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RBOG 1998 Nr. 34

Der Freigesprochene, der durch verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten begründeten Anlass zum Strafverfahren gab, hat gegenüber dem Staat keinen Anspruch auf Schadenersatz und Genugtuung


§ 65 Abs. 2 StPO


1. Die Anklagekammer verweigerte dem Beschwerdeführer, der vom Vorwurf der ungetreuen Geschäftsführung und verschiedener Urkundendelikte freigesprochen worden war, die Zusprache einer Entschädigung und Genugtuung. Dagegen erhob er Beschwerde. Er leide gesundheitlich an den Folgen der Strafuntersuchung; der Erwerbsausfall bis zu seiner Pensionierung sei erheblich.

2. a) Die Vorinstanz führte aus, die neuere Rechtsprechung tendiere dazu, in Analogie zur Kostenauflage bei Freispruch, Aufhebung oder Einstellung des Verfahrens (§ 58 Abs. 1 StPO) die Schadenersatzpflicht des Staats immer dann anzunehmen, wenn der Angeschuldigte nicht durch ein unter rechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares Verhalten die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst oder dessen Durchführung erschwert habe (Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, Bern 1994, S. 592 mit Hinweis auf BGE 116 Ia 168, 112 Ib 456). Daraus folgert der Beschwerdeführer unter Berufung auf Schmid (Strafprozessrecht, 3.A., N 1218), wo trotz Freispruchs keine begründete Kostenauflage erfolgt sei, bleibe für eine grundsätzliche Abweisung von Entschädigungsbegehren nach § 65 StPO kaum noch Raum.

b) Keinen Anspruch auf Entschädigung hat nach § 65 Abs. 2 StPO, wer durch leichtfertiges oder verwerfliches Handeln begründeten Anlass zum Strafverfahren gab. Nach der Rechtsprechung wird eine qualifiziert schuldhafte Handlungsweise verlangt. Nicht jedes Vergehen genügt als leichtfertiges Verhalten; in der Regel verschuldete der Gesuchsteller grobfahrlässig den Verdacht auf strafbare Handlungen (vgl. RBOG 1976 Nr. 35; Entscheid der Rekurskommission, R 46, vom 5. März 1990, S. 9 f.). Verwerflich und leichtfertig ist eine an sich nicht rechtswidrige Handlung auch dann, wenn sie gegen Treu und Glauben oder gegen Sitte und Anstand verstösst und auf der Grenze zwischen strafbarer Handlung und Immoralität liegt, wenn der Verstoss mit Wissen und Willen oder aus grober Nachlässigkeit begangen wurde (Entscheid der Rekurskommission, R 71, vom 25. April 1980, S. 7); der Unterschied zwischen Leichtfertigkeit und Verwerflichkeit ist dabei lediglich quantitativer und nicht qualitativer Art (Entscheid der Rekurskommission, R 76, vom 24. April 1989, S. 6).

Die Kostenauflage trotz Freispruchs oder Verfahrenseinstellung gemäss § 58 Abs. 1 StPO und der Verlust des Entschädigungsanspruchs nach § 65 Abs. 2 StPO hängen insofern zusammen, als bei Bejahung einer Kostenpflicht wegen Verletzung gesetzlicher Pflichten ein Anspruch auf Entschädigung gemäss § 65 StPO entfallen muss: Die Missachtung gesetzlicher Pflichten beruht wohl immer auf einem leichtfertigen oder verwerflichen Handeln. Umgekehrt führt der Verzicht auf Kosten bei Freispruch oder Verfahrenseinstellung indessen nicht zwingend zur Bejahung des Entschädigungsanspruchs: Zwar darf die freigesprochene Person wegen der Unschuldsvermutung bzw. dem daraus abgeleiteten Verbot der Vorverurteilung (Art. 6 Ziff. 2 EMRK) nur zur Kostentragung verpflichtet werden, wenn sie durch ein unter (zivil-)rechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares Verhalten das Strafverfahren verursachte (vgl. Bigler-Eggenberger, Überinterpretation der Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK? in: recht 1995 S. 24); bloss ethische oder moralische Gesichtspunkte und auch Überlegungen nach Recht und Billigkeit (Art. 4 ZGB) genügen daher nicht (BGE 116 Ia 162 ff.; Bigler-Eggenberger, S. 21, 24). Dies bringt bereits § 58 Abs. 1 StPO deutlich zum Ausdruck ("Verletzung gesetzlicher Pflichten"). Bei den verschiedenen (Teil-)Revisionen der StPO wurde indessen bewusst darauf verzichtet, § 65 Abs. 2 StPO dem Wortlaut von § 58 Abs. 1 StPO anzugleichen. Zudem beurteilt nicht der Strafrichter, sondern die richterliche Unabhängigkeit besitzende (§ 5 Abs. 3 StPO) Anklagekammer Entschädigungsbegehren; diese Behörde ist an einen allfälligen Verzicht des Strafrichters auf Kostenauflage nicht gebunden. Mithin steht die Entschädigung gemäss § 65 StPO nicht direkt in Zusammenhang mit der Kostenregelung. Schliesslich lässt sich ein Entschädigungsanspruch weder aus dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 4 BV) noch aus der Garantie der persönlichen Freiheit nach Art. 5 EMRK oder der Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK herleiten (Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 3.A., § 109 N 2 mit Hinweisen; vgl. Pra 87, 1998, Nr. 78 S. 482 ff.). Der Kanton ist daher weiterhin frei, die Voraussetzungen für die als Staatshaftung ausgestaltete Entschädigung nach § 65 StPO zu umschreiben und den verwendeten Begriffen "Leichtfertigkeit" und "Verwerflichkeit" auch eine ethische und moralische Bedeutung beizumessen.

c) Der Beschwerdeführer gesteht selbst zu, er hätte zumindest das Kassenmanko seinen Arbeitgebern melden müssen. Indem er dies nicht sofort getan habe, sondern darauf gehofft habe, den Fehler selber herauszufinden und beheben zu können, habe er seine arbeitsrechtlichen Pflichten verletzt. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers war dieses Verhalten nicht bloss "nicht ganz regelkonform und somit nicht korrekt, aber immerhin nachvollziehbar und auf jeden Fall nicht verwerflich bzw. leichtfertig". Vielmehr überstieg dieses Verhalten die Grenze der Leichtfertigkeit erheblich: Wer seinem Arbeitgeber wegen "Angstgefühlen" einen Fehlbetrag von beinahe Fr. 150'000.-- nicht meldet, verletzt mehr als eine blosse "Obliegenheit"; eine solche Vorgehensweise muss als grobfahrlässig und damit verwerflich bezeichnet werden, umso mehr, als der Beschwerdeführer bereits früher mehrmals geringere Fehlbeträge auszuweisen hatte.

Aber auch unter dem Gesichtspunkt der zivilrechtlichen Vorwerfbarkeit muss ein Anspruch des Beschwerdeführers verneint werden. Allein die Verletzung der Meldepflicht (nicht der Verlust der Barmittel) stellte eine gravierende Pflichtverletzung und damit letztlich eine Gesetzesverletzung dar. Der Beschwerdeführer vermag denn auch nicht zu begründen, weshalb dies allein nicht genügen sollte, einen Entschädigungsanspruch zu verneinen.

Rekurskommission, 27. Juli 1998, SW 98 6


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