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RBOG 1999 Nr. 28

Anfechtung einer Scheidungskonvention wegen Grundlagenirrtums nach formeller Rechtskraft des Scheidungsurteils


Art. 24 OR, Art. 111 (Art. 158 aZGB) ZGB, § 246 ZPO


1. X beantragte die Herabsetzung der in der Scheidungskonvention vereinbarten Unterhaltsrente gegenüber seiner geschiedenen Frau. In ihrem Urteil ging die Vorinstanz davon aus, X habe sich beim Abschluss der Konvention bezüglich der angenommenen Höhe seines zukünftigen Einkommens in einem Irrtum befunden. Mit der Begründung, X habe fahrlässig einer Regelung, deren Grundlagen für ihn mindestens zweifelhaft gewesen sein mussten, zugestimmt und entsprechende Einwendungen unterlassen, wurde der beantragten Kürzung der Rente im Abänderungsverfahren jedoch nur teilweise entsprochen.

2. a) Das Scheidungsrecht hat den Fall, dass sich eine Partei bei Abschluss der Konvention in einem Irrtum befunden hat, nicht geregelt; insoweit liegt eine Gesetzeslücke vor (Koller, Die Irrtumsanfechtung von Scheidungskonventionen; in: AJP 1995 S. 414). Gemäss herrschender Lehre und bundesgerichtlicher Rechtsprechung wird einer gerichtlich genehmigten Ehescheidungskonvention der Charakter als privatrechtlicher Vertrag abgesprochen; sie wird als Bestandteil des Urteils, an dessen Rechtskraft die Konvention teilnimmt, betrachtet (BGE 119 II 297 ff.; Koller, S. 412 f.). Infolgedessen wird für eine gemäss Art. 158 Ziff. 5 ZGB gerichtlich genehmigte Ehescheidungskonvention die zivilrechtliche Anfechtung ausgeschlossen. Dem Irrenden bleiben einzig die Anfechtungsmöglichkeiten des kantonalen Prozessrechts (BGE 119 II 297).

Gemäss § 246 Ziff. 2 lit. b ZPO ist die Revision zulässig, wenn bei einem Erkenntnis, das aufgrund von Klageanerkennung, Klagerückzug oder Vergleich ergangen ist, nachgewiesen wird, dass die Parteierklärung zivilrechtlich unwirksam ist. Wird der Irrtum also nach der formellen Rechtskraft des Scheidungsurteils entdeckt, kann innerhalb von zehn Jahren seit der Eröffnung des Erkenntnisses und binnen drei Monaten seit Bekanntwerden des Revisionsgrundes das ausserordentliche Rechtsmittel der Revision ergriffen werden (vgl. RBOG 1994 Nr. 28). Somit hat gemäss dem thurgauischen Zivilprozessrecht die Partei, welche nach der formellen Rechtskraft des Scheidungsurteils beispielsweise geltend machen will, sie habe sich beim Abschluss der Konvention in einem Grundlagenirrtum befunden, die entsprechende Änderung des Entscheids mittels Revision zu verlangen.

b) Der Vertrag ist für denjenigen unverbindlich, der sich beim Abschluss in einem wesentlichen Irrtum befunden hat (Art. 23 OR). Der Irrtum ist wesentlich, wenn er einen bestimmten Sachverhalt betraf, der vom Irrenden nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr als eine notwendige Grundlage des Vertrags betrachtet wurde (Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR).

aa) Macht eine Partei geltend, sie habe sich beim Abschluss der Scheidungskonvention in einem Grundlagenirrtum im Sinn von Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR befunden, ist zu beachten, dass Art. 23 ff. OR nur analog anzuwenden sind. Für die Frage, was als Grundlagenirrtum anzusehen ist, kann weitgehend auf die im Schuldrecht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden, mit der Einschränkung, dass das in der Bestimmung erwähnte Moment des "Geschäftsverkehrs" keine Rolle spielt. Im Weiteren ist dem Vergleichscharakter der Scheidungskonvention Rechnung zu tragen, indem der Irrtum über einen zweifelhaften Sachverhalt ebenso wie auch derjenige über das Vorhandensein von Beweismitteln unbeachtlich bleibt (Koller, S. 416; BGE 117 II 226).

