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RBOG 2001 Nr. 10

Das intime Verhältnis des Opfers zur Ehefrau des Täters ist nicht adäquat kausal zur späteren Tötung


Art. 12 Abs. 2 aOHG, Art. 44 Abs. 1 OR


1. Das Opfer und Frau X unterhielten zueinander eine intime Beziehung. Der Ehemann von X tötete seinen Nebenbuhler mit zwei Schüssen in den Kopf. Die Mutter des Opfers beantragte in der Folge gestützt auf das OHG eine Genugtuungssumme von Fr. 50'000.--. Die Vorinstanz sprach ihr eine Genugtuung von Fr. 5'000.-- zu, mit der Begründung, die zum Tod des Opfers führende Tat sei durch dessen Verhältnis zur Ehefrau des Täters motiviert gewesen. Die Beziehung mit Frau X stelle als Provokationshandlung einen Umstand im Sinn von Art. 44 Abs. 1 OR dar, welcher zu einer markanten Reduktion der Genugtuungssumme führen müsse.

2. a) Gemäss Art. 11 OHG können Opfer einer in der Schweiz verübten Straftat im Kanton, in dem die Tat verübt wurde, eine Entschädigung oder Genugtuung geltend machen. Dem Opfer kann unabhängig von seinem Einkommen eine Genugtuung ausgerichtet werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen (Art. 12 Abs. 2 OHG). Gemäss Art. 41 OR wird derjenige, der dem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, zum Ersatz verpflichtet. Art und Grösse des Ersatzes für den eingetretenen Schaden bestimmt der Richter unter Würdigung der Umstände als auch der Grösse des Verschuldens (vgl. Art. 43 OR). Hat der Geschädigte in die schädigende Handlung eingewilligt, oder haben Umstände, für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst erschwert, so kann der Richter die Ersatzpflicht ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden (Art. 44 Abs. 1 OR). Bei Tötung eines Menschen oder Körperverletzung kann der Richter unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen (Art. 47 OR).

b) Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung gelten für die Genugtuung nach OHG dieselben Bemessungsgrundsätze wie für die zivilrechtliche Genugtuung nach Art. 47 und 49 OR, da diese nach der Zielsetzung des Gesetzes die immaterielle Unbill abgelten soll, die dem Opfer aus der Straftat erwächst (BGE 124 II 14, 123 II 214 mit Hinweisen). Bei der Bemessung der Genugtuungssumme gemäss Art. 47 OR können grundsätzlich alle Herabsetzungsgründe von Art. 44 OR berücksichtigt werden; dies gilt insbesondere auch für das Mitverschulden des Opfers (BGE 123 II 214).

aa) Art. 44 Abs. 1 OR spricht in einer allgemeinen Umschreibung von "Umständen", für die der Geschädigte "einstehen muss", worunter in erster Linie das Selbstverschulden zu verstehen ist. Das Selbstverschulden bezieht sich entweder auf die Entstehung oder die Verschlimmerung des Schadens, der bereits mit oder ohne Einwirkung eines Selbstverschuldens eingetreten ist. Das Selbstverschulden muss adäquate Ursache der Entstehung oder Vergrösserung des Schadens sein (Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I, 5.A., § 7 N 13 f.).

aaa) Ein Verhalten, von dem erwartet werden muss, dass der Geschädigte seine Gefährlichkeit einsah oder hätte einsehen können, stellt ein Selbstverschulden dar. In Übereinstimmung mit diesem Satz lässt sich aus der Judikatur die Regel ableiten, dass immer dann von Selbstverschulden zu sprechen ist, wenn sich der Geschädigte freiwillig einer Gefahr ausgesetzt hat, die er kannte oder hätte kennen sollen, oder falls er gar zu einem gefährlichen Vorhaben Anlass gibt (Handeln auf eigene Gefahr). Ein Selbstverschulden liegt also mit anderen Worten vor, wenn der später Geschädigte die Möglichkeit seiner Schädigung durch sein Verhalten voraussehen kann und nicht entsprechend dieser Voraussicht handelt, sondern die von ihm erkannte Gefahr auf sich nimmt, ohne in seine Schädigung einzuwilligen (Oftinger/Stark, § 5 N 137 ff., 147 f.). Der Geschädigte hat diejenigen Massnahmen zu treffen, die ein vernünftiger Mensch in der gleichen Lage ergreifen würde, wenn er keinerlei Schadenersatz zu erwarten hätte. Unterlässt er es, zumutbare Massnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, der Entstehung oder Verschlimmerung eines Schadens entgegenzuwirken, ist ihm ein Selbstverschulden vorzuwerfen (BGE 107 Ib 158).

