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RBOG 2000 Nr. 24

Abgrenzung der "Gegenklage" von der Widerklage und der doppelseitigen Klage


§§ 88 f ZPO


In formeller Hinsicht nahm die Vorinstanz die Rechtsbegehren der Berufungsbeklagten unter Annahme einer echten Gesetzeslücke in der ZPO und unter Hinweis auf § 117 ZPO ZH als Widerklagebegehren entgegen, obwohl die Berufungsbeklagten ihre Rechtsbegehren erst nach Abschluss des Vermittlungsvorstands vom 11. November 1998 über die berufungsklägerischen Rechtsbegehren, nämlich an einem weiteren Vermittlungsvorstand vom 7. Januar 1999 zwischen den gleichen Parteien, jedoch nunmehr mit vertauschten Parteirollen, gestellt hatten, und die entsprechende Weisung erst am 2. Februar 1999 beim Bezirksgericht eingeschrieben wurde.

Für die Interpretation des Prozessrechts gelten die allgemeinen Regeln über die Gesetzesauslegung. Allfällige Lücken sind analog zu Art. 1 Abs. 2 ZGB durch richterliche Rechtsschöpfung zu füllen (Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. A., S. 52 f.; Meier-Hayoz, Berner Kommentar, Art. 1 ZGB N 72 ff.). Die im materiellen Zivilrecht für die Lückenfüllung entwickelten Grundsätze gelten analog für das Prozessrecht (Schüpbach, Traité de procédure civile, Bd. I, S. 182 ff.). Eine Lücke "praeter legem" liegt vor, wenn das Gesetz auf eine sich stellende Frage überhaupt jede Antwort schuldig bleibt (echte Lücke) oder eine Antwort gibt, die aber als sachlich unhaltbar angesehen werden muss (unechte Lücke; vgl. Meier-Hayoz, Art. 1 ZGB N 271; BGE 122 I 254 f.). Hier besteht indessen gar keine echte Gesetzeslücke, indem § 88 Abs. 2 letzter Satz ZPO es dem Gericht erlaubt, getrennt eingereichte Klagen zu vereinigen, wenn sich daraus Vorteile ergeben. Die Berufungsbeklagten beriefen sich denn auch in ihrer Klageschrift vom 26. Januar 1999 zur zeitlich zweiten Klage "namentlich" auf eben diese Bestimmung. Nachdem es in beiden Verfahren um die genau gleichen Parzellen und Dienstbarkeiten bei lediglich umgekehrten Parteirollen geht, sind die sich aus der Vereinigung der beiden Prozesse ergebenden Vorteile offensichtlich; auch der Berufungskläger war mit der Prozessvereinigung einverstanden. Zur Unterscheidung der Klage der Berufungsbeklagten von der eigentlichen Widerklage, welche nach thurgauischem Zivilprozessrecht seit jeher nur bis zum Schluss des Vermittlungsvorstands über die Hauptklage erhoben werden kann (§ 89 Abs. 2 ZPO, früher § 113 Abs. 2 aZPO), wird in der Praxis auch von "Gegenklage" gesprochen (RBOG 1963 Nr. 10 und 1945 Nr. 13). Die Gegenklage der Berufungsbeklagten stellt damit weder eine förmliche Widerklage dar noch ist sie eine doppelseitige Klage (actio duplex), wie das der Berufungskläger mutmasst. Bei letzteren geht es um Klagen, bei welchen nach der Natur des streitigen Rechtsverhältnisses auch der oder die Beklagten Anträge auf Zusprache ihres Anteils stellen können, ohne Widerklage zu erheben, wie etwa bei der güterrechtlichen Auseinandersetzung im Scheidungsprozess (BGE 95 II 67) oder bei der Erbteilungsklage (Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, 6. A., 7. Kap., N 48). Davon kann indessen im vorliegenden Prozess keine Rede sein. Wie die Vorinstanz bereits zutreffend feststellte, liegt zwar sowohl der Klage wie auch der Gegenklage der gleiche Lebenssachverhalt zugrunde; gleichfalls muss im Rahmen beider Begehren die Frage entschieden werden, ob das Fuss- und Fahrwegrecht von 1938 noch besteht, und dennoch verlangen beide Parteien Unterschiedliches: Der Berufungskläger die Wiederherstellung des Durchfahrtsrechts, die Berufungsbeklagten die Löschung des entsprechenden Grundbucheintrags. Damit geht es keineswegs um ein Rechtsverhältnis, bei dem die Beklagten "Anträge auf Zusprache ihres Anteils" stellen könnten. Ebenso wenig liegt Identität der Streitgegenstände vor. Schliesslich bejahte die Vorinstanz auch das Rechtsschutzinteresse der Beklagten bezüglich ihres Antrags auf Löschung des Fuss- und Fahrwegrechts von 1938 mit einlässlicher Begründung vollkommen zutreffend.

Obergericht, 30. November 1999, ZBO.1999.38


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