entgehen.

c) Zusammenfassend durfte der Berufungskläger aufgrund der Tatsache, dass gegenüber dem üblichen Zustand auf der konkreten Baustelle zwei der vier Dielen beim fraglichen Bockgerüst fehlten und insbesondere keine Leiter an das Gerüst angelehnt war, nicht von der Betriebssicherheit dieses Gerüsts ausgehen. Er machte schliesslich auch nie geltend, aufgrund einer Abrede zwischen den Parteien sei er berechtigt gewesen, das Gerüst jederzeit besteigen zu dürfen bzw. jederzeit von der Betriebssicherheit auszugehen.

Obergericht, 17. Oktober 1995, ZB 95 14


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