bbb) Die Rechtsfolgen der Unsorgfalt des Geschädigten bestehen in der Reduktion resp. Streichung seines eventuellen Schadenersatzanspruchs (vgl. Oftinger/Stark, § 5 N 137 ff.). Wenn den Geschädigten ein Mitverschulden am Unfall trifft, führt dies zu einer Kürzung des Anspruchs nicht nur in Bezug auf den Schadenersatz, sondern auch in Bezug auf die Genugtuung. Das Verschulden des Geschädigten wie dasjenige des Schädigers ist bei der Bemessung der Genugtuung zu berücksichtigen (Oftinger/Stark, § 8 N 41 f.). Wenn der Geschädigte also selbst eine adäquate Ursache des von ihm erlittenen Schadens gesetzt hat und ihn daran ein "Verschulden" trifft, führt dies je nach seinem Gewicht zu einer Reduktion des Schadenersatzes oder, als Entlastungsgrund, zur Befreiung des an sich Haftpflichtigen. Unter Umständen rechtfertigt auch ein leichtes Mitverschulden eine Reduktion der Genugtuung. Dagegen schränkt das Opferhilfegesetz in Art. 13 Abs. 2 OHG die Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Opfers ein: Die Entschädigung darf danach nur herabgesetzt werden, wenn das Opfer den Schaden "wesentlich mitverschuldet" hat (BGE 123 II 214).

ccc) Umstände, für welche der Geschädigte einzustehen hat, sind auch seinen Rechtsnachfolgern und bei Todesfall den aktivlegitimierten Drittgeschädigten entgegen zu halten. Dies gilt auch für die Bemessung einer "Reflex-Genugtuungssumme" (Brehm, Berner Kommentar, Art. 44 OR N 5 mit Hinweisen). Ist den Angehörigen eines Getöteten oder eines Verletzten eine Genugtuungssumme zuzusprechen, so muss dessen Verschulden zu seinen oder zu Lasten der Hinterbliebenen berücksichtigt werden (Rey, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 2.A., N 496). Wiegt das Verschulden des Schädigers sehr schwer und das Selbstverschulden des Geschädigten sehr leicht, so kann es vorkommen, dass das Gericht auf volle Entschädigungspflicht erkennt (vgl. BGE 112 II 457 f.). Wenn die schädigende Handlung zugleich ein strafbares Delikt darstellt und das kriminelle Verschulden beim Schädiger liegt, kann das Selbstverschulden des Geschädigten so geringfügig sein, dass es bei der Bemessung der Ersatzpflicht nicht berücksichtigt werden darf (vgl. BGE 123 II 210 ff.).

bb) Der Kausalzusammenhang lässt sich allgemein umschreiben als die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Der natürliche Kausalzusammenhang betrifft die Beziehung zwischen Schadensursache und dem tatsächlichen Schaden. Zu seiner Feststellung wird in Lehre und Praxis gemäss der "conditio-sine-qua-non"-Formel danach gefragt, ob der Schaden auch eingetreten wäre, wenn sich der betreffende Umstand nicht verwirklicht hätte. Der natürliche Kausalzusammenhang ist zu bejahen, wenn das in Frage stehende Ereignis eine notwendige Bedingung für den Schaden darstellt, wenn also die Ursache nicht weggedacht werden kann, ohne dass damit auch der eingetretene Erfolg entfällt (Rey, N 517 f.). Da der natürliche Kausalzusammenhang nicht bereits das rechtlich relevante Zurechnungskriterium eines Schadens bilden kann, dient das Kriterium der Adäquanz einer rechtspolitisch vernünftigen Begrenzung der Haftung (Rey, N 522b). Nebst dem natürlichen Kausalzusammenhang muss auch die Adäquanz des Zusammenhangs zwischen Ursache und Schaden gegeben sein. Ein natürlicher Kausalzusammenhang ist adäquat und damit rechtlich erheblich, wenn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung die betreffende Ursache geeignet war, den eingetretenen Erfolg zu bewirken, so dass der Eintritt dieses Erfolgs als durch die fragliche Tatsache wesentlich begünstigt erscheint (SJZ 93, 1997, S. 315; Rey, N 525). Bei dieser Adäquanzformel handelt es sich um eine "Generalklausel", die im Einzelfall konkretisierungsbedürftig ist. Die Beurteilung der Adäquanz unterliegt dem Ermessen des Richters, dessen Entscheid stets ein Werturteil ist (Rey, N 528). Die Adäquanz wird somit bestimmt durch den gewöhnlichen Lauf der Dinge und die allgemeine Erfahrung. Es kommt dabei auf die generelle Eignung einer Ursache an, eine Wirkung von der Art der eingetretenen herbeizuführen. Der Prüfung ist eine objektive Betrachtungsweise zugrunde zu legen (Rey, N 532 f.).

