RBOG 1997 Nr. 27
Strafantrag als Voraussetzung für einen Vorschuss nach Opferhilfegesetz; Schadensbegriff
Art. 2 Abs. 1 aOHG, Art. 15 aOHG
1. X verlangt gestützt auf Art. 15 lit. a OHG einen Vorschuss. Ein solcher wird aufgrund einer summarischen Prüfung des Entschädigungsgesuchs nach Art. 11 ff. OHG gewährt, wenn das Opfer sofortige finanzielle Hilfe benötigt.
2. a) Sinn und Zweck des OHG ist es, den Opfern von Straftaten wirksame Hilfe zu leisten und ihre Rechtsstellung zu verbessern (Art. 1 Abs. 1 OHG). Die Hilfe umfasst Beratung, Schutz des Opfers und Wahrung seiner Rechte im Strafverfahren sowie Entschädigung und Genugtuung (Art. 1 Abs. 2 OHG). Beanspruchen kann sie jede Person, die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt worden ist, und zwar unabhängig davon, ob der Täter ermittelt wurde, und ob er sich schuldhaft verhalten hat (Art. 2 Abs. 1 OHG).
Voraussetzung dafür, dass das Opfer Hilfe im Sinn des OHG verlangen kann, ist somit die Beeinträchtigung seiner Integrität durch eine Straftat. Der Begriff der Straftat ist im Opferhilfegesetz grundsätzlich gleich wie im Strafgesetzbuch definiert. Man versteht darunter ein tatbestandsmässiges und rechtswidriges Verhalten. Nicht erforderlich ist hingegen einerseits die schuldhafte Tatbegehung und andererseits die Ermittlung des Täters. Denkbar ist zum Beispiel, dass er zurechnungsunfähig oder strafunmündig ist; dies vermag die Opferrechte nicht einzuschränken. Die Tatsache, dass der Täter nicht ermittelt zu sein braucht, bedeutet ferner auch, dass dem Opfer keine Verpflichtung zur Einreichung einer Strafanzeige als Voraussetzung für seine Anerkennung als Opfer im Sinn des Gesetzes auferlegt werden darf (Gomm/Stein/Zehntner, Kommentar zum Opferhilfegesetz, Bern 1995, Art. 2 N 18). Dies kann jedoch nicht bedeuten, dass einer Person bei einem Antragsdelikt auch dann Opferqualität zukommt, wenn sie keinen Strafantrag stellt. Wird vom Strafgesetzbuch als Prozessvoraussetzung für die Durchführung eines Strafverfahrens ein Strafantrag verlangt, muss das Opfer in diesem Sinn tätig werden, d.h. durch eigene Willenserklärung überhaupt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ein Strafverfahren angehoben wird. Wer selber bewusst die Durchführung eines solchen vereitelt, hat keinen Anspruch auf eine Entschädigung oder Genugtuung im Sinn von Art. 11 ff. OHG. Weil derartige Leistungen von einem Strafverfahren abhängig sind, was zumindest eine Strafuntersuchung voraussetzt, liegt die Zuständigkeit für die Beurteilung von Entschädigungs- und Genugtuungsansprüchen denn auch beim Strafrichter (§ 10a Abs. 1 StPO).
b) Über den Vorschuss nach Art. 15 OHG entscheidet der Bezirksgerichtspräsident aufgrund einer summarischen Prüfung des Entschädigungsgesuchs. Fehlt es von vornherein an den Voraussetzungen für eine Entschädigung oder Genugtuung, kann somit kein Vorschuss ausgerichtet werden. Ein Vorschuss setzt ebenfalls eine Straftat nach Strafgesetzbuch und - sofern kein Offizialdelikt vorliegt - einen Strafantrag des Opfers voraus. Aus der Tatsache, dass es sich um einen Vorschuss handelt, ergibt sich nämlich einerseits, dass dieser später auf den Gesamtentschädigungsanspruch angerechnet wird, und andererseits, dass er vom Opfer zurückgefordert werden kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistung einer Entschädigung nicht gegeben sind (Gomm/Stein/ Zehntner, Art. 15 OHG N 6). Ist letzteres schon aufgrund der summarischen Prüfung des Entschädigungsbegehrens im Rahmen des Gesuchs um einen Vorschuss klar, ist bereits das dahingehende Begehren abzuweisen.
