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RBOG 1997 Nr. 42

Die Rechtskraft erstreckt sich auch auf die vom Beklagten erhobene Verrechnungseinrede, soweit sie materiell beurteilt wurde


§ 112 ZPO


1. Die Vorinstanz wies die Widerklage der Berufungskläger mit der Begründung ab, es liege eine abgeurteilte Sache vor; die Berufungskläger hätten ihre Ansprüche bereits in einem früheren Verfahren vor Bezirksgericht verrechnungsweise geltend gemacht. Dagegen wenden die Berufungskläger ein, es habe im damaligen Prozess an der Gegenseitigkeit der zu verrechnenden Forderungen gefehlt; erst die Einleitung der Widerklage lasse eine materiell-rechtliche Beurteilung der erhobenen Ansprüche zu.

2. Eine abgeurteilte Sache liegt vor, wenn der streitige Anspruch mit einem schon rechtskräftig beurteilten identisch ist. Dies trifft zu, wenn der Anspruch dem Richter aus demselben Rechtsgrund und gestützt auf denselben Sachverhalt erneut zur Beurteilung unterbreitet wird (BGE 123 III 18, 121 III 477). Die Rechtskraftwirkung tritt demzufolge nur soweit ein, als über den geltend gemachten Anspruch entschieden wurde. Inwieweit dies der Fall ist, ergibt die Auslegung des Urteils, zu welcher sein ganzer Inhalt heranzuziehen ist. Zwar erwächst der Entscheid nur in jener Form in Rechtskraft, wie er im Urteilsdispositiv zum Ausdruck kommt, doch ergibt sich seine Tragweite häufig erst aus dem Beizug der Urteilsmotive, gerade etwa im Fall der Klageabweisung (BGE 123 III 18, 121 III 478; Leuch/Marbach/Kellerhals, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 4.A., Art. 192 N 12c/aa).

3. a) Der Begriff der Anspruchsidentität ist nicht grammatikalisch, sondern inhaltlich zu verstehen. Er wird durch die mit dem Begehren des abgeschlossenen Verfahrens insgesamt erfassten und beurteilten Rechtsbehauptungen bestimmt; entscheidend ist, was im Vorprozess beurteilt wurde und nunmehr tatbeständlich vorgetragen wird (Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A., § 191 N 8; RBOG 1991 Nr. 25). Der neue Anspruch ist trotz abweichender Umschreibung vom beurteilten nicht verschieden, wenn er in jenem bereits enthalten war, das kontradiktorische Gegenteil zur Beurteilung unterbreitet wird oder die im ersten Prozess beurteilte Hauptfrage für Vorfragen des zweiten Prozesses von präjudizieller Bedeutung ist (Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4.A., 8. Kap., N 67 ff.; Leuch/ Marbach/Kellerhals, Art. 192 ZPO N 12c/cc; Frank/Sträuli/Messmer, § 191 ZPO N 5 ff.; BGE 121 III 478), wobei es im letzten Fall keinen Unterschied macht, ob das bereits Beurteilte im zweiten Prozess den Prozessgegenstand oder bloss eine Vorfrage bildet (vgl. Beglinger, Rechtskraft und Rechtskraftdurchbrechung im Zivilprozess, in: ZBJV 133, 1997, S. 611 Anm. 114). Andererseits sind Rechtsbehauptungen trotz gleichen Wortlauts nicht identisch, wenn sie nicht auf dem gleichen Entstehungsgrund, d.h. auf denselben Tatsachen und rechtlichen Umständen, beruhen (BGE 121 III 478). In diesem Sinn liegt keine Identität der Ansprüche vor, wenn nach Rechtskraft des früheren Urteils neue Tatsachen eintraten, die das Erlöschen der festgestellten Rechtsfolge (z.B. wegen Tilgung) herbeiführten oder einen abgewiesenen Anspruch erst nachträglich (z.B. wegen Eintritts der Fälligkeit) entstehen liessen (Frank/Sträuli/Messmer, § 191 ZPO N 8). Umgekehrt ändern Tatsachen, welche zur Zeit des früheren Urteils bereits eingetreten waren, aber nicht vorgebracht wurden, obgleich dies möglich gewesen wäre, an der Identität der späteren Klage nichts. Ebenfalls belanglos bleibt, ob für rechtserhebliche Vorbringen, die im früheren Prozess unbewiesen blieben, nunmehr Beweis erbracht werden kann; diesbezüglich ist die Wiederholung der Klage - bei gegebenen Voraussetzungen - höchstens mittels Revision möglich (§§ 245 ff. ZPO; vgl. Frank/ Sträuli/Messmer, § 191 ZPO N 10; Beglinger, S. 618 ff.).

