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RBOG 1999 Nr. 3

Berücksichtigung tieferer Lebenshaltungskosten im Ausland bei der Bemessung von Genugtuungssummen


Art. 47 OR


I. EU-/EFTA-Staaten

Bei der Bemessung der Genugtuung ist nicht auf die konkreten Lebenshaltungskosten der berechtigten Personen abzustellen. Vielmehr ist die Geldsumme nach dem am Gerichtsstand geltenden Recht zu bemessen, ohne Rücksicht darauf, ob die klagende Person im In- oder Ausland lebt. Bei ausländischem Wohnsitz der berechtigten Personen gilt dies jedenfalls dann ohne Einschränkung, wenn sich die dortigen Lebensbedingungen nicht in einem Mass von denjenigen in der Schweiz unterscheiden, dass eine Grundlage für einen Vergleich praktisch fehlt, oder wenn der Berechtigte eine besondere Beziehung zur Schweiz hat, namentlich hier lebt und arbeitet oder als Angehöriger des Verletzten sich in der Schweiz niederlassen kann. Allfällige Unterschiede in den Lebenshaltungskosten zwischen der Schweiz und dem ausländischen Wohnort des Berechtigten rechtfertigen in diesen Fällen ebensowenig eine unterschiedliche Bemessung der Genugtuungssumme wie ungleiche Einkommens- oder Vermögensverhältnisse der Berechtigten (BGE 123 III 14). Die Lebenskosten am Wohnsitz der berechtigten Personen sind ausnahmsweise allerdings dann zu berücksichtigen, wenn der Ansprecher aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in seinem Wohnsitzland in krasser Weise besser gestellt würde (BGE 123 III 10, 15).

In dem BGE 123 III 12 ff. zugrundeliegenden Fall betrug der Kaufkraftunterschied rund das 20-fache; in China entsprach der Betrag von Fr. 100.-- einer sehr tiefen Rente und derjenige von Fr. 200.-- dem Monatslohn eines Angestellten in einer gutgehenden Fabrik. Die vom Bundesgericht in jenem Entscheid bestätigten Genugtuungssummen an die Eltern des Opfers von je Fr. 5'000.-- würden somit in China einem Betrag von je Fr. 100'000.-- entsprechen. Vor diesem Hintergrund ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass eine höhere Genugtuung zu einer krassen Besserstellung der in China lebenden Angehörigen des Opfers geführt hätte.

Auch ohne die Kaufkraftunterschiede in den europäischen Staaten näher zu beleuchten, kann indessen davon ausgegangen werden, dass innerhalb der Europäischen Union (EU) bzw. der Europäischen Freihandelszone (EFTA) zwar Preisunterschiede vorhanden sind; die Kaufkraftunterschiede sind aber nicht derart hoch, dass von einem krassen Missverhältnis mit Bezug auf einzelne Staaten gesprochen werden könnte. Dies gilt nicht nur für die mittel- und nordeuropäischen Staaten, sondern auch bezüglich der südlichen Länder wie Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland. Zwar liegen gerade in den südeuropäischen Ländern die Löhne und auch die Lebenshaltungskosten unbestrittenermassen tiefer als in der Schweiz oder den mittel- bzw. nordeuropäischen Staaten. Das Gefälle ist indessen nicht derart wie beispielsweise im Vergleich zu fernöstlichen oder afrikanischen Billigstlohnländern. Es kommt hinzu, dass seit dem Schengener Abkommen innerhalb der EU die Niederlassungsfreiheit gewährleistet ist, weshalb das Opfer - beispielsweise aus medizinischen Gründen - seinen Wohnsitz ohne weiteres von Portugal in ein anderes europäisches Land mit höherem Preisniveau verlegen könnte. Schliesslich ist in Rechnung zu stellen, dass gerade gewisse Luxusartikel, die sich das Opfer mit der ihm zugesprochenen Genugtuung anschaffen könnte, um sich den Schmerz erträglicher zu machen, in den südeuropäischen Ländern nicht oder nicht markant billiger sind. Entscheidend ist aber, dass angesichts der Preisniveauindizes 1994 (vgl. Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1999, Zürich 1998, S. 150) im Bereich Nahrungsmittel, Kleider, Heizung und Beleuchtung, alkoholische Getränke und individuelle Verkehrsmittel die Unterschiede zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich nicht oder nicht besonders gross sind. Erhebliche Unterschiede bestehen lediglich bei der Wohnungsmiete, den Gesundheitsdienstleistungen und den Post- und Telefontarifen.

Zusammenfassend kann innerhalb der zur EU bzw. zur EFTA gehörenden Staaten nicht von krassen Kaufkraftunterschieden ausgegangen werden. Lebt das Opfer bzw. dessen Angehörige somit in einem dieser Staaten, sind die im Wohnsitzland herrschenden, möglicherweise günstigeren Lebensbedingungen nicht zu berücksichtigen. Die Genugtuungsbeträge sind demnach so festzusetzen, wie wenn das Opfer und dessen Angehörige in der Schweiz leben würden.

Obergericht, 14. Januar 1999, SBO.1998.20

II. Serbien

Nach der Rechtsprechung des Obergerichts darf keine Kürzung von Genugtuungen erfolgen, soweit es sich bei den Begünstigten um Einwohner von EU- und EFTA-Staaten handelt, weil die Preisniveaus in diesen Staaten beim Endkonsum der privaten Haushalte und einem Schnitt von 100 lediglich von minimal 66 (Portugal) bis maximal 162 (Luxemburg) streuen. Für die Oststaaten kann diese Regel nicht gelten; zwar fehlen diesbezüglich entsprechende Zahlen, doch ist jedenfalls aufgrund der OECD-Vergleiche für Polen bekannt, dass das Preisniveau nicht einmal einen Viertel der schweizerischen Verhältnisse ausmacht (vgl. Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1999, S. 149/157). Für Serbien dürften die Verhältnisse letztlich noch schlechter liegen. Diesbezüglich hat die Vorinstanz im Übrigen auf die eigene Sachdarstellung der Geschädigten abgestellt, wonach durch das verstorbene Opfer ein erheblicher Teil ihrer Lebenshaltungskosten bestritten wurde; schon dadurch kann der markante Unterschied zu den hiesigen Lebenskosten als rechtsgenüglich nachgewiesen betrachtet werden. Insoweit erweist sich die Berufung als aussichtslos, so dass die Ernennung eines Offizialvertreters nicht in Betracht kommt (RBOG 1996 Nr. 37).

Präsident des Obergerichts, 15. September 1999, SBO.1999.25


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