c) Die Entschädigung des Opfers richtet sich nach dem Schaden und dem Einkommen des Opfers (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 OHG). Gestützt auf den Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 OHG - Voraussetzung für die Anwendbarkeit des OHG ist das Vorliegen einer Straftat, welche das Opfer in seiner körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität unmittelbar beeinträchtigt hat - fallen Körperschaden und reiner Versorgerschaden unter den Schadensbegriff von Art. 13 OHG. Wer jedoch ausschliesslich Sachschaden erlitten hat (z.B. Brandstiftung mit Verlust einer Liegenschaft, Raub mit Diebstahl einer Geldsumme), hat keinen Anspruch nach OHG, sofern er nicht gleichzeitig verletzt worden ist. Ebenso bleibt reiner Vermögensschaden bei der Bestimmung des Schadens ausser Betracht (Gomm/Stein/Zehntner, Art. 13 OHG N 4 ff., 8).
3. a) X begründet ihr Gesuch um Vorschuss bzw. Entschädigung folgendermassen: Sie sei von ihrem langjährigen Lebenspartner Y infolge einer verbalen Auseinandersetzung wegen seines fragwürdigen Lebenswandels schwer misshandelt worden. Er habe sie ins Gesicht geschlagen und ihr den Arm umgedreht, bis die Knochen hörbar gesplittert hätten. Der Bruch habe operiert werden müssen. Sie sei monatelang arbeitsunfähig gewesen und habe noch heute zeitweise grosse Schmerzen. Sie müsse sich einer weiteren Operation unterziehen. Bereits vor eineinhalb Jahren sei sie von ihrem Partner aufs schwerste misshandelt worden; sie habe aber damals keine schwereren Verletzungen davongetragen und keiner ärztlichen Hilfe bedurft. Sie habe sich nun bei der Beratungsstelle Opferhilfe gemeldet und werde zwischenzeitlich auch anwaltlich vertreten sowie psychologisch betreut. Ihr Wunsch sei es gewesen, ihren Lebenspartner zu verlassen; sie habe aber nicht die Kraft dazu gehabt. Grund hiefür sei nicht zuletzt auch, dass ihre neu aufgebaute Existenz als Pferdezüchterin und Reitlehrerin eng mit der derzeitigen Wohnsituation zusammenhänge. Auf dem mit Y gemeinsam renovierten Bauernhof, dessen Elternhaus, halte sie eigene Reitpferde. In den Umbau von Haus und Stall habe sie viel Arbeit sowie ihr persönlich gespartes Geld investiert. In den vergangenen Wochen habe sie nun (heimlich) ihren Auszug geplant und vorbereitet. Sie habe aber kein eigenes Einkommen und könne entsprechend den Mietzins und die Kaution, den Umzug und den Lebensunterhalt nicht selber finanzieren. Sie benötige Fr. 7'470.--. Diese Summe setze sich aus dem Mietzins für Juli und August 1997, der Mietzinskaution, den Umzugskosten, den Pensionskosten für die Pferde in den Monaten Juli und August und ihren eigenen Unterhaltskosten zusammen.