b) Nicht zur Urteilsformel gehören die tatsächlichen Feststellungen im Entscheid und die rechtlichen Erwägungen; sie sind der Rechtskraft nicht fähig und entfalten in anderer Streitsache keine bindende Wirkung (BGE 121 III 478). Ebenfalls nicht rechtskräftig werden bloss einredeweise geltend gemachte Gegenrechte (Leuch/Marbach/Kellerhals, Art. 192 ZPO N 12c/aa); von dieser Regel ausgenommen bleibt aber das Gegenrecht der Verrechnung. Erhebt der Beklagte gegenüber der Forderung des Klägers einredeweise die Verrechnung (Art. 124 OR), erstreckt sich die Rechtskraft des Urteils auch auf den Entscheid über den zur Kompensation gestellten Anspruch, wenn sich das Gericht mit der Einrede des Beklagten materiell auseinandersetzte und die Klage infolge der begründeten Verrechnungserklärung abgewiesen wurde. Sind diese Bedingungen erfüllt, erfasst die Rechtskraft des die Klage abweisenden Urteils auch die einredeweise erhobene Gegenforderung bis zum Betrag, der für die Tilgung des eingeklagten Anspruchs erforderlich war; über ihren Bestand und Untergang durch Verrechnung ist insoweit endgültig entschieden (Leuch/Marbach/Kellerhals, Art. 192 ZPO N 12c/aa; Frank/Sträuli/Messmer, § 191 ZPO N 14).

c) Ob indessen dasselbe auch gilt, wenn die Verrechnungseinrede erfolglos blieb, wird beim Fehlen einer kantonalen Regelung - wie dies für das thurgauische Prozessrecht der Fall ist - nicht durchwegs einheitlich beantwortet. Namentlich die Kommentatoren Frank/Sträuli/Messmer (§ 191 ZPO N 14) sowie auch Guldener (Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3.A., S. 370) stellen sich auf den Standpunkt, bei Verneinung der Gegenforderung könne keine abgeurteilte Sache angenommen werden. Mit Habscheid (Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2.A., N 496 f.) ist aber nicht ersichtlich, worin in bezug auf die Rechtskraftwirkung ein Unterschied zwischen der Zulassung der Verrechnungsforderung einerseits und deren Abweisung andererseits bestehen soll. Eine differenzierte Betrachtung mag gegebenenfalls angezeigt sein, wenn im Vorprozess einzig die Zulässigkeit oder Wirksamkeit der Verrechnungserklärung zur Diskussion stand und der Gegenanspruch alsdann aus diesem Grund abgewiesen wurde; in solchen Fällen kann es sich tatsächlich rechtfertigen, die Gegenforderung (nochmals) neu zu erheben (Walder, Zivilprozessrecht, 4.A., § 26 N 25). Wo aber über den vom Beklagten einredeweise erhobenen Verrechnungsanspruch materiell entschieden und dessen Bestehen verneint wurde, erstreckt sich die Rechtskraft des Urteils auch auf die Verrechnungsfrage, womit die neuerliche Erhebung derselben Forderung durch den Beklagten ausgeschlossen bleibt. In diesem Sinn ist der Auffassung von Leuch/Marbach/ Kellerhals (Art. 192 ZPO N 12c/aa) beizupflichten, wonach mit dem Urteil über das Klagebegehren gleichzeitig auch über das Nichtbestehen des zur Kompensation gestellten Gegenanspruchs - im Umfang der erhobenen Einrede - rechtskräftig entschieden ist (vgl. Studer/Rüegg/Eiholzer, Der Luzerner Zivilprozess, Luzern 1994, § 202 N 3; BJM 1993 S. 81 ff.). Diese Autoren weisen auch darauf hin, das Bundesgericht habe in früheren Entscheiden (BGE 23 II 781 und 24 II 601) die Ausdehnung der Rechtskraft auf die zur Verrechnung gestellte Gegenforderung als selbstverständlich angenommen, ohne sich damals oder später mit der Frage einlässlich auseinanderzusetzen.

d) Bezüglich der Verrechnungseinrede gilt somit für das thurgauische Prozessrecht der Grundsatz, dass die Rechtskraft des Urteils auch den materiell beurteilten Gegenanspruch erfasst, ungeachtet dessen, ob er für begründet oder unbegründet erklärt wurde.

Obergericht, 14. Oktober 1997, ZB 97 50


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