cc) In Übereinstimmung mit der Vorinstanz geht auch das Obergericht grundsätzlich davon aus, dass die zum Tod des Opfers führende Tat durch dessen Verhältnis zur Ehefrau des Täters motiviert war. Auch wenn eine Befragung des Täters aufgrund seines anschliessend an die Tat begangenen Suizids nicht mehr möglich ist, lässt sein Verhalten keine anderweitigen Schlüsse zu. Sowohl die Drohungen seiner Frau gegenüber, sich selber umzubringen, falls sie ihn verlasse, seine an sie gestellte Bedingung, dass sie während seines freiwilligen Klinikaufenthalts nicht zuhause wohne, sowie schliesslich die Tatsache, dass das Tötungsdelikt erfolgte, nachdem Frau X ihrem Ehemann unter Druck der anwesenden Psychiater das Verhältnis zum Opfer gestanden hatte, weisen deutlich auf das Motiv der Eifersucht hin. Offensichtlich trug das Opfer durch das intime Verhältnis mit X zu seiner eigenen Tötung bei, ist doch davon auszugehen, dass der Täter das Opfer nicht getötet hätte, wenn seine Ehefrau zu diesem nicht eine aussereheliche Beziehung unterhalten hätte. Somit ist das Verhältnis zur Ehefrau des Täters Ursache des schliesslich erfolgten Tötungsdelikts, weshalb zumindest der natürliche Kausalzusammenhang bejaht werden kann. Die Beziehung des Opfers mit der Ehefrau des Täters stellte somit eine notwendige Bedingung für den Schaden dar, was allerdings für eine allfällige Anpassung der Haftpflichtansprüche noch nicht ausreicht.

Zusätzlich erforderlich ist die Adäquanz des Zusammenhangs zwischen Ursache und Schaden, welche im vorliegenden Fall jedoch zu verneinen ist: Auch wenn die Beziehung des Opfers mit der Ehefrau des Täters beim Täter die entsprechende Kurzschlusshandlung auszulösen vermochte und der Täter lediglich durch diese Beziehung zur Tat motiviert gewesen sein mag, ist eine solche Beziehung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung nicht geeignet, einen Erfolg in diesem Ausmass zu bewirken. Dürften "gehörnte" Ehepartner überaussereheliche Beziehungen ihrer Lebenspartner aus naheliegenden Gründen zwar nicht gerade erbaut sein, muss nach der allgemeinen Lebenserfahrung von Seiten der betrogenen Personen trotzdem nicht von einem solchen Extremverhalten ausgegangen werden. Dass aussereheliche Beziehungen die sonstigen, bereits bestehenden ehelichen Schwierigkeiten allenfalls noch verstärken bzw. zusätzliche Streitigkeiten zwischen den Ehepartnern zur Folge haben können, ist sicher unbestritten. Ebenfalls nachvollziehbar ist, dass solche Situationen den betrogenen Ehepartner psychisch aus dem Gleichgewicht werfen können und er für die Wiedererlangung seines Selbstbewusstseins bzw. für die psychische Verarbeitung der Gesamtsituation unter Umständen professioneller Hilfe bedarf. Allerdings muss nicht damit gerechnet werden, dass der Betroffene aufgrund des ihm Widerfahrenen sein Leben vollständig aufgibt und sozusagen im Rahmen der "Selbstjustiz" nach eigenen Gesetzen Vergeltung ausübt. Auch wenn gemäss Auffassung der Vorinstanz solche Retorsionshandlungen von "gehörnten" Ehemännern nicht ausserhalb des normalen Geschehnisablaufs liegen, scheint dem Obergericht diese Ansicht übertrieben. Schliesslich können Retorsionshandlungen auch in wesentlich milderem Rahmen vollzogen werden, sei dies in der Form von aggressiven Wortgefechten, Beleidigungen oder allenfalls Zerstörung von Sachobjekten. Das Ergreifen derartiger milderer Retorsionsmassnahmen liegt gemäss Auffassung des Obergerichts eher im Bereich des zu Erwartenden, nicht jedoch die physische Beseitigung des Ehestörers. Aus diesen Gründen ist die Frage der Adäquanz zwischen dem Verhältnis des Opfers zur Ehefrau des Täters sowie dem späteren Tötungsdelikt bzw. der adäquate Kausalzusammenhang zwischen Ursache und Erfolg zu verneinen, weshalb das Verhalten des Opfers bei der Berechnung der Genugtuung nicht als Reduktionsgrund berücksichtigt werden darf. Mit anderen Worten kann das Verhalten von X nicht als Umstand im Sinn von Art. 44 OR qualifiziert werden, so dass in Bezug auf die Genugtuung eine Reduktion der Summe ausser Betracht fällt.

Obergericht, 21. November 2000, SBO.2000.13


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