b) X ist 44 Jahre alt. Seit vielen Jahren lebt sie mit Y zusammen. Die Beziehung muss nach ihren Schilderungen äusserst problematisch gewesen sein. Sie macht geltend, ihr (früherer) Lebenspartner habe sie jahrelang misshandelt. Diese Art der Demütigungen waren offenbar psychischer Art: X weist darauf hin, Y mache seit Jahren Schulden, bemühe sich monatelang nicht ernsthaft um eine Arbeitsstelle, bleibe nächtelang weg, pflege Kontakte zu Kollegen, welche in dubiose Geschäfte verwickelt seien, und leihe diesen auch nie wieder erhältlich zu machendes Geld. Während des Zusammenlebens kam es ferner zweimal zu tätlichen Auseinandersetzungen. Während diejenigen, welche sich vor eineinhalb Jahren ereignet hatten, wenigstens keine gravierenden Verletzungen zur Folge hatten, musste sich X im Frühling 1997 drei Tage in Spitalpflege begeben: Y hatte sie im Streit mehrfach auf den linken Arm - und offenbar auch in das Gesicht - geschlagen. Im Spital wurden eine distale, dislozierte Ulnaparierfraktur links und zwei kleine Hämatome am Oberarm lateral diagnostiziert. Der Bruch machte eine Operation notwendig; tags danach konnte X in gutem allgemeinem Zustand und mit reizlosen Wundverhältnissen nach Hause entlassen werden.
c) X kehrte nach dem Spitalaufenthalt zu Y zurück. Dies wird ihr keineswegs zum Vorwurf gemacht, sondern ist vielmehr nachvollziehbar: Ohne Vorbereitung konnte (und wollte) sie nicht aus dem während Jahren gemeinsam mit ihrem Lebenspartner bewohnten Bauernhof ausziehen; daran hinderten sie insbesondere auch ihre vier Pferde. Nicht folgenlos bleiben kann jedoch ihr Entschluss, keinen Strafantrag zu stellen. Sie selbst begründet dies damit, sie sei "in ihrem Leben bedroht gewesen" und habe auch den dringenden Wunsch, die Vergangenheit vergessen zu können. Des weitern macht sie aber auch geltend, Y habe sich nicht eines Antrags-, sondern eines Offizialdelikts schuldig gemacht, so dass es gar keines ihrerseitigen Strafantrags bedurft habe. Dies trifft indessen nicht zu. Im strafrechtlichen Sinn erlitt sie nicht eine schwere, sondern eine einfache Körperverletzung nach Art. 123 Ziff. 1 StGB. Als solche gelten namentlich das "Zufügen äusserer oder innerer Verletzungen und Schädigungen, wie unkomplizierter, verhältnismässig rasch und problemlos völlig ausheilender Knochenbrüche oder Hirnerschütterungen, durch Schläge, Stösse und dergleichen hervorgerufene Quetschungen, Schürfungen, Kratzwunden, ausser wenn sie keine weiteren Folgen haben als eine vorübergehende harmlose Störung des Wohlbefindens. Wo indessen die auch bloss vorübergehende Störung einem krankhaften Zustand gleichkommt (z.B. Zufügen von erheblichen Schmerzen, Herbeiführen eines Nervenschocks, Versetzen in einen Rausch- oder Betäubungszustand), ist eine einfache Körperverletzung gegeben" (Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Zürich 1989, Art. 123 N 2). Im Spitalbericht wurde der Verlauf des chirurgischen Leidens von X als problemlos bezeichnet, eine radiologische Nachkontrolle nach sechs Wochen mit Entscheid über die Freigabe der Belastung der Fraktur, eine funktionelle Nachbehandlung und schliesslich eine Metallentfernung nach acht bis zwölf Monaten vorgeschlagen. Dass im Heilungsverlauf Komplikationen aufgetreten sind, geht aus den eingereichten Unterlagen nicht hervor und wird von X auch nicht geltend gemacht. Sie erlitt somit einen wohl bedauerlichen, so aber doch nicht gravierenden Knochenbruch. Dieser stellt eine einfache Körperverletzung dar und wird nur auf Antrag bestraft (Art. 123 Ziff. 1 StGB).
Stellt ein verpöntes Verhalten ein Antragsdelikt dar, wird ersteres - im rechtlichen Sinn - erst zu einer Straftat, wenn es den Behörden gemeldet wurde. Die Tatsache, dass X darauf verzichtete, die Straftat anzuzeigen, hat zur Folge, dass sie nun keine Ansprüche und damit auch keinen Vorschuss nach OHG geltend machen kann. Die Antragsfrist beläuft sich auf immerhin drei Monate (Art. 29 StGB). Es hätte somit von X keineswegs verlangt werden müssen, dass sie sofort nach ihrer Rückkehr zu Y dessen Bestrafung beantragt hätte; dies wäre ihr vielmehr auch noch in einem späteren Zeitpunkt, nämlich während weiteren rund 11 Wochen, möglich gewesen. Kurze Zeit nach ihrer Heimkehr suchte sie die Beratungsstelle Opferhilfe auf; wiederum etwas später liess sie sich zusätzlich anwaltlich und psychologisch beraten resp. betreuen. Wenn sie sich in den 12 Wochen seit ihrem Armbruch trotz ihrer klaren Absicht, sich von ihrem Partner zu trennen, gegen einen Strafantrag entschied, verzichtete sie implizit darauf, sein Verhalten als Straftat zu qualifizieren, was gleichzeitig aber auch zur Folge hat, dass nunmehr davon auszugehen ist, es liege keine Straftat im Sinn des OHG vor, und es fehle deshalb auch an einem Opfer im Sinn des OHG. Unter diesen Umständen kann X aber kein Vorschuss nach Art. 15 lit. a OHG zugesprochen werden.
4. Selbst wenn jedoch ein Strafantrag vorläge und X als Opfer einer Straftat Anspruch auf wirksame Hilfe hätte, könnte ihr der verlangte Vorschuss nicht zugesprochen werden. Die Positionen, für welche sie den Vorschuss verlangt, fallen nicht unter den massgebenden Schadensbegriff. Sie macht weder Verdienstausfall noch Heilbehandlungs- oder Krankenhauskosten geltend. Ebensowenig handelt es sich um die unmittelbare Folge eines erschwerten wirtschaftlichen Fortkommens im haftpflichtrechtlichen Sinn. Die Auslagen, mit welchen sie ihr Gesuch um Vorschussleistung begründet, sind nicht primäre Folgen der durch ihren Freund erlittenen Körperverletzung, sondern Konsequenzen der Auflösung dieser Beziehung. X verlangt die Vergütung des Mietzinses für ihre neu gemietete Wohnung, der Mietkaution, der Umzugskosten, der Pensionskosten für ihre Pferde sowie einen Beitrag an ihre Lebenshaltungskosten. Dass für die Mietkaution und die Unterbringung der Pferde gestützt auf das OHG kein Vorschuss gewährt werden kann, stellte bereits die Vorinstanz fest. Gleiches gilt jedoch auch für die übrigen Positionen. Die Auslagen, welche X nun unbestrittenermassen hat, sind einzig durch die Loslösung von ihrem Freund verursacht und bloss lockere Folge der vorgeworfenen Straftat. Der "Schaden", der einer Partei wegen Beendigung einer Beziehung entsteht, kann indessen nicht mit Hilfe des OHG auf die Staatskasse überwälzt werden; ebensowenig hat letztere - mittels des OHG - einzuspringen, wenn Freunde und Verwandte nicht mehr zur Unterstützung herangezogen werden können oder wollen. Verfügt X über keine Ersparnisse und erzielt auch keinen Verdienst - die im Recht liegenden Akten belegen nicht, dass die angebliche Arbeitsunfähigkeit auch noch im Sommer 1997 eine Folge des Armbruchs war -, muss sie sich zwecks Beschaffung der für die Deckung des Notbedarfs erforderlichen Mittel an die Sozialhilfe wenden; Mietzinse, Umzugskosten und den eigenen Notbedarf kann sie nicht auf dem von ihr eingeschlagenen Weg erhältlich machen. Die Auslagen, für welche X einen Vorschuss beantragt, stellen keinen Schaden dar, für welchen sie in irgendeiner Weise nach OHG eine Entschädigung geltend machen könnte. Als Folge davon hat sie auch keinen Anspruch auf den verlangten Vorschuss.
Rekurskommission, 18. September 1997, ZR 97 80