bb) Der Grundlagenirrtum ist ein Motivirrtum. Vom gewöhnlichen Motivirrtum unterscheidet er sich durch zwei qualifizierende Merkmale, die kumulativ erfüllt sein müssen: Einerseits musste der Irrende den irrtümlich vorgestellten Sachverhalt im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses als eine notwendige Grundlage des Vertrags betrachtet haben. Andererseits durfte der Irrende den vorgestellten Sachverhalt auch nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr als eine notwendige Grundlage des Vertrags betrachten (Schmidlin, Berner Kommentar, Art. 23/24 OR N 46, 50; Gauch/Schluep/Schmid/Rey, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Band I, 7.A., N 779, 783). Der Grundlagenirrtum kann sich auch auf künftige Sachverhalte beziehen, wobei er alsdann aber besonderen Anforderungen zu genügen hat. Da sich der Grundlagenirrtum auf einen bestimmten Sachverhalt bezieht, ist ein zukünftiger Sachverhalt nur dann "bestimmt", wenn er in bewusster Weise Gegenstand der vertraglichen Willensbildung ist. Die Parteien müssen sich konkrete Vorstellungen über diesen zukünftigen Sachverhalt gemacht haben. Künftige Ereignisse, an die niemand denken konnte und die überraschend auftreten, haben auf die vertragliche Willensbildung keinen Einfluss. Der allgemeine Lauf der Welt ist kein möglicher Gegenstand des vertraglichen Willens. Vielmehr müssen die Parteien einen bestimmten zukünftigen Sachverhalt irrtümlich als sicher angesehen haben (Schmidlin, Art. 23/24 OR N 199 ff.; vgl. BGE 109 II 110 f.). Nur wenn die eine Partei fälschlicherweise annahm, ein zukünftiges Ereignis sei sicher, und die andere Partei davon entweder auch überzeugt war oder - wenn sie sich der Unsicherheit bewusst war - nach Treu und Glauben hätte erkennen müssen, dass die Sicherheit für die andere Partei Vertragsvoraussetzung war, liegt ein Irrtum im Sinn von Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR vor. Es genügt somit nicht, dass die sich auf Irrtum berufende Partei von einer künftigen Entwicklung ausging, die sich nicht verwirklicht hat; sie muss sich vielmehr über die Sicherheit dieser Entwicklung geirrt haben (BGE 117 II 224). Das eigentliche Kriterium des Irrtums mit Bezug auf die Zukunft besteht daher in der Risikofreiheit, wobei die erforderliche Gewissheit des künftigen Ereignisses nicht absolut sein muss, sondern eine allgemein als sicher anzusehende Erwartung die Vorwegnahme des künftigen Ereignisses rechtfertigen kann (Schmidlin, Art. 23/24 OR N 205, 208). Ein Grundlagenirrtum liegt daher nur vor, wenn der künftige, bestimmte Sachverhalt als vorweggenommene risikofreie Gegenwart betrachtet und daher der vertragliche Abschlusswillen durch Gegenwartsvorstellungen bestimmt wird (Schmidlin, Art. 23/24 OR N 241).

cc) Liegt ein Vergleich vor, sind die Regeln über die Willensmängel anwendbar, sofern sie nicht seiner besonderen Natur widersprechen. Betrifft beispielsweise der Irrtum einen zweifelhaften Punkt, der durch den Vergleich geregelt wurde und nach dem Willen der Parteien dadurch gerade endgültig geregelt sein sollte ("caput controversum"), so ist die Irrtumsanfechtung ausgeschlossen, denn aus der Natur des Vergleichs ergibt sich, dass die nachträgliche Anfechtung wegen Irrtums über zur Zeit des Abschlusses bestrittene und ungewisse Punkte bei späterer Aufklärung darüber ausgeschlossen sein soll, da sonst gerade die Fragen wieder aufgerollt würden, derentwegen sich die Beteiligten verglichen haben. Die Unerheblichkeit derartiger Fehlvorstellungen kann jedoch oft auch damit begründet werden, dass es sich gar nicht um Irrtümer im Sinn von Art. 23 ff. OR handelte, sondern vielmehr um Fälle des Zweifels oder der Unkenntnis (Schmidlin, Art. 23/24 OR N 357 ff.; BGE 117 II 226).

