RBOG 1999 Nr. 24
Fristversäumnis des Anwalts
1. Der Rechtsvertreter der Berufungsklägerin versäumte die ihm zur Stellung der Berufungsanträge und zur Einreichung allfälliger Noven sowie zur Leistung eines Kostenvorschusses angesetzte Frist.
2. a) Die Berufungsklägerin macht geltend, sie selbst treffe kein Verschulden, doch seien gemäss ständiger Rechtsprechung die Fehler des Rechtsvertreters einer Partei gleich zu behandeln wie ihre eigenen Fehler. Diese thurgauische Regelung sei zu rigoros, und eine Ablehnung der Fristwiederherstellung verstosse als Gehörsverweigerung gegen Art. 4 BV und Art. 6 EMRK. In anderen Kantonen würden Fehler eines Rechtsvertreters der Partei nur zugerechnet, wenn die Partei bei der Auswahl ihres Rechtsvertreters unsorgfältig gewesen sei.
b) Unklar bleibt aufgrund dieser Vorbringen, inwieweit sich die Rechtsprechung im Kanton Thurgau von derjenigen in anderen Kantonen unterscheiden soll. Richtig ist nur, dass die Rechtsprechung unter den Kantonen in der Frage differiert, inwieweit das Verschulden einer Hilfsperson, insbesondere von Kanzleimitarbeitern eines Rechtsanwalts, dem Rechtsvertreter bzw. der Partei selbst angerechnet werden können. In diesem Punkt schliesst nach Auffassung einiger Kantone das Verschulden der Hilfsperson die Wiederherstellung der Frist nicht aus, sofern bei ihrer Wahl und Instruktion die nötige Sorgfalt angewendet wurde (Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3.A., S. 273 Anm. 43; Hauser/ Hauser, Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich, 3.A., S. 771), wobei allerdings festzuhalten ist, dass sich die in diesem Bereich tatsächlich strengere Rechtsprechung im Kanton Thurgau (RBOG 1993 Nr. 16, 1984 Nr. 13 und 1962 Nr. 10) mit derjenigen des Bundesgerichts deckt (BGE 114 Ib 70 ff. mit Hinweisen; Messmer/Imboden, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Zürich 1992, S. 26; Geiser/Münch, Prozessieren vor Bundesgericht, 2.A., S. 25). Dass indessen das Verschulden eines Rechtsvertreters der Partei selbst ohne weiteres angerechnet wird, gilt - soweit aufgrund eines kurzen Überblicks ersichtlich - in den meisten Kantonen (vgl. Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A., § 29 N 16; Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, 2.A., § 98 N 11; Leuch/Marbach/Kellerhals, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 4.A., Art. 288 N 6a; Stähelin/Sutter, Zivilprozessrecht nach den Gesetzen der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Zürich 1992, § 12 N 12; SGGVP 1989 Nr. 82 S. 174; Studer/Rüegg/Eiholzer, Der Luzerner Zivilprozess, Luzern 1994, § 91 N 3; SOG 1982 Nr. 31 für den Verwaltungsprozess; ARGVP 2/1990 Nr. 3183 S. 115 für den Strafprozess; Padrutt, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Graubünden, 2.A., Art. 65a N 3); ausserdem gilt die Regelung von Art. 35 OG in allen Kantonen, die selbst über keine entsprechende Regelung verfügen (Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 6.A., 9. Kap., N 104a mit Hinweis auf BGE 117 Ia 301).
c) Selbst wenn indessen zutreffen sollte, dass andere Kantone diesbezüglich eine andere Praxis verfolgen, besteht kein Grund, von der ständigen Rechtsprechung des Obergerichts zu diesem Punkt abzuweichen. Die vom Rechtsvertreter der Berufungsklägerin angestrebte Lösung vermöchte nicht zu befriedigen: Zum einen kann es nicht angehen, Handlungen eines Rechtsvertreters für die Partei nur dann gelten lassen zu wollen, wenn sie sich zu ihren Gunsten auswirken, nicht aber dann, wenn sich Fehler zu ihren Lasten auswirken können. Zum anderen mag ein Nachweis genügender Sorgfalt bei Auswahl und Instruktion einer Hilfsperson noch angehen, da es insoweit tatsächlich einen Unterschied macht, ob man mit der Spedition eines Briefes eine langjährige Anwaltssekretärin oder einen Landstreicher beauftragt, doch wird einer Partei kaum je mangelnde Sorgfalt bei der Auswahl eines zugelassenen Anwalts vorgeworfen werden können, da sie in der Regel seine Fähigkeiten nicht einzuschätzen vermag und aufgrund der behördlichen Zulassung in jedem Fall davon ausgehen kann, der Anwalt genüge den für den Berufsstand erforderlichen Minimalanforderungen.
Obergericht, 18. November 1999, ZBO.1999.76