dd) Der Grundlagenirrtum ist von der Geschäftsgrundlage abzugrenzen, wobei sich als Unterscheidungskriterium die Voraussehbarkeit des zukünftigen Ereignisses anbietet: Bei der richterlichen Vertragsanpassung wegen einer veränderten Geschäftsgrundlage geht es um einen Sachverhalt, dessen zukünftige Veränderungen beim Vertragsschluss nicht voraussehbar waren, und an den die Parteien auch gar nicht gedacht haben. Dieser Grundsatz der "clausula rebus sic stantibus" berührt die Vertragserfüllung. Er setzt einen gültigen Vertragsabschluss voraus, der an keinem Mangel leidet. Erst mit dem Eintritt der unvorhergesehenen Umstände gerät das Leistungsverhältnis in ein unbilliges Ungleichgewicht. Es wieder ins Gleichgewicht zu bringen, ist Sache des Richters, nicht der Parteien (Schmidlin, Art. 23/24 OR N 240 ff.). Um solche seit der rechtskräftigen Scheidung eingetretenen Veränderungen geltend machen zu können, sieht das Eherecht das Abänderungsverfahren gemäss Art. 153 ZGB vor, welches aber an den Umfang der veränderten Verhältnisse geringere Anforderungen als die Anwendung der "clausula rebus sic stantibus" stellt (vgl. Hausheer/Spycher/Kocher/Brunner, Handbuch des Unterhaltsrechts, Bern 1997, N 09.10).

3. Zusammenfassend hätte somit eine Reduktion der Rente gestützt auf den geltend gemachten Grundlagenirrtum im Abänderungsverfahren gar nicht erfolgen dürfen. Da die Berufungsinstanz jedoch an den Rahmen der Berufungsanträge gebunden und eine entsprechende Anschlussberufung nicht erhoben worden ist, bleibt es bei der Reduktion der Rente. Grundsätzlich ist zudem überhaupt fraglich, ob sich X damals in einem Grundlagenirrtum befunden hatte. Es genügt nicht, dass die sich auf Irrtum berufende Partei von einer künftigen Entwicklung ausging, die sich alsdann nicht verwirklicht hat. Vielmehr musste der künftige, bestimmte Sachverhalt als vorweggenommene risikofreie Gegenwart betrachtet und daher der vertragliche Abschlusswille durch Gegenwartsvorstellungen bestimmt worden sein. X bestritt, sich gegen die Annahme eines zukünftigen Einkommens von mindestens Fr. 60'000.-- nicht gewehrt zu haben. Ferner hatte er - aufgrund der massgeblichen Daten - im Zeitpunkt des Scheidungsurteils vom Schreiben des Thurgauer Bauernsekretariats Kenntnis, wonach die Annahme eines landwirtschaftlichen Einkommens von Fr. 60'000.-- als Basis für die Festlegung der Unterhaltszahlungen zu hoch sei. Somit befand sich X in keinem Grundlagenirrtum, da er starke Zweifel daran hegte, dass sich sein zukünftiges Einkommen in der Höhe von mindestens Fr. 60'000.-- bewegen werde. Sein Verhalten deutet vielmehr darauf hin, dass der zweifelhafte Punkt seines zukünftigen Einkommens eine Regelung erfahren und das Scheidungsverfahren zu einem Ende gebracht werden sollte.

Obergericht, 8. Juli 1999, ZBO.